Chronik.Ereignis1033 Feldzug Ragath 10
In Ragath, 29. Efferd 1033 BF[Quelltext bearbeiten]
Im Stadthaus der Familia von Kornhammer-Scheffelstein[Quelltext bearbeiten]
29. Efferd, mittags[Quelltext bearbeiten]
Autor: von Scheffelstein
Es klopfte. Auf ihr "Herein" öffnete eine alte Dienerin die Tür, knickste und hielt Richeza von Scheffelstein einen gesiegelten Brief hin. "Eine Nachricht vom Castillo da Vanya, Herrin."
Richeza sah kurz auf und nickte. "Leg' ihn auf den Sekretär!" Sie wandte sich wieder dem Degen auf ihren Knien zu, zog das mit Quarzsand bestreute Tuch vom Korb abwärts über die Klinge, sorgfältig darauf bedacht, zwar die Grate auszuwetzen, dabei jedoch das Wappen auf der Fehlschärfe und die Inschrift in der Hohlkehle nicht zu beschädigen.
Durch das offene Erkerfenster drangen Rufe herein, die das leise Tropfen des Regens auf dem Dach und das Bellen des Hundes auf dem Nachbaranwesen übertönten.
"Soll ich das Fenster schließen, Herrin?" Die Bedienstete war noch immer da.
"Nicht nötig", sagte Richeza, pustete etwas Sand von der Klinge und entkorkte das Fläschchen mit Kamelienöl, das neben ihrem Stuhl auf dem Boden stand. "Was ist denn da draußen los?" Die Rufe waren lauter und mehr geworden, schienen von überall in der Stadt zu kommen. Es klang wie Jubel.
"Habt Ihr es noch nicht gehört, Herrin?", fragte die alte Dienerin. "Das Heer ist aus Khahirios zurück. Der Marschall hat die Wilden in die Berge zurückgetrieben, und die abscheulichen Menschenfresser sind wir auch endlich los, Praios sei Dank!"
"Der Marschall ist zurück?"
"Ja, Herrin, schaut nur!"
Richeza legte den Degen auf dem Stuhl ab und trat neben die Dienerin ans Fenster. Vom Dachgeschoss der Stadtvilla ihrer Familia am Rand des Ragather Burgberges aus hatte man einen guten Blick über die Dächer der Stadt, über den Yaquir und die Felder und Weiden des nahen Umlands. Und wirklich: Jenseits der Hütten und Höfe und der Spitzenmanufaktur vor dem Garether Portal waren Hunderte von Soldaten zu sehen und Zelte in allen erdenklichen Farben: Mehrere Schwadrone und Banner kaiserlicher Soldaten, Söldner und wohl auch Landsknechte errichteten ein Lager auf den Wiesen am Flussufer. Ein großer Teil der Berittenen aber, die aus Ragath selbst stammende schwere Reiterei, hielt auf die Stadt zu und wurde freudig von Kindern und Hunden und jungen Frauen und Männern begrüßt, die ihnen entgegen eilten.
"Bald werdet Ihr nach Hause können, Herrin!" Die Dienerin lächelte breit und klatschte in die Hände.
Nach Hause. Richeza nickte abwesend. So lange war es her, seit sie Kornhammer, seit sie Scheffelstein verlassen hatte, zweieinhalb, fast drei Monde. Und nun weilte sie schon seit mehr als einem Mond in Ragath und wartete darauf, dass das Heer die Ferkinas besiegte, ihre Heimat von dieser Plage befreite.
Eigentlich hatte sie es eilig gehabt, nach der Rückeroberung des Castillos ihrer Tante nach Hause zurückzukehren. Doch dann war Moritatio verschwunden, noch in derselben Nacht, da sie den Sieg über ihre Feinde gefeiert hatten. Nachdenklich drehte Richeza das Ölfläschchen in der Hand. Mochten die Götter wissen, was in Moritatios Kopf vorgegangen war, einfach so zu gehen, heimlich, ohne sich zu verabschieden, als Erbe und Statthalter seiner Mutter auf dem Castillo! Nun, grußlos war er nicht gegangen: Er hatte ihr einen Brief hinterlassen und zwei Nachrichten an seine Mutter und seine Großtante, mit der Bitte, diese per Tauben nach Wildenfest und Schrotenstein zu schicken. Der Brief war knapp und höflich gewesen. Er müsse nach Punin zurück, hatte Moritatio geschrieben, man erwarte ihn bereits bei den Hofjunkern. Er bitte sie, Richeza, das Castillo in die Hände seiner Mutter oder Schwester zu übergeben, wenn diese zurückkehrten. Allein die Grußzeile – "Auf ewig der Deine, Moritatio" – hatte so geklungen, wie sie ihren Vetter während der wenigen Wochen ihrer gemeinsamen Reise durch die Berge kennen gelernt hatte.
Gut, er hatte es eilig und offensichtlich Angst gehabt, seine Offiziere weiter zu verärgern. Aber das erklärte nicht, warum er nicht einmal bis zum Frühmahl abgewartet hatte, warum er mitten in der Nacht verschwunden war, während alles noch schlief. Hatte er gefürchtet, sie werde ihn zurückhalten, gar dazu zwingen, selbst auf die Rückkehr seiner Mutter zu warten? Oder hatte ihn ihr ärgerlicher Spott tiefer getroffen, als sie geahnt hatte? Nun, sie war verärgert gewesen an jenem Abend, nur aufgrund eines edlen Kleides und einer anderen Frisur als 'richtige Frau' bezeichnet worden zu sein, als hätten diese Äußerlichkeiten sie plötzlich zu einem anderen Menschen gemacht, als wäre sie vorher – ja was? – gewesen, nur eben keine Frau, keine richtige! Den Streitzig hatten ihre Worte allerdings nicht davon abgehalten, ihr selbstgefällig zu widersprechen! Moritatio hingegen ...
Richeza seufzte, verkorkte das Fläschchen wieder und stellte es auf das Fensterbrett. Moritatio war ein Dummkopf! Sie war seine Base, wie konnte er es wagen, ihr schöne Augen zu machen? Und wenn schon: Warum, verdammt noch mal, konnte er ihr dann nicht mit mehr Selbstvertrauen gegenüber treten? 'Um was, Richeza?', fragte sie sich. 'Um dein Nein mit mehr Würde zu tragen?'
Sie seufzte erneut und starrte hinaus in den Regen, auf die Ragather Schlachtreiter, die soeben durchs Stadttor ritten, auf die Menschen zu beiden Seiten der Straße, die ihnen Blumen auf den Weg streuten und Fahnen aus den Fenstern schwenkten und jubelten.
Ja, es war wirklich an der Zeit, nach Hause zurückzukehren. Allein die Nachricht, die sich im Taubenschlag des Castillos da Vanya gefunden hatte, hatte sie davon abgehalten, so bald wie möglich nach Kornhammer aufzubrechen. Ihr Großvater hatte darum gebeten, sie möge einstweilen im Vanyadâl oder in Ragath verbleiben, da ganz Kornhammer von Ferkinas besetzt sei und eine Reise durch die Reihen der Wilden zu gefährlich wäre.
Und so hatte Richeza auf dem Castillo da Vanya gewartet. Nach einigen Tagen, als es ihr selbst wieder besser gegangen war, hatten der Streitzig und der junge de Vargas sich verabschiedet. Warum sie so lange geblieben waren, ja, was der Thangolforster überhaupt im Vanyadâl gewollt hatte, war ihr ein Rätsel. Sie hatte es ihn beim Abschied geradeheraus gefragt: 'Nun, Dom Gendahar, wollt Ihr mir nicht verraten, warum Ihr ins Vanyadâl zurückgekehrt seid? Gewiss nicht nur, um mir Eure Vorstellung davon mitzuteilen, wie eine richtige Frau zu sein habe?'
Er hatte nur gelächelt, sein Schwert gegürtet, seinen Reisesack geschultert und sich an den Caldabreser getippt, den er gegen den Regen aufgesetzt hatte und der wohl von Moritatio stammte. 'Ihr seid dieser Vorstellung bereits sehr nahe gekommen, Domna', hatte er gesagt, und sie hatte dem Blitzen seiner Augen und dem Zucken um seine Mundwinkel nicht entnehmen können, ob er es ernst meinte oder sich über sie lustig machte. Eine richtige Antwort jedenfalls hatte sie nicht erhalten.
Dann war es einsam geworden auf dem Castillo, und Richeza hatte vergeblich auf eine Nachricht aus Schrotenstein oder Wildenfest oder die Rückkehr ihrer Tante oder Base gewartet. Die Tage waren verstrichen und Richeza war stets in Sorge gewesen, die Selaquer Gardisten könnten sich doch wieder gegen sie wenden, aber nichts dergleichen war geschehen. Im Gegenteil: Es waren weitere Dörfler zum Castillo gekommen, um in den Mauern der Burg Schutz zu suchen, und nachdem sich herumgesprochen hatte, dass die Burg wieder in Händen der Familia da Vanya war, war auch das Burgpersonal zurückgekehrt, das sich wohl in der Hütte der alten Udinia Krähenfreund vor Domna Praiosmins Schergen versteckt gehalten hatte.
Richeza hatte angeordnet, die beiden oberen, ausgebrannten Stockwerke des Burgfrieds von Schutt und Asche zu befreien und alles, was noch rettbar war, zu bergen. Der Wiederaufbau des Turmes freilich würde dauern und eine Menge Ressourcen fordern, das musste warten, bis die Gegend wieder sicher war.
Die Tage waren Richeza lang geworden, in denen sie nichts zu tun gehabt hatte, als durch die leeren Säle der Burg zu streifen, die ihr trotz all der Bediensteten leblos und kalt erschienen waren, ohne ihre Tante, ihren Vetter oder den alten Berengar von Schlehen. Sie hatte das Zimmer ihrer Mutter aufgeräumt und den jungen Landolo beauftragt, einen neuen Rahmen für das Familienporträt anzufertigen, denn er war geschickt im Umgang mit Hobel und Feile. Sie hatte die Kleider ihrer Mutter anprobiert und stundenlang auf dem Balkon vor dem Fenster ihrer Schlafkammer gesessen und das Amulett betrachtet, das Udinia Krähenfreund ihr gegeben hatte und das angeblich Madalena da Vanyas gewesen war.
Dann endlich war ihre Base eingetroffen mit einem Dutzend Bewaffneter. Gujadanya da Vanya hatte ganz selbstverständlich das Kommando über das Castillo übernommen und hatte Richeza zu verstehen gegeben, dass diese nun getrost nach Hause reisen könne. Ihre Tante, hatte ihre Base Richeza erzählt, werde noch einige Monde auf Schrotenstein bleiben, um sich zu erholen. Wovon genau, hatte Richeza nicht in Erfahrung bringen können. Offenbar war Rifada da Vanya schwer verwundet worden, und auch Gujadanya schien einige Verletzungen davongetragen zu haben, doch sie sprach nicht viel über das Geschehene und die Gründe, warum sie und ihre Mutter sich so verspätet hatten und keine nennenswerte Unterstützung für das Castillo hatten bereitstellen können. Nur dass es einen Kampf gegeben hatte zwischen den Vasallen der da Vanyas auf der einen und Domna Praiosmins Leuten und Morena von Harmamund auf der anderen Seite, hatte Richeza irgendwann herausgehört.
Gujadanyas düstere Stimmung hatte Richeza den Abschied leicht gemacht. Ihre Base hatte ihr angeboten, sie von einigen Geleitreitern bis nach Ragath bringen zu lassen, doch Richeza hatte abgelehnt: Sie war es gewohnt, allein zu reiten – zumal ihr das sicherer erschienen war, als mit einer Schar Berittener in der Elentinischen Ebene im Wortsinne Staub aufzuwirbeln. Gujadanya hatte darüber nicht unglücklich geschienen, hatte Richeza jedoch ihr schnellstes Pferd überlassen, das sie sicher in die Grafenstadt geführt hatte. Seither verbrachte sie die Tage mit Fechtübungen auf dem Hof des Anwesens ihres Großonkels Federigo und erholte sich zunehmend von ihren eigenen Blessuren.
Richeza nahm den Brief vom Sekretär auf und trat zurück ans Fenster. Ob ihre Tante endlich im Castillo da Vanya eingetroffen war? Der Umschlag trug das Greifensiegel der da Vanyas, doch die Schrift war zu ordentlich für die der Junkerin, wenngleich es auch nicht die saubere Handschrift ihres Onkels Berengar war, der Domna Rifada sonst als Schreiber diente.
Richeza brach das Siegel und las zuerst die Unterschrift: Gujadanya. Was wollte ihre Base? Richeza überflog die Zeilen, und während sie las, wich die Farbe aus ihrem Gesicht, und ihre Hände begannen zu zittern.
"Ist Euch nicht wohl, Herrin?", fragte die Dienerin besorgt.
"Lasst mich allein!"
Die Dienerin verließ die Dachstube, und Richeza schob ihren Degen beiseite und ließ sich schwer auf dem Stuhl nieder. Wieder und wieder las sie den Brief, bis die Bedeutung der Worte ihr wirklich bewusst wurde, die beklemmende Ahnung zu furchtbarer Gewissheit wurde.
Rifada da Vanya, schrieb Gujadanya, war von einem Dämon niedergestreckt worden und wäre fast gestorben, inzwischen aber gehe es Richezas Tante wieder besser und sie werde ins Vanyadâl zurückkehren, sobald ihre Kräfte es erlaubten und ihrer beider Großtante, Belisetha da Vanya, die Junkerin aus ihrer Sorge entlasse.
Doch diese Nachricht, schockierend, wie sie war, war nicht einmal die Schlimmste: Moritatio war tot! Gujadanya schrieb, man habe vor wenigen Tagen die grausam zugerichtete Leiche ihres Bruders in einem Gebüsch an der Straße von Selaque nach Schrotenstein entdeckt. Die Verwesung hatte bereits eingesetzt, doch er sei noch hinreichend gut zu erkennen gewesen, dass kein Zweifel bestehe, dass es sich wirklich um Moritatio handele.
Nun bat Gujadanya darum, Richeza möge ihr alles mitteilen, was sie zu Moritatios Abschied und seinen weiteren Plänen zu berichten habe, alles, was einen Hinweis darauf geben könnte, ob er von Räubern oder Schergen der Elenterin getötet worden war oder den Ferkinas, die kurz nach Richezas Abreise erneut in großer Zahl in der Baronie eingefallen waren, allerdings bald darauf vom Kaiserlichen Heer geschlagen worden waren.
Richeza faltete den Brief sorgfältig zusammen und steckte ihn in ihr Wams. Eine Weile saß sie einfach nur da und sah hinaus in den stärker werdenden Regen. Moritatio. Der dumme Narr! Der arme Junge! Warum nur war er allein hinausgegangen in die Nacht, war er denn irre gewesen? Hatte er sich nicht denken können, wie gefährlich das war? Aber wie hätte sie ihn aufhalten können? Hätte sie ihre Worte beim Abendmahl vorsichtiger wählen sollen, um ihn nicht zu verletzten? War er ihretwegen in die Nacht hinaus geflohen? Bei den Göttern: War er nicht Zeit seines Lebens mit Mutter und Schwester durch eine harte Schule gegangen, wie hatte ihr Spott, wie ihr Ärger ihn denn treffen können? Bei den Göttern, wie hätte sie ahnen sollen, dass er so empfindlich war! Doch dann dachte sie an jenen Abend in Grezzano, als er sie gebeten hatte, mit ihm nach Punin zu kommen. Wie er sie angesehen hatte: Wie ein verliebter Knabe! Sie seufzte und verzog freudlos den Mund. Die Liebe machte Narren aus den Menschen!
Das Jubeln und Rufen der Menschen war noch immer zu hören, obwohl der Regen nun stark auf Dächer und Straßen prasselte, und es war näher gekommen. Richeza stand auf, um das Fenster zu schließen. Kaum mehr als hundert Schritt entfernt zog eine Reiterschar den gewundenen Weg vom Markt zum Tor der Burg hinauf. Schlaff hingen die Banner der Reiter im Regen herab, nur hier und da blähte der Wind die nassen Fahnen und ließ die Farben erahnen.
'Dies also ist der Tag des Triumphes', dachte Richeza bitter, 'so also fühlt sich ein Sieg an?' Sie hatte keinen Anteil an dem Sieg über die Ferkinas, ihre Familie hatte keinen Anteil an diesem Sieg, die goldenen Greifen auf purpurnem Grund hielten nicht Einzug auf Burg Wendesinn an diesem Tag, die Greifen rangen mit dem Tod, und einer war gefallen, für immer.
Richeza schloss das Fenster, und es wurde dunkler in der Kammer, durch die getönten Butzengläser drang nur spärliches Licht an diesem trüben Tag. Richeza nahm ihren Degen auf, tränkte ein Tuch mit Kamelienöl und begann, die Klinge zu putzen, mechanisch, gedankenverloren, während der Regen an die Scheiben trommelte und ferner Fanfarenhall die Ankunft des Marschalls auf der gräflichen Burg verkündete, der Burg, auf der Richezas Urgroßmutter einst geherrscht hatte, als die Greifen noch stolz über den Türmen flogen, ihre Schwingen über Ragath und Punin, ja ganz Almada ausgebreitet hatten.
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