Chronik.Ereignis1046 Der Gefangene von Taladur 12
Gräflich Taladur, 23. Rondra 1046 BF
Kaserne der Ragather Schlachtreiter
Domna Selea musterte das militärische Schauspiel, das sich ihr bot, während sie darauf wartete, ob Domna Issime anwesend und verfügbar war. Sie hatte sich recht kurzfristig für einen Besuch Taladurs und ihrer Freundin entschieden, so dass ihr Bote beinahe zeitgleich mit ihr eingetroffen war. Daher wusste sie nicht sicher, ob die Gattin des Rittmeisters der hiesigen Schlachtreiter auf einem der Güter außerhalb der Stadt, bei einem ihrer Ausritte oder in der Kaserne weilte. Silharis an ihrer Seite hob den Kopf, merklich angespannt. Selea kraulte ihn hinter den Ohren. So oder so hatte sie genug Erledigungen vor sich, um zur Not später wiederzukommen.
Während sie noch in Gedanken war, sah sie Issime auf sich zukommen. Wie gewohnt trug diese einen Reitanzug mit passenden Stiefeln. In ihrer Begleitung war ein junger Soldat der Schlachtreiter. Mit einem strahlenden Lächeln trat Issime auf Selea zu und nahm sie in den Arm. “Werte Freundin, du musst mir schon Zeit lassen, ein standesgemäßes Willkommen vorzubereiten. Du warst ja fast schneller als dein Bote.” Mit einem kurzen Nicken nahm der Soldat die Zügel von Nuianna entgegen. “Er wird sich gut um deine Stute kümmern, Selea. Du hast mein Wort.” Sie hakte sich bei der Jüngeren ein. “Und nun verrate mir, was der Grund deines überraschenden Besuches ist. Ordonya?”
Selea, ebenfalls in Reitkleidung, eine Waffe an der Seite, hatte zur Begrüßung den Caldabreser abgenommen und Issimes Umarmung herzlich erwidert. „Hätte ich dir Zeit gelassen, hättest du dir unnötig Aufwand gemacht, meine Liebe“, lachte sie. „Aber vielleicht schicke ich meine Leute nächstes Mal trotzdem ein wenig früher los. Es war eine recht spontane Entscheidung, dich aufzusuchen. Wenn auch lange überfällig.“ Sie hakte sich ein, setzte den Hut wieder auf. „Nein, Ordonya ist nicht der Grund für meinen Besuch. Über den lass uns unter uns sprechen. Soweit ich weiß ist in Bezug auf meine Schwester alles, wie es sein soll. Nunja, im bei ihr erwartbaren Rahmen. Wie geht es dir, Amaia, Rayan und deinem Gatten?“
“Nun, meinen Göttergatten siehst du dort hinten, ganz in seinem Element.’ Issime deutete auf eine Gruppe Soldaten, die gerade dabei waren, unter dem strengen Blick ihres Rittmeisters, Übungen im Schwertkampf abzuhalten. Langsam gingen die beiden Domnas über den Exerzierplatz in Richtung der Unterkünfte. “Rayan verrichtet weiterhin seinen Dienst in Ragath und Amaia…..da haben wir beide ja noch Redebedarf.” Issime löste sich aus der Armbeuge der anderen und öffnete eine Tür. Leicht stickige Luft schlug ihnen entgegen. Die Praiosscheibe hatte das Innere des Raumes den Tag über aufgeheizt und das bisschen Luft, das durch das Gemäuer zog, brachte nicht unbedingt Besserung. In dem Zimmer stand ein klobiger Schreibtisch mit einem Stuhl dahinter und zwei weiteren davor. Issime bedeutete Selea, Platz zu nehmen und öffnete eine Klappe des Tisches, aus der sie zwei tönerne Becher holte. “Es tut mir leid, hier ist es leider nicht so komfortabel, wie du es von Maestra gewohnt bist.", entschuldigte Issime sich. “Ich hole nur etwas Wasser zur Erfrischung.”
„Mach dir keine Umstände, ich hab schon gute Gespräche in spartanischerer Umgebung geführt.“, winkte Selea ab. Sie legte ihren Caldabreser auf den Tisch, zog den Fächer hervor, während sie wartete. Es war wirklich warm.
Als Issime den Raum wieder betrat, hielt sie einen Krug in der einen und einen Teller mit Gebäck in der anderen Hand. Sie goss ein und füllte die Becher mit klarem Wasser, wobei eine halbe Citronenscheibe in das Gefäß fiel. “Leider kein Arangensaft, aber frisch aus dem Brunnen. Bedien dich.” Issime deutete auf das Gebäck und nahm gegenüber ihrer Freundin Platz. “Hier wird uns niemand stören. Keiner betritt ungefragt die Stube des Kommandanten. Was gibt es so Wichtiges, das du es nur unter vier Augen besprechen kannst?” Die Mimik und Gestik Issimes waren weiterhin freundlich und zuvorkommend. Allein in ihren Augen blitzte kurz Neugier auf.
„Danke dir. Genau das richtige bei dem Wetter.“ Selea trank einen Schluck. Es war erfrischend. „Ich nehme an, du kennst das Zeugnis geistiger Verwirrung des Erzernen Rats bezüglich León de Vivar? Durch eine Fügung der Götter erreichte mich die Kunde davon recht schnell. Die wirklichen Hintergründe, die Tragweite der Ereignisse, die möglichen Konsequenzen… Ich versuche noch, einen Überblick zu gewinnen. Interessiere mich für deine Sicht der Dinge. Du bist näher an Taladur, und weniger familiär involviert als die meisten anderen, die ich in der Grafschaft kenne. Noch scheint es mir hier zum Glück überraschend ruhig.“ Sie neigte den Kopf Richtung Kasernenhof. Plötzlich huschte ein Schatten über ihre Züge, als sei ihr ein unerfreulicher Gedanke gekommen.
„Sollten sich die Dinge überschlagen, Rohalijo und du Amaia aus dem Taladurer Umland in Sicherheit bringen wollen… Wenn der Weg ins Ragathische, zu euren Familias versperrt sein sollte - sie ist auf Mestera jederzeit willkommen. Und so sicher wie meine eigenen Kinder. Mit einem zuverlässig sicheren Weg gen Süden, sollte ein Flächenbrand die Waldwacht überrollen. Auch wenn ich hoffe, dass nichts davon eintritt. Aber bei den gegenwärtigen Umständen…“
“Ich teile deinen Gedanken. Dass es für die Tragweite dieser Geschehnisse überraschend ruhig ist. Aber ich befürchte, dies ist nur die Ruhe vor dem Sturm. Daher danke ich dir für dein Angebot und ja, wir haben uns auch schon einige Gedanken gemacht.” Sorgenfalten zeigten sich auf Issimes Stirn. “Unsere Sicht der Dinge ist, dass es nicht rechtens war, den schönen Baron so lange ohne Prozess im Schuldturm derben zu lassen. Er ist sicherlich nicht ganz unschuldig an seiner Situation, aber trotzdem ist dies bestimmt nicht im Sinne der Gerechtigkeit.”
Selea nickte zustimmend. „Ich fürchte, die Ruhe vor dem Sturm trifft es nur zu gut. Was die Vorwürfe und verschiedenen Beteiligten angeht…“ Sie zögerte einen Moment. „Ich schätze an unserer Freundschaft unter anderem die Offenheit. Daher…“ Selea trank einen Schluck Citronenwasser. „Unter uns: Ich bin der Meinung, basierend auf meinem gegenwärtigen Kenntnisstand und vorausgesetzt, die Anschuldigungen stimmen, dass das Verhalten beider Seiten beschämend ist. Sollten die Vorwürfe gegenüber Dom León zutreffen… es ist eines Barons und Magnaten unwürdig, sich so aus der Verantwortung zu ziehen. Die Vorwürfe auszusitzen. Allerdings ist es natürlich völlig indiskutabel, einen Beschuldigten, erst recht von Stand, heimlich einzkerkern, über Jahre zu verstecken. Dann plötzlich mit den Vorwürfen herausrücken. Warum haben sie so lange gebraucht? Was wollten sie verstecken? Warum haben sie nicht bei der Gräfin interveniert? Mit den Cordellesa hat mindestens eine der involvierten Familias das Ohr der Gräfin. Und dass eine Familia wie die von Taladur sich zu so einem Possenspiel herablassen - das hätte ich nichtmal von Bürgerlichen erwartet. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr gewinne ich den Eindruck, dass es hier um mehr geht. Die ‘Verfehlungen’ liegen zu lang zurück. Die Frage ist, wie hitzig das Blut unsere Standesgenossen hochkochen wird. Wie starrköpfig oder in Panik erstarrt ob der Reaktionen auf diese Unverschämtheit der Erzene Rat reagiert. Dickköpfig und heißblütig dürften unsere Landsleute alle miteinander sein. Vernunft hingegen…”
Issime nahm einen Schluck, bevor sie ihre Ausführungen fortsetzte. “Zünglein an der Waage, wird jetzt das Verhalten der Familia Vivar und der Marschallin Almadas sein. Ob sie den Weg des Verhandelns oder den der Vendetta gehen. Beides wäre ihr gutes Recht, wobei ich den ersten Weg bevorzugen würde.” Ihre Stimme begann merklich zu zittern. Selea nickte zögernd. Es kam auf den Standpunkt an. “Stell dir doch bitte vor, wenn es wirklich auf einen bewaffneten Konflikt hinauslaufen würde. In dieser Garnison befinden sich viele Zöglinge der Familias aus Taladur und du glaubst doch nicht, dass sie ruhig dasitzen würden, nur weil unsere Einheit wohl Neutralität bewahren soll. Ich….” Issimes Stimme brach kurz. “Ich würde dich gerne darum bitten, dich unserer Tochter Amaia anzunehmen und sie aus dieser bedrohlichen Lage zu bringen.”
Selea erhob sich, machte einen Schritt auf Issime zu, zog sie hoch, nahm ihre Hände in die eigenen. „Mach dir um Amaia keine Sorgen. Ich helfe, wo immer ich kann. Natürlich nehme ich sie mit nach Mestera. Wenn wir es geschickt anstellen, wird es für sie nichts als ein großes Abenteuer werden. Und für dich, für euch nur eine kurze Phase der Trennung, so die Götter es wollen.” “Ich danke dir, Selea. Von Herzen. Auch im Namen meines Mannes. Hoffen wir und vertrauen wir auf die Götter, dass es nicht so weit kommen wird.”
Während sich die beiden wieder setzten, schlug Selea vor: „Vielleicht lässt sich ein Weg finden, die Sache zu lösen, ohne dass es zum Äußersten kommt. Möglicherweise bietet sich im Efferd, bei der Landständeversammlung, eine Möglichkeit. Aber es bleibt eine schwierige, delikate Angelegenheit, ohne mehr Informationen. Du lebst in Taladur, Issime. Weißt du mehr über die Anschuldigungen, die Hintergründe? Kennst du die beteiligten Parteien? Wie schätzt du die Rolle der Cordellesa bei der Sache ein?”
“Nun, der schöne Baron schuldet einigen Familias in Taladur viele Dukaten. Dies war in der Stadt wohlbekannt und auch, dass er deswegen gesucht wurde. Ebenso beschuldigte man ihn des Mordes an Mitgliedern der Familia Tandori, was der Baron aber mit dem Vorwand der Notwehr vehement abstritt. Wohlweislich betrat er das Taladurer Land nicht mehr und entzog sich somit der Aufklärung beider Anschuldigungen.” Langsam stand Issime auf, schenkte nach und begann auf und ab zu gehen.
“Die Cordellesa stellen, ebenso wie die Tandori, Mitglieder der Erzenen Rates. Auch die Ehefrau eines der ermordeten Tandori ist Mitglied im Rat. Alles in allem ist dieser aber untereinander durch Misstrauen und Uneinigkeit geprägt. Die Cordellesa haben Zwist mit den Amazetti, die Amazetti mit den Mengozzi und den Zwergen sind die menschlichen Streitigkeiten so ziemlich egal. Mich wundert es sehr, dass sie sich auf eine gemeinsame Verlautbarung einigen konnten. Und was mich am meisten wundert, ist, dass ihnen der Baron trotz aller Vorsicht in ihre Fänge geriet und er so lange unbemerkt festgehalten werden konnte. Es werden nicht viele darin involviert gewesen sein, diese wenigen haben eisern geschwiegen und hätten es bestimmt auch weiterhin getan.” Abrupt blieb Issime stehen. “Die Rolle der Cordellesa in dem Ganzen kann ich nicht einschätzen. Auch sie waren dem Vivar nicht wohlgesonnen, ob des Geldes wegen oder aus persönlichen Gründen, kann ich dir nicht sagen. Es sind viele Fragen offen und ich gebe zu, es gefällt mir nicht. Ich befürchte eher, dass es auf der Landständeversammlung eskaliert.”
Selea nickte nachdenklich. „Wie ich befürchtet hatte - die Sache hat so viel mehr Ebenen, als auf den ersten Blick schien. So viele Beteiligte mit ihren Interessen und Intrigen allein in Taladur - von den Auswirkungen über die Stadt hinaus ganz zu schweigen. Du hast recht, die gemeinsame Verlautbarung ist erstaunlich. Ebenso, dass der zerstrittene Rat es geschafft hat, so lange zu schweigen. Warum brechen sie ihr Schweigen ausgerechnet jetzt? Wer profitiert davon? Wer wird geschwächt? Welche persönlichen Gründe spielen eine Rolle? Die Anklagepunkte sind so alt - wieso hat man nicht früher eskaliert? Und wie ist Dom León damals in Gefangenschaft geraten - sein Verschwinden im Rahja 1043 war ausgesprochen mysteriös. Ich kenne ihn nicht, aber nach deiner Schilderung war er nicht dumm genug, Taladurer Gebiet versehentlich aufzusuchen. Vielleicht hat jemand diesen Geschichtenerzähler aus seinem Gefolge bestochen - der ist zusammen mit León verschwunden, wenn ich mich nicht irre. Von ihm hat man nichts gehört, oder?” Sie nahm einen weiteren Schluck Wasser. „Was die Cordellesa angeht - bislang sehe ich nicht, wie sie von der Situation profitieren könnten. Nun, vielleicht unterschätze ich Guillermo - dann wäre er ein begnadeter Stratege und Intrigant.” Sie verstummte. „Ich weiß einfach zu wenig. Habe diesen Patriziern in der Vergangenheit wohl zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ein Fehler, dessen Folgen sich hoffentlich abschwächen lassen. Ich werde diskret Erkundigungen einziehen. Was hälst du davon, das Gleiche zu tun? Du bist näher dran an Taladur als ich. Hast einen anderen Blickwinkel. Und ich werde versuchen, auch meine Kontakte mit der anderen Seite auszubauen. Und sei es nur, um nicht vom Sturm überrascht zu werden.”
Issime nickte. “Alleine zu unserem eigenen Schutz sollten wir dies machen. Ich habe keinerlei Interesse daran, mit meiner Familia in diese Sache hineingezogen zu werden, nur weil wir uns zufällig vor Taladur in einer Kaserne befinden.”
Selea nickte bestätigend, bevor sie fragte: „Möchtest du, dass ich Amaia mitnehme, wenn ich aus Taladur abreise? Ich habe geschäftliche Verpflichtungen arrangiert, um noch einige Tage ohne Aufsehen bleiben zu können. Oder ich nehme sie im Efferd, nach den Landständen, mit nach Mestera. Dann sieht es keinesfalls überstürzt aus.”
“Ich werde dies noch heute mit Rohalijo besprechen. Da es nicht vorgesehen ist, dass wir an den Landständen teilnehmen, sondern unsere Soberana, besteht die Möglichkeit, dass sie dich schon auf deiner Rückreise begleiten wird." Issime wirkte nachdenklich. “Es wäre schöner gewesen, diese Sache nicht unter so einem Druck zu beschließen, aber nun wird ihre Ausbildung bei dir wohl schon etwas eher beginnen.” „Sie ist nicht weit weg, und ihr werdet Gelegenheit haben euch zu sehen, wenn wir uns in ruhigem Umfeld treffen.“
Als nichts mehr zu besprechen blieb, leerte Selea ihren Becher. „Da wir sowieso schon etwas erhitzt sind, und ich heute morgen meine übliche Routine ausfallen lassen musste: würdest du mir die Ehre einiger Übungsrunden erweisen? Dass die Leute deines Mannes die Möglichkeit haben zu sehen, wie die hohe Kunst des Zweikampfs aussehen sollte? Zu Fuß oder zu Pferd, ganz wie du willst.” Selea genoss sowohl Ausritte als auch kämpferisches Kräftemessen mit ihrer Freundin jedes Mal. Für beides bot sich viel zu selten Gelegenheit.
Ein Lächeln huschte über Issimes Gesicht. “Gerne hoch zu Ross und vor den Toren. Lass uns, auf dem Rücken der Pferde, den Wind im Gesicht spüren und die Klingen kreuzen. Auf das uns die trüben Gedanken für einen Moment nicht so sehr bedrücken.” Und schon marschierte sie zur Tür, stellte den Becher achtlos hin und warf einen Blick über ihre Schulter. “Kommst du?”