Chronik.Ereignis1033 Feldzug Selaque 26
In Kaiserlich Selaque, 4. Rondra 1033 BF
Auf dem Castillo da Vanya
4. Rondra, morgens
Autor: von Scheffelstein
Dulcinea schwang ihre langen Beine über die Bettkannte und quälte sich in die Stiefel. Sie hatte in Kleidern geschlafen, da sie am gestrigen Abend zu müde gewesen war, sie auszuziehen. Die arrogante Domna Yegua hatte ihnen nach einigem Hin und Her doch noch ein Quartier auf ihrer Burg angeboten. Immerhin, denn Dulcinea hätte um nichts auf der Welt in einer der erbärmlichen Hütten im Dorf übernachten wollen.
Das Zimmer, das man ihr zugewiesen hatte, hatte allerdings auch schon bessere Tage gesehen, dachte Dulcinea. An einer der dunkel vertäfelten Wände zeichnete sich ein großes helles Rechteck ab, wo offenbar mal ein Bild gehangen hatte. Der Rahmen war fort, das Gemälde selbst lag auf dem Boden neben der Tür, als hätte es jemand achtlos dort hingeworfen. Die Leinwand war an den Rändern unsauber abgeschnitten, und das Bild warf Falten, die die Körper der gemalten Personen verzerrten. Zwei Kinder, ein Mann und eine Frau waren abgebildet, der Mann in Gelehrtentracht, die Frau in Rüstung.
Dulcinea betrachtete die Frau eine Weile mit gerunzelter Stirn, bis ihr auffiel, was an dem Gemälde seltsam anmutete. Es war die Tatsache, dass die Frau wie eine gestandene Kriegerin aussah und nicht wie eine schlecht verkleidete Jahrmarktdarstellerin. Dabei hatte ihr Großvater immer wieder betont, dass Frauen zu gar nichts in der Lage wären, am Wenigsten dazu, Haus und Hof mit der Waffe zu verteidigen. Entweder, das Bild war falsch, oder Großvater Rigoroso hatte vielleicht doch nicht ganz recht gehabt.
Einen Moment lang brütete Dulcinea über diesem Gedanken, dann bekam sie Durst und wandte sich den halbhohen Schränken an den Wänden zu. Irgendwo musste es doch einen Krug oder gar eine verstaubte Flasche geben! Jeder normale Mensch hatte Schnaps oder Brand in seinem Schlafzimmer, denn wer wollte schon bis in die Küche hinuntergehen, wenn ihn der Durst überkam, erst recht in einer so großen Burg?
Doch beim Durchsuchen der Schränke überkam Dulcinea der Gedanke, dass hier offenbar keine normalen Menschen wohnten, ja, mehr noch, dass diese verdammte Yegua sie in einer unbenutzten Abstellkammer untergebracht hatte. Nichts als Nutzloses Zeug lag in den Regalen: Mädchenkleider, ein paar schwarz angelaufene Schmuckstücke, eine Stoffpuppe, ein Holzpferd, ein paar Stickereien, eine Fiedel – alles angestaubt und offenbar seit vielen Jahren nicht mehr benutzt.
Eine eisenbeschlagene Kiste weckte ihre Neugier, auch wenn sie die Hoffnung, etwas Trink- oder wenigstens Essbares zu finden, bereits aufgegeben hatte. In der Kiste lag allerlei Tand, der noch sinnloser war als der Rest und jede Ordnung vermissen ließ: Eine getrocknete Rosenblüte, von der einige Blätter abfielen, als Dulcinea sie berührte, eine andere Blüte, die offenbar zwischen Steinen getrocknet worden und daher platt war, einige Tierzähne von Bär oder Wolf, eine tote Schlange, eine verrostete Pfeilspitze, verschiedene bunte Vogelfedern an einer Schnur, die kunstvolle Schnitzerei eines Schwans und eine etwas abstraktere von einer Eule, eine Kette aus glatten Steinen an einem Lederband, ein Tierschädel ...
Unwillkürlich musste Dulcinea an die hässliche Trommel denken, die ihr Vater aus Ragath mitgebracht hatte. Ein riesiges, furchtbares Ding aus dunklem Holz, in das an den Seiten echte Menschenschädel eingebaut waren. Der Schlägel war noch abstoßender. bestand er doch aus dem aufgespießten Schädel eines menschenfressenden Ungeheuers.
"Das ist die Schädelpauke des Kanishkar", hatte Ordonyo di Alina stolz verkündet, als er mit ihr auf dem Junkergut Valenca aufgetaucht war.
"Wo sind die Söldner?", hatte Dulcinea gefragt und sich dafür eine Ohrfeige eingehandelt. Söldner waren offenbar rar in Ragath dieser Tage, und eine Audienz beim Grafen hatte Ordonyo nicht erhalten. Stattdessen war er in das Haus irgendeines Ritters eingebrochen und hatte dieses hässliche Instrument gestohlen. Wozu das gut sein sollte, konnte Dulcinea sich nicht ausmalen. Ein paar wackere Söldner erschienen ihr nützlicher als eine Schädelpauke. Aber ihr Vater hatte gesagt, sie werde schon sehen, mithilfe der Pauke würden ihre Feinde schon bald zu Brei geschlagen werden. Dulcinea hatte sich vorgestellt, wie ihr Vater mit dem Schlägel auf gerüstete Caballeros losginge und sich die Frage verkniffen, wie er denn alleine gegen ein Söldnerbanner angehen wolle, denn das hätte nur weitere Ohrfeigen bedeutet.
Es passte ihr gar nicht, wieder in Selaque zu sein, denn es hatte gerade angefangen, ihr in Valenca zu gefallen, wo die Junkerin Aldea de Vargas sie nach allen Regeln der Gastfreundschaft bewirtete und ihr Sohn Ramón sich sogar zu dem einen oder anderen Boltanspiel hatte bewegen lassen, auch wenn er ein hoffnungsloser Spieler war, gegen den sie sogar dann gewann, wenn sie nicht mogelte.
Gerade wollte Dulcinea die Truhe wieder schließen, als ihr ein Stück Büttenpapier ins Auge fiel. 'Für meine geliebte Schwester' stand darauf. Die Schrift war ein wenig kindlich und furchtbar krakelig – so wie sie nur von einem Jungen stammen konnte, dachte Dulcinea.
Für meine geliebte Schwester. Ob Dulcineo Rigoroso ihr ebensolche Worte geschrieben hätte? Ihr Zwillingsbruder hatte nie das Mannesalter, ja nicht einmal das Knabenalter erreicht. Dulcinea nahm das Papier in beide Hände, faltete es zusammen und stopfte es in ihren Geldbeutel. Vor ihrem inneren Auge sah sie den tapferen Dulcineo, der ihr zuzwinkerte. Was er ihr wohl geschenkt hätte? Dulcinea betrachtete das Sammelsurium in der Kiste und entschied sich schließlich für die Kette aus Steinen. Manche schienen einfache Flußkiesel mit einer schönen Zeichnung zu sein, andere waren durchscheinend wie Kristall: blau oder grün oder violett, und zwei waren aus geschliffenem Vulkanglas.
"Für meine geliebte Schwester", sagte sie mit Dulcineos Stimme, schloss die Augen und legte sich die Kette um den Hals. Einige Herzschläge lang spürte sie dem Gewicht der Steine nach und der zarten Berührung der Finger an ihrem Hals – und lächelte. Dann öffnete sie die Augen, schob die Kiste zurück in den Schrank und griff nach ihrem Umhang.
Der Durst war nicht kleiner geworden, der Hunger größer, und sicher wartete ein unerfreulicher Tag auf sie. Höchste Zeit, sich zu stärken, ehe ihr Vater noch auf die Idee käme, vor einem ausgiebigen Frühstück abzureisen.
Im Raschtulswall nahe Vanyadâl
4. Rondra, am frühen Vormittag
Autor: SteveT
"Na los, kommt schon! Macht dem störrischen Biest Beine! Da müssen wir rauf!" Ungeduldig wandte sich Junker Ordonyo di Alina zum x-ten Mal zu seinen drei Begleitern um. Während ihm seine Tochter Dulcinea noch so dicht auf dem Fuß folgte, dass er ihre Schnapsfahne riechen konnte, die sie schon jetzt am frühen Vormittag wieder umwehte, mühten sich Ricardo und Pachotto leidlich ab, das aufmüpfige Lamah, ein Ferkina-Kamel, an einem groben Strick hinter sich her zu ziehen.
Er war einerseits froh, die beiden Waffenknechte noch auf dem besetzten Castillo da Vanya angetroffen zu haben, die ihm schon früher gedient hatten, als Gut Rigoroso noch stand. Dafür hatte er den alten Jacopo, den Diener von Aldea de Vargas wieder nach Valenca zurücksenden können, ohne dass er sich vor dessen Herrin groß in Schulden gestürzt hätte.
Sein Pferd bei einem zwielichtigen Viehzüchter, dessen Hof etwas außerhalb des götterverlassenen Nestes Vanyadâl gelegen hatte, gegen dieses veritable Ekelpaket von einem Viech auszutauschen, war vielleicht keine so gute Idee gewesen - auch wenn ihm der Züchter für den Weg ins Gebirge dringend dazu geraten hatte. Kein Wunder, der Bursche war ihm gleich nicht geheuer gewesen, da schon seine hässliche Visage verraten hatte, dass er selbst nicht zu knapp Ferkinablut in den Adern hatte.
Der Junker deutete auf einen markant geformten Berg, dessen Steilwände sich in einiger Entfernung vor ihnen bis in den wolkenverhangen Himmel aufschwangen. "Das ist die Ogerklaue! An seinem nördlichen Fuß wartet mein Amigo bei den Wilden auf uns, und wenn er erst sieht, was wir ihm Schönes mitbringen, wird er sich nicht lumpen lassen und die Mercenarios zu blutigem Klump schlagen lassen, die mein Hab und Gut angezündet haben!"
Er registrierte wohl, dass seine Tochter und seine beiden Waffenknechte leise aufstöhnten, als sie die Entfernung zu dem besagten Berg sahen, der zwar in der Luftlinie direkt vor ihnen lag, aber wegen zahlreicher tiefer Schluchten und Höhen dazwischen alles andere als leicht zu erreichen war.
"Keine Bange!", munterte er sie entgegen seiner sonstigen Art sogar etwas auf. "Sobald wir meinen Verbündeten getroffen haben und alles in meinem Sinne in die Wege geleitet wurde, verlassen wir diese Berge so schnell wieder, wie es nur geht! Wir begeben uns dann nach Selaque, denn Praiosmin, die fette Sau, schuldet mir etwas! Für meinen tapferen Einsatz wird sie mir Elenta geben müssen - andernfalls sorge ich dafür, dass auch Selaque wieder Besuch von Kreaturen erhält, die sie lieber niemals innerhalb der Grenzen ihres Lehens sehen möchte."
Im Laufe der Zeit kamen sie besser voran - das Lamah, das nicht nur die in eine Holzkiste verpackte schwere Trommel, sondern auch all ihr Gepäck und ihren Proviant schleppte, erwies sich tatsächlich als ausgezeichneter Kletterer, wenn es auch hin und wieder dem vor ihm her gehenden Pachotto ohne jede Vorwarnung in den Nacken rotzte, worauf dieser jedesmal entsetzt und voller Ekel aufschrie und dem Tier tausenderlei qualvolle Todesarten ankündigte.
Einmal glaubte Ricardo, in etwa einer Dutzend Meilen Entfernung eine Gruppe Menschen auf einem Bergkamm erspäht zu haben, ohne hinterher sagen zu können, ob es Wilde oder möglicherweise gar ihre zwölfgöttergläubigen Feinde, der Spießhaufen des Mistkerls Hernán von Aranjuez, gewesen waren.
Sie hatten gerade die Talsohle einer tiefen Schlucht durchquert und einen schnellfließenden Wildbach durchwatet, als Ordonyo mit einem Mal einen gurgelnden Schmerzensschrei hinter sich hörte und herumwirbelte.
Ricardo lag blutend am Boden, den Oberkörper unterhalb der Schulter von einem Speer mit beinerner Spitze durchbohrt. Pachotto ließ sofort die Führungsleine des Lamahs los und warf sich hinter einem Felsbrocken in Deckung. Geistesgegenwärtig ergriff wenigstens Dulcinea den Strick des furchtsam vorwärts trabenden Tieres und ging dann selbst hinter einer Felsnadel in Deckung, bemüht es festzuhalten.
Allein, dies erwies sich als keine gute Idee, denn als seine Tochter nur einen Wimpernschlag später wieder hinter der Felsnadel hervortrat, da wurde sie von hinten von einem halbnackten Wilden mit langem Bart und kahlrasiertem Schädel umklammert, der es offenbar auch gewesen war, der den Speer geschleudert hatte.
Ordonyo zog panisch sein Krummschwert - von beiden Enden der Schlucht her kam nun ein Dutzend weiterer Wilde angerannt - unmündige Knaben zwar größtenteils, aber doch allesamt bewaffnet und mit Muskeln gesegnet, dass sie es jederzeit mit einem erwachsenen Mann aufnehmen konnten.
"Halt! Wir kommen in Frieden!", brüllte Ordonyo, obwohl er genau wusste, dass wahrscheinlich kein einziger von ihnen Garethi verstand. "Frieden!", widerholte er radebrechend auf Tulamdiya. "Wir Freunde!"
Der Muskelprotz, der seine Tochter von hinten mit den Armen umklammert hielt und sie dabei sogar einen Spann vom Boden anhob, als wäre die lange und schlaksige Dulcinea leicht wie eine Feder, grinste bloß und entblößte dabei seinen hässlichen angespitzten Eckzähne.
'Ein Sayad Zhul!', dachte Ordonyo still bei sich, ohne wirklich viel über diese 'Blutjäger' oder über das Volk der Bâni Khadr zu wissen. Immerhin konnte er sich ob dessen Anblick nun fast sicher sein, zumindest den 'richtigen' Wilden über den Weg gelaufen zu sein, denn auch Ghazal iban Muyanshîr, der verrückte Zauberer der Blutsäufer, mit dem er dann und wann Informationen austauschte, wurde gelegentlich von derartigen Gestalten begleitet. Dessen Name gebrauchte Ordonyo nun als Losung, da er hoffte, die Wilden damit gnädig zu stimmen:
"Ghazal iban Muyanshir! Hört ihr? Ghazal iban Muyanshir! Bringt uns zu ihm!"
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