Chronik.Ereignis1035 Der bornländische Graf
Autor: dalias
Eine Lektion in GenealogieBearbeiten
Ranudo IV. Eslamo di Dalias y las Dardas stand im Innenhof seines Palacios in der noch jungen Landstadt Ratzingen. Acht livrierte Lakaien waren strategisch günstig positioniert und erhellten mit ihren Fackeln den schmalen Hof. Die Sterne glitzerten am Firmament und verliehen dem milden Rahjenmond-Abend noch mehr Glanz. Knapp hinter Ranudo standen sein Majordomus und sein Secretario Quintiliano Tracodi. An der Längsseite hatten sechs Waffenknechte der Familia di Dalias Aufstellung genommen: Ihre polierten Helme und Hellebarden schimmerten im Fackelschein. Hufgetrappel kündigte das Kommen der Erwarteten an.
Durch das offene Portal ritten sieben Reiter. Sofort sprangen livrierte Lakaien vor, um den Herrschaften behilflich zu sein. Baron Ranudo erkannte sogleich seine Schwester Yppolita und ihre Begleiterin Caneya von Gurnabán im flackernden Licht der Fackeln. Doch wegen zwei Caballeras wäre er, der Baron und Soberan, nicht in den Innenhof hinabgestiegen. Es war der Gast, den diese beiden Caballeras aus Sorobán einholten, dem dieses ehrerbietige Erwarten am Fuße der Treppe gebührte. Als die Reiter abgestiegen waren, schritt Dom Ranudo mit stolzgeschwellter Brust auf seinen Gast zu, widerfuhr doch ihm die Ehre dieses Besuchs und nicht seinen barönlichen Nachbarn.
Zögernd standen sich Baron Ranudo und sein Gast für wenige Herzschläge gegenüber. Als der Gast etwas zaudernd die Arme öffnete, tat der Baron es ihm gleich. Sie umarmten sich und tauschten den Bruderkuss.
„Durchlaucht, großer und mächtiger Herr und Fürst, es ist mir eine außerordentliche Ehre, Euch Gastung zu gewähren!“, gluckste Baron Ranudo aufgeregt.
„Die Ehre ist – in Travias Namen – ganz die Meinige, Hochgeboren“, brummte der blondhaarige, junge Mann vergnügt und schenkte seinem neben ihm stehenden, rotbackigen Lakai ein aufmunterndes Nicken.
„Durchlaucht, wollen wir?“ Einladend bedeutete Baron Ranudo seinem Gast, gemeinsam mit ihm in den Palacio zu gehen.
Firnislas Bornsky, Fürst von Wauchimmer und Graf von Dawosny, dankte für die Einladung und betrat gemeinsam mit seinem Gastgeber den Palacio Ippolito.
Prachtvoll saßen der Gast und sein Gastgeber zu Tisch. Alrico Schelachario Honorio di Dalias y las Dardas, seines Zeichens Senator der Landstadt Ratzingen, wies die Dienerschaft an. Acht Gänge wurden gereicht. Allesamt herrlich angerichtet: Eine kalt gereichte Taladura, eine mit Zitrusfrüchten und Pfeffer garnierte Forelle, ein perlengeschmückter Fasan im Federkleid, Rehrücken in vollmundiger Rotweinsauce, Koschammerzungen auf Safran-Wachtelei-Schaum, mit feinstem Blattgold geschmücktes Ragout vom jungen Daliaser Wildschwein, herzhaften Nementoer Käse an allerlei Obst in einer silbernen Schale mit den Wappen der Baronie Nemento sowie der Familias Dalias und El'Kargendes sowie Punipan-Küchlein an Khôm-Datteln. Yppolita di Dalias y las Dardas, Caballera de Niverocca, schnitt und reichte den beiden Tafelnden das Fleisch. Caballera Caneya de Gurnabán und ein junger de Comino schenkten den Wein nach. In respektvollem Abstand standen livrierte Lakaien, um den Niederadligen beim Aufwarten zu assistieren. Über sie alle wölbte sich die herrliche dem Himmel nachempfundene Decke des Ucuri-Saals: In der Mitte der Decke prangte eine hauchdünn vergoldete Sonnenscheibe, die ihre Strahlen aussandte. Vor dem hellblauen Hintergrund und zwischen den golden schimmernden Strahlen glänzten achtundachtzig vergoldete Falken. Die Ecken des Saals schmückten allegorische Darstellungen der vier Jahreszeiten. Über den sechs Türstürzen illustrierten Bilder die Macht und das Wirken der sechs Elemente. Doch alle Bilder und jeder Schmuck verwies auf die triumphierende, unbesiegte Sonne als Anker aller Ordnung in der Mitte der Decke.
„Durchlaucht, ich muss sagen, dass ich freilich die Umstände Eures Kommens sehr bedauere. Ich habe gehört, dass Ihr kurz vor Sorobán überfallen wurdet.“ Affektiert tupfte sich Baron Ranudo den Mund ab und nahm einen Schluck Wein. Der junge de Comino goss ihm eifrig und mit freundlichem Lächeln nach.
Fürst Firnislas Bornsky nickte zustimmend zu des Barons Worten. Mehr als ein Dutzend Augenpaare waren auf ihn gerichtet und musterten ihn genau.
„Ja, das war in der Tat sehr ärgerlich. Zwei Strauchdiebe hatten schon meine Packpferde mit nahezu der gesamten Barschaft und der Festkleidung fortgeführt, ehe ich die anderen drei Wegelagerer verjagen konnte, indem ich zwei von ihnen Blessuren schlug... Davon kehrt freilich das Medaillon meiner lieben Frauen Mutter – Boron hab sie selig – auch nicht wieder... und die Brosche, die mir meine Gemahlin anlässlich unserer Verlobung verehrte...“ Fürst Firnislas seufzte tief und ließ seinen Blick über die reich gedeckte Tafel, die livrierten Lakaien und die aufwartenden Adligen wandern.
„Durchlaucht, bekümmert Euch deswegen nicht. Ich habe meinen besten Mann damit beauftragt, Euch Eure Habe wieder zu beschaffen und diese Bandidos zu arretieren. Alvaro Manticco konnte bisher noch bei allen derartigen Investigationes reüssieren. Pretiosen von solch erlesener Beschaffenheit, wie Ihr sie beschrieben habt, haben schon mehr als einmal ihre Diebe und Räuber an den Galgen geliefert, sind sie doch schier nicht zu verkaufen und leicht wiederzuerkennen... Bekümmert Euch nicht, Durchlaucht!“ Baron Ranudo gab mit einer gönnerhaften Geste der Caballera Caneya von Gurnabán zu verstehen, dem auffällig vorsichtig trinkenden Fürsten Firnislas nachzuschenken.
Fürst Firnislas räusperte sich und errötete kaum merkbar – schienen ihn die Worte seines Gastgebers doch mehr zu beunruhigen als zu trösten. Dann wurde er seiner Unruhe und Fahrigkeit selbst gewahr – und der Aufmerksamkeit, welcher dieser Umstand bei den Umstehenden auslöste. „Hochgeboren, bitte verzeiht. Ich muss gestehen, Eure unvergleichliche Gastfreundschaft geniert mich – kann ich Euch Euren Traviensdienst doch auch nicht mit einer kleinen Gabe vergelten. Ich hoffe, Ihr mögt nun nicht zu schlecht von mir, meinem Hause und den bornischen Landessitten denken. Doch ich habe – eingedenk der theaterherrlichen Ahnherren meines Hauses – diese Pilgerfahrt ins Theater von Arivor incognito durchführen wollen, als einfacher bornländischer Rittersmann. Freilich musste mich dieser leidige Überfall in Eurer Baronie dazu bewegen, mein Incognito fahren zu lassen, wollte ich hoffen dürfen, das mir Gestohlene wieder erlangen zu können. Lasst uns hoffen, dass Ihr Recht behaltet... erlaubt mir, auf den erhofften Erfolg Eures famosen Caballeros de San Marwan zu trinken – Euch zur Ehr und mir zum Nutzen.“ Nachdem diese Worte gesprochen waren, griff Fürst Firnislas beherzt zum Weinkelch, hob diesen und ließ den kostbaren Traubensaft in seinen Schlund stürzen.
Nach einer weiteren Stunde des Zechens und Schlemmens hatte der Gastgeber die Tafel aufgehoben. Baron Ranudo, Fürst Firnislas und Caballero Alrico zogen sich nach dem Mahl in die Bibliothek zurück. Auf dem Weg dahin erklärte Fürst Firnislas erneut wortreich sein Bedauern, die Gattin des Barons, die hohe Dame Ildefonsa, nicht kennen lernen zu können, da sie sich nun am Ende des Rahjenmondes im Hinblick auf die Namenlosen Tage zu geistigen Exerzitien ins Kloster zu Ehren der Himmlischen Familie im Katraguatal zurückgezogen habe. In der Bibliothek angekommen präsentierte Baron Ranudo seinem Gast seinen ganzen Stolz: Seine Ahnentafel. Er rollte sie aus, wies auf diesen oder jenen illustren Ahnherren oder diese oder jene ruhmvolle Ahnfrau hin, gab genüsslich die vollen Anspruchstitel seiner Vorfahren wider und ließ seinen Finger Generation für Generation tiefer in die Vergangenheit wandern. Gespannt und neugierig wie ein kleiner Junge saß Fürst Firnislas in einem Lehnstuhl und folgte eifrig den Ausführungen und dem Finger seines Gastgebers.
Plötzlich richtete sich Fürst Firnislas abrupt auf, fuhr sich mit der Hand durch den Kinnbart und unterbrach mit polternder Stimme die Ausführungen Ranudos: „Ja, Potzblitz, Hochgeboren. Sagtet Ihr gerade Dom Azulejo de Montericco? – Azulejo de Montericco? Potzblitz!“ Peinlich berührt über den Ausruf des Fürsten zog Baron Ranudo seine Hand von der Ahnentafel und nestelte unruhig an den Spitzen seines Seidenhemdes. Nach einigen Augenblicken fand er seine Fassung wieder: „Ja, Durchlaucht, das sagte ich... Dom Azulejo de Montericco war der Ehegatte der Domna Elena di Dalias, welche im VIII. nachbosparanischen Saeculum Marktrichterin eben von diesem Orte, Ratzingen, war – damals noch allgemein und stets Benedictia genannt. O tempora, o mores, dass man diesen Ort nun Ratzingen heißt, kann ich immer nicht ganz verwinden. Meines Wissens nach geht dies auf einen Fehler eines Gareth-stämmigen Federknechts in der Puniner Kanzlei im späten VIII. Jahrhundert zurück; dieser hat in die Steuerlisten...“ Als Baron Ranudo die beschwichtigend erhobenen Hände seines Gegenübers bemerkte, unterbrach sich der Herr von Nemento und Dalias und besann sich zähneknirschend der guten Sitten.
„Dom Azulejo de Montericco ist mir sehr gut vertraut, Hochgeboren.“ Polternd begann Fürst Firnislas zu lachen.
Irritiert blickte ihn der Daliaser an. „Nun, wie Ihr seht“, Baron Ranudo deutete auf Dom Azulejos Namen auf dem großen Papierbogen und den sich von diesem ausbreitenden kahlen Einschlag in die ansonsten recht dichte Folge von Generationen, „ich weiß nicht mehr von ihm als den Namen seines Vaters: Dom Quintiliano de Montericco...“
Feixend wippte Fürst Firnislas im Sessel vor und zurück. „Nun, Euer Hochgeboren, oder sollte ich sagen: lieber Vetter, da kann ich Euch weiterhelfen... Dom Quintiliano de Montericco war ein Dienstmann der eslamidischen Kaiser und war als solcher irgendwann um 665 nach Bosparans Fall herum als kaiserlicher Kommissar ins bornländische Festenland geschickt worden. Dort heiratete er schließlich im Jahr 670 Freifrau Waalescha Bornsky von Dawosny – der Herrrschaftstitul für Dawosny war zu jener Zeit nach ein freiherrlicher, erst in der Mitte des IX. Jahrhunderts begannen die Herren von Dawosny einen Grafentitel zu führen; das war zu eben jener Zeit als auch Fürstentum und Fürstentitel Wauchimmer erworben wurden. Die Freiherren und -frauen Bornsky sind alter bornländischer Adel, der aus der Theaterritterzeit herstammt und auf ein noch viel älteres Kusliker Patriziergeschlecht der bosparanischen Zeit zurückreicht. Dom Quintiliano de Montericco und Freifrau Waalescha wiederum hatten zwei Söhne, die mir bekannt sind: den älteren Nidhardo Bornsky de Montericco, meinen Ahnvater, und eben den jüngeren Azulejo de Montericco, Euren Ahnvater.“ Gönnerhaft lächelnd blickte Fürst Firnislas seinen almadanischen Vetter an.
Völlig verdattert und verdutzt blickte Baron Ranudo abwechselnd auf seine Ahnentafel und auf seinen Gast, welcher ihm diese famose Geschichte erzählte. Fragend schoben sich am Ende von Fürst Firnislas‘ Ausführungen die Augenbrauen Ranudos zusammen und seine Stirn legte sich in Tiefe Falten.
„Nun“, polterte Dom Ranudo los, „ich hielt diesen Quintiliano de Montericco stets für einen Bastardabkömmling des almadanischen Astes des Hauses derer vom Berg und Dom Azulejo für einen natürlichen Sohn dieses bergschen Bastards. Auf diese familialosen Taugenichtse, die sich in meine Aszendenz geschlichen haben, pflegte ich zu fluchen... Habt Ihr denn Belege für Euren genealogischen Exkurs? Denn das Grab besagten Quintilianos de Montericco ist mir wohl bekannt. Er liegt in Niverocca bestattet. Die Grabplatte ist leider völlig unleserlich – nur aus den Tempelbuchaufzeichnungen geht hervor, dass er in eben jenem Grab liegen muss.“ Während Ranudo diese Worte sprach, heftete er seinen Blick an seinen Gast und drückte mit seiner Rechten seinen Kaiser-Alrik-Schnauzer platt. Dom Alrico tat es seinem großen Bruder gleich: Auch er fixierte den Gast und strich sich den Bart platt.
Fürst Firnislas fühlte seine Hände schweißnass werden. Bis in die Ohrenspitzen wurde er rot. Er fühlte sich ertappt. Nun galt es, alles auf eine Karte zu setzen. „Eure Worte, Hochgeboren, kränken mich und die Ehre meines Hauses, der Fürsten und Grafen Bornsky“, herausfordernd blickte Fürst Firnislas seinen Gastgeber an, „freilich habe ich Beweise für meine Erläuterungen. Im Geheimen Archiv der Fürsten Bornsky liegen entsprechende Dokumente, in deren Lichte Eure Mutmaßungen und falschen Schlüsse dahin schmölzen. Nun, sicherlich kehrte unser gemeinsamer Ahnherr, Quintiliano de Montericco, mit seinem jüngeren Sohn Azulejo nach dem Großen Junkeraufstand des Jahres 688[1] nach Almada zurück. Denn seine Gattin, Waalescha Bornsky, hatte auf Seiten der Junker gegen die kaiserlichen Unterdrücker gekämpft und war heldenhaft kämpfend gefallen. Dom Quintiliano aber hatte als kaiserlicher Commissar versagt und wurde abberufen.“ Nun aber brauchte Fürst Firnislas einen versöhnlichen Abschluss. Er blickte in die zerknirschten Gesichter Dom Ranudos und Dom Alricos. „Freilich sehnte sich Quintiliano de Montericco auch nach dem Licht und der Wärme Almadas“, fuhr Fürst Firnislas fort, „und das almadanische Blut in mir, kann diese Sehnsucht nachempfinden. Als ich hierher zog und diesen Boden betrat, fühlte es sich auch für mich so an, als würde ich nach Hause kommen. Auch wenn ich noch nie zuvor, den Boden des Yaquirtals betreten hatte, so sagte mir die Stimme meines Blutes doch sogleich, dass ich eine nie gekannte Heimat sah, spürte, roch und schmeckte.“ Fürst Firnislas schenkte den beiden almadanischen Noblen ein verzücktes Lächeln und er kam nicht umhin zu bemerken, dass die Augen des Barons tränenverschleiert waren.
Einen Titel zu kaufenBearbeiten
Von jenem Abend an genoss Fürst Firnislas Bornsky auf unbestimmte Zeit Gastrecht im Palacio Ippolito zu Ratzingen – zumal und gerade im Hinblick auf die Namenlosen Tage, die das Jahr 1035 vom Jahr 1036 schieden. In langen vertraulichen Gesprächen zwischen den beiden Vettern, dem Bornländer Firnislas und dem Almadani Ranudo, wurde ein kühner Plan gefasst, der beiden Seiten Vorteile bringen sollte. Fürst Firnislas sollte seinem Vetter Ranudo die Grafschaft Dawosny – mit allen daran hängenden Rechten, Gerechtigkeiten, Gebäuden, Wiesen, Wäldern, Äckern, Vieh und Leibeigenen – sowie vor allem und zuvörderst den Grafentitel verkaufen. Von den nicht ganz einhundert Seelen und den Ländereien dürfe sich Baron Ranudo keine großen Intraden versprechen, ermahnte Fürst Firnislas, sehr wohl aber vom sewerischen Grafentitel, der im Yaquirtal einige Furore machen werde. Zu dieser Kaufhandlung fühlte sich Fürst Firnislas auch nur berechtigt, weil Baron Ranudo durch seine Herkunft von Freifrau Waalescha Bornsky von Dawosny ebenfalls zur Herrschaft über Dawosny ein ererbtes Anrecht habe und durch sie ebenfalls theaterherrlicher Herkunft sei. Die Vogteirechte über die veräußerte Grafschaft Dawosny sollten darüber hinaus auf zwölf Götterläufe noch bei Fürst Firnislas liegen. Danach wäre es an Ranudo Eslamo di Dalias y las Dardas, Graf von Davosnia, einen gräflichen Administrador seiner Wahl nach Sewerien zu entsenden. Überdies sollte Baron Ranudo beglaubigte Abschriften aller relevanter Dokumente aus dem Geheimen Archiv der Fürsten Bornsky erhalten, gerade in Bezug auf die Geschichte von Vater und Sohn de Montericco. Fürst Firnislas sollte hierfür die bescheidene Summe von fünftausend Golddukaten erhalten – 2.500 nach Unterschrift des Vertrages in barem Geld und 2.500 Dukaten in Form von Wechseln nach der Überstellung aller notwendigen Urkunden aus Sewerien. Die Einigung zwischen den beiden Adligen kam recht rasch zu Stande. Die Konditionen und einzelnen Vertragsklauseln sprudelten nur so aus Fürst Firnislas heraus. Fanden die Gespräche zunächst noch unter vier Augen statt, musste bald schon Secretario Quintiliano Tracodi für die Niederschrift hinzugezogen werden. Am ersten Tag des Namenlosen – aus Pietätsgründen aber auf den 30ten Rahja rückdatiert – lag der Kaufvertrag unterschriftsreif vor.
Nur verstohlen hatte die Praiosscheibe untertags durch die graue, den Himmel verdunkelnde Wolkenmasse gelugt. Ein blutroter Streifen im Westen kündigte das Ende des ersten Tags des Namenlosen an. Die Glocken hatten den Tag über geschwiegen. Die Landstadt Ratzingen hatte sich ebenfalls in Schweigen und abwartende Vorsicht gehüllt.
Vorsorglich entzündete eine Lakaiin mit einer krummen Nase die Kerzen im Kirsch-Cabinett. Noch immer schmerzte sie ihre Nase. Alisea fuhr sich über ihr einstmals schönes Gesicht und jenes nun schiefstehende exponierte Körperteil, das sie den Rest ihres Lebens an jenen Abend in Omlad erinnern würde, als ihr Herr sie fast tot geschlagen hätte. Ein Klopfen an der Tür riss sie aus diesen schmerzvollen Erinnerungen. Es war Yppolita di Dalias y las Dardas, die eintrat und sie freundlich grüßte.
„Hochgeboren Dom Ranudo ist noch nicht hier. Es ist noch bei Secretario Tracodi, um alles vorzubereiten. Er hat mir aufgetragen, alles vorzubereiten... Wünscht Ihr etwas, Domna?“, unterwürfig stand Alisea vor der fast einen Kopf größeren und wesentlich breiteren Caballera.
„Einen Kelch Wein. Mich dürstet. Wird Alrico auch anwesend sein?“
„Ja, Dom Alrico wurde auch hinzu gebeten, Domna“, sprach die Lakaiin kaum vernehmlich und sah die Caballera ein Gesicht ziehen, als hätte sie in ein Dutzend saure Citronen gebissen.
Nach einem freundlichen Lächeln in Richtung der Dienerin ließ sich Caballera Yppolita in einen schweren Lehnstuhl sinken. Kaum hatte die Dienerin das Cabinett verlassen, trat auch schon der gerade genannte Caballero Alrico ein. Er war klein von Wuchs und drahtig. Sein dunkelgelocktes Haar hing ihm offen bis auf die Schultern herab. Sein Wams war grau, wie auch der Tag grau gewesen war, und seine Stirn war – den Namenlosen Tagen gänzlich entsprechend – in tiefe Sorgenfalten gelegt. Elegant küsste der Senator von Ratzingen seine ältere Schwester auf beide Wangen.
„Nun, warum sind wir hier? Hat Dir unser Bruder schon etwas enthüllt?“ Die Neugierde in Yppolitas Augen und Worten waren unverkennbar echt.
„Er wird es Dir, liebe Schwester, mit Gewissheit sogleich selbst berichten. Nur so viel, der Glanz unserer Familia wird dadurch nicht unerheblich gemehrt.“
„Will Hochgeboren etwa neue Zuchthengste anschaffen? Der Kleine König hat ein paar sehr feine... ich habe sogar gehört, dass er ein paar verkaufen will... oder will er seine Stuten von den Hengsten seiner Schwiegermutter decken lassen?“
Alrico blickte seine Schwester irritiert an: „Unser Bruder denkt nicht in derart primitiven Sphären... er hat Größeres vor.“
„Ah, nun verstehe ich: Er will endlich einen Koch in Diensten nehmen, der diesen Namen auch verdient...“, spottete die Caballera de Niverocca.
Dom Alrico di Dalias y las Dardas blieb nur noch, verächtlich zu schnauben, und damit seine Missbilligung auszudrücken. Etliche Herzschläge lang blieben die beiden Geschwister neben einander im Kirsch-Cabinett sitzen, ohne sich anzublicken, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.
Plötzlich klopfte sich Dom Alrico schmunzelnd mit der rechten Handfläche auf den Schenkel – er konnte nicht mehr an sich halten, er wollte über seine ältere Schwester triumphieren: „Rate mal, Schwesterlein, wer das Rosen-Weingut hier vor den Toren und den Gasthof Zum Silbernern Theron bekommt?“ Dom Alrico klopfte sich auf die Brust und grinste breit.
Yppolitas Miene verfinsterte sich schlagartig.
Doch sie hatte keine Zeit auf Alricos Worte zu reagieren. Denn in diesem Augenblick traten Dom Ranudo und sein Secretario Quintiliano Tracodi in das mit Kirschholz vertäfelte Cabinett ein. Der Secretario trug eine mit Papieren gefüllte lederne Mappe unter dem Arm. Der Baron trug einen feierlichen Gesichtsausdruck zur Schau und grüßte seine Geschwister knapp.
„Mein lieber Alrico“, hob Baron Ranudo näselnd an zu sprechen, „Ihr seid bereits im Bilde. Nun werte Yppolita, auch Euch will ich in kurzen Worten von meinem Vorhaben unterrichten. Durchlaucht Fürst Firnislas und ich sind übereingekommen, dass er mir die Grafschaft Dawosny – oder Davosnia – im Sewerischen für fünf tausend Golddukaten abtritt. Damit erwerbe ich sämtliche Rechte, Gerechtigkeiten, Liegenschaften und Leibeigenen besagter Grafschaft und – darum geht es mir zuvörderst – den Titel eines Grafen. Ihr könnt Eurem Bruder gratulieren, dem es auf diese Weise gelungen ist, den Ruhm der Familia di Dalias zu höchsten Höhen zu führen.“ Ranudo betrachtete interessiert das Mienenspiel seiner Geschwister: Während sein treuherziger Bruder Alrico verzückt lächelte, Segensworte murmelte und seine Sorgenfalten für wenige Augenblicke von seiner Stirn bannte, verrieten Yppolitas Gesichtszüge weniger positive Regungen. Baron, und bald Graf, Ranudo war damit zufrieden, dies als puren Neid seiner Schwester abzutun. „Señor Tracodi wird Euch die Einzelheiten darlegen.“ Gelangweilt lehnte sich der Baron zurück.
Mit geringer Begeisterung führte Quintiliano Tracodi die einzelnen Vertragsklauseln und Zahlungsmodalitäten aus: „... 2.500 Dukaten wären demnach nach Vertragsunterzeichnung in barem Gelde sogleich zu erlegen. Da der barönlichen Kammer es an einer derartigen Summe im Augenblick leider mangelt – die Hofhaltung Seiner Hochgeboren und der Ausbau des Castillos Brandenauschlüsselstein in Nemento und eben dieses Palacios hier seien nicht zuletzt hier als Gründe angeführt – und auch Ben Nasreddin sich im Augenblick aufgrund der Auslösung der Landstadt Ratzingen nicht in der Lage sieht, die hier benannten Mittel in so kurzer Frist zur Verfügung zu stellen, wollen Seine Hochgeboren Euer Wohlgeboren, Domna Yppolita, doch ersucht haben, ihm die besagten Mittel – 2.500 Dukaten – gnädig zu leihen...“
„Halt! Halt!“, unterbrach Domna Yppolita die Ausführungen des Secretarios barsch – das mit Wortbruch erkaufte Versprechen Ranudos an Alrico beschäftige sie immer noch, „ich soll Dir, Bruderherz, 2.500 Dukaten leihen – 2.500 Dukaten! Und das wohl heute oder morgen, wenn ich dies richtig verstehe. Für ein völlig irrsinniges Project! Du willst einem dahergelaufenen bornländischen Waschweib 2.500 Dukaten zustecken? Welche Sicherheiten bietest Du mir? Welche Sicherheiten bietet er Dir? Was sagen eigentlich Manticco und Deine Gattin dazu?“
Baron Ranudo war wie aus allen Wolken gefallen. Verdutzt blickte er seine Schwester an. Solche Niederträchtigkeiten hatte er aus ihrem Mund nicht erwartet. „Manticco und Domna Ildefonsa sind nicht hier. Ich hielt es auch nicht für notwendig sie über diese völlig glasklaren Entscheidungen zu unterrichten. Ich bin der Baron von Nemento und Dein Soberan. Ich weiß es wohl am besten und ich entscheide“, wischte er die letztgenannten Bedenken seiner Schwester einfach beiseite und polterte nun stehend weiter, „und freilich habe ich bei mir hin und her überlegt: Und selten bin ich einem derartigen Edelmann von solchem Format und solcher Cortezia begegnet, wie Durchlaucht Fürst Firnislas. Ihr tut ihm mit Euren Worten, Schwester, schweres Unrecht. Auf Eure Worte hin habe ich nun nicht übel Lust den Vertrag ganz sausen zu lassen, und das Werk alleine auf Ehrenwort und Handschlag zu stellen! Dies ist ein großes Werk für die ganze Familia di Dalias. Freilich ist es eine kleine unbedeutende Grafschaft irgendwo in diesem Sewerien... aber dies weiß doch Baron Nicetos, um ihn als Exempel anzuführen, gar nicht. Er sieht nur, dass ich mich und meine Familia zu Recht mit einem – zwar fremdländischen, aber doch immerhin – Grafentitel schmücken kann. Nun, Schwester, müsst Ihr Euch fragen, ob Ihr zu diesem glanzvollen Werk – vielleicht dem glanzvollsten in der Geschichte unserer Familia in den letzten hundert Jahren – beitragen wollt, oder ob Ihr ganz an der Seite stehen wollt! Und was soll Euer Gerede von Sicherheiten auf diesen Credit? Seid Ihr eine Caballera oder eine Krämerin, die Kreuzer zählt?“
Bei diesem heftigen Donnern ihres Bruders, der aufgesprungen war und wild gestikuliert hatte, war Yppolita ganz zusammen gesunken. Neben sich sah sie Alrico Honorio schelmisch grinsen und mit den Fingern auf den Tisch trommeln. Unter diesem Druck sanken ihr Mut und ihr Widerspruchswille dahin. „Also gut, also gut, Bruder“, knurrte die klein gewordene Yppolita, „Ihr sollt Eure 2.500 Dukaten erhalten. Ich will noch heute eine Taube nach Niverocca an meinen Secretario Pribaldo schicken: Morgen zur Praiosstunde wird das Geld hier sein... Dann könnt Ihr Euren Vertrag unterzeichnen und diesem ‚ehrenwerten Edelmann‘ das Geld geben, das er für einen sewerischen Grafentitel verlangt.“ Als Yppolita geendet hatte, erhob sich und verließ ohne ein weiteres Grußwort das Kirsch-Cabinett.
Wer von Dieben stiehlt,...Bearbeiten
Tröstend und doch etwas unbeholfen tätschelte Caballera Caneya von Gurnabán mit den rauen und schwieligen Händen einer almadanischen Pferdejunkerin den Kopf ihrer Freundin. Caballera Yppolita war immer noch aufgebracht, wie ihr älterer Bruder und Soberan sie vor dem jungen Alrico und seinem Secretario behandelt hatte. Zwischen dem Schluchzen klagte sie über die brüderliche Unverfrorenheit und zischte Flüche auf ihre beiden Brüder. Beschwichtigend hielt Caneya ihre Waffenschwester in den Armen und redete ihr gut zu.
Es klopfte. Unwillig bat Caneya den Besucher herein. Sie kniff ihre Augen zusammen und sandte dem Eindringling ein knappes Knurren: „Señor Tracodi, was will er hier?“
„Verzeiht, ich wollte nicht stören. Ich gedachte mit Domna Yppolita vertraulich unter vier Augen zu sprechen. Es ist ein wichtiges Anliegen, das keinen Aufschub duldet...“
„Geht es etwa um diese sewerische Grafschaft und den Credit?“, blaffte Caneya den Secretario an.
„Ja, genau darum geht es. Es wird nicht lange dauern...“
„Ich wünsche“, schniefte Yppolita, „dass Caneya hier bleibt, wenn wir über diese Angelegenheit sprechen.“ Zur Bestätigung legte sie ihren schweren Arm um die Schulter der Freundin.
„Gut, wie Ihr wünscht.“ Quintiliano Tracodi wandte sich um, schloss und verriegelte die Tür sorgsam. Danach trat er an die beiden Caballeras heran und nahm unter Anzeigung seiner Ehrerbietung auf einem Stuhl Platz.
„Nun, werte Domnas“, flüsterte Quintiliano Tracodi leise, aber deutlich, „es gibt völlig neue Entwicklungen, die Euch, Domna Yppolita, mehr als nur Recht geben. Ihr kennt doch diese leise, fast elfengleich geräuschlose Dienerin Alisea – jene, die seit Omlad eine schiefe Nase...“, das Nicken der Domnas ließ Quintiliano seine Ausführungen an dieser Stelle abbrechen, „nun, meine kleine Alisea ist ein ganz besonderes Mädchen. Und sie kam an diesem Abend nicht umhin im Gästegemach die Gedanken des Fürsten Firnislas und seines Dieners zu belauschen, als sie gerade Licht in dessen Gemach brachte. Ihr habt völlig Recht, Domna Yppolita: Fürst Firnislas ist wahrhaftig ein ‚bornländisches Waschweib‘, wie Ihr Euch auszudrücken pflegtet. Zwar ist er wohl weder Bornländer, noch ein Waschweib – aber letzterem dem Stande nach doch wesentlich näher als einem Fürsten. Es sind Hochstapler und Betrüger – so hat es mir Alisea berichtet und ich glaube ihren Lippen und ihrem Herzen – und diese Halunken planen schon ihre Flucht aus Ratzingen, wenn sie der 2.500 Dukaten habhaft würden.“
"Wie gedenkt mein Bruder und Soberan zu handeln? Soll ich diese Halunken mit ein paar Gardisten festsetzen?" Das Gemüt Yppolitas schien sich aufgrund dieses Berichts wieder beruhigt zu haben. Tatenhungrig blickte sie den Secretario ihres Bruders an.
„Nun, Domna“, hüstelte Quintiliano etwas verlegen, „Euer Bruder und Soberan weiß... noch... nichts davon. Dom Alrico ebenfalls nicht. Weitere Beweise habe ich überdies auch nicht. Außerdem gedachte ich zuerst zu Euch zu kommen, immerhin sind die 2.500 Dukaten mehr oder weniger Euer Geld. Ich wollte zuerst Euren Willen vernehmen, ob Ihr womöglich Euren Bruder und Soberan – wie Ihr sagtet – unterrichten wollt. Ich...“ Unsicher begann der Secretario mit einem Kamm zu spielen, der vor ihm auf dem Tisch lag. Hatte er vielleicht Caballera Yppolita doch völlig falsch eingeschätzt? Er verfluchte sich, dass er diese Sache vor ihr im Beisein Caneyas eröffnet hatte. Eine solche Fehleinschätzung wäre seinem Onkel Alvaro Manticco nicht unterlaufen.
Doch Caneya von Gurnabán schien den Secretario verstanden zu haben. „Wäre es nicht eine feine Gelegenheit, um Deinen Brüdern eine kleine 2.500 Dukaten schwere Lektion zu erteilen“, raunte sie ihrer Gefährtin zu.
„Wie ich schon sagte“, der nun schelmisch grinsende Secretario zuckte mit den Schultern, „von mir muss Euer Bruder und Soberan nichts erfahren. Freilich geschieht nichts auf Deren für bloßen Alveranslohn.“
„Ihr beide“, Yppolita blickte Caneya von Gurnabán und Quintiliano Tracodi erstaunt an, „ihr schlagt mir also vor, dass ich meinen Soberan betrüge... ja, ich denke, dass das richtige Wort ist. Ich soll ihn um 2.500 Dukaten betrügen...“
„Nun, Yppolita“, Caneya schüttelte ihr schönes Haupt, „Dein Bruder und Soberan schert sich auch nicht um seine Vereinbarungen mit Deiner Schwester Thesia. Das Rosen-Weingut und den Gasthof Zum Silbernern Theron sollte eigentlich sie bekommen, um Ihr den Eintritt in den Rahjaorden Ihrer Wahl zu ermöglichen. In Deinem Beisein hat er es Ihr hoch und heilig versprochen... und jetzt mehr für den guten Alrico.“
„Wenn ich darf“, mischte sich Quintiliano Tracodi zaghaft flüsternd ein, „von einer freien Wahl für Eure Schwester Thesia ist nun auch nicht mehr die Rede. Sie soll nach Sherbeth geschickt werden. Euer Bruder ist sich mit Hochwürden Novara Valedepenya schon so gut wie einig. Nächsten Herbst wird sie nach Sherbeth gehen... Mein Wort darauf: Ich habe schließlich die Briefe Eures Bruders an Novara geschrieben“, log der Secretario.
Die Wangen Yppolitas begannen zu glühen, als hätte sie Ohrfeigen erhalten. Ihre dichten, dicken Augenbrauen wölbten sich und ihr Blick verfinsterte sich.
„Dieser elende Hundsfott...“, zischte Yppolita alle Zurückhaltung vergessend, „das werde ich ihm nicht durchgehen lassen. Ich schicke meine Thesia doch nicht in dieses vermaledeite Rebenthal-Nest. Die Valedepenya ist doch im Stande, sie zu vergiften oder als Geisel zu nehmen. Was fällt diesem Halbdackel ein?“
„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte“, Quintiliano Tracodi strich sich über seinen Bart, „gebt Eurem Bruder diesen erbetenen Credit und zwar zinslos – dies dürfte hier das Zauberwort sein – freilich nur unter der Bedingung, dass er den Anspruch Eurer Schwester auf das Weingut und den Gasthof erneut und zwar dieses Mal schriftlich confirmiert. Ebenso die freie Wahl Eurer Schwester für ein Stift oder einen Orden oder Göttinhaus Ihrer Wahl. Wenn Ihr wollt, werde ich Eurem Bruder diese Eure Conditionen unterbreiten. Und den Spitzbuben bieten wir ein Geschäft an, dass diese unmöglich ablehnen können: Vier Fünftel des Geldes für uns, oh verzeiht, für Euch, und sie selbst dürfen mit einem Fünftel von dannen ziehen. Fünf hundert Dukaten und geschenkte Leben – eigentlich ein sehr großzügiger Vorschlag. Das schönste dabei ist, dass Ihr Euren Einsatz fast verdoppelt...“
Zustimmend nickte sie zu Tracodis Vorschlag; Rache war in der Tat süßer als Punipan.
Ein heftiges Pochen schreckte Herr und Diener aus dem Schlaf. Fürst Firnislas fuhr hoch. Sein sewerischer Lakai Kolja legte instinktiv seine Schwerthand auf den Griff seines Dolches. Es war lange nach Mitternacht. Dunkle Wolkenzungen fuhren leckend über die totenblasse Madascheibe. Das fahle Licht des Madamals erhellte das Gemach kaum. Im herrschaftlichen Bett setzte sich Fürst Firnislas auf und wischte sich den Schweiß dieser schwülen und unglückseligen Nacht von der Stirn.
Erneut polterte es an der Tür. „Durchlaucht, bitte lasst öffnen!“, war die zaghafte Stimme der Dienerin Alisea zu vernehmen.
Kurz tauschten Firnislas und sein Lakai Kolja Blicke. Den Dolch in den Falten des weiten Hemdes verborgen schritt der Diener zur Tür und entriegelte sie.
Die Türe wurde aufgerissen und die Caballeras Yppolita und Caneya traten ein. Die Dienerin Alisea blieb in den Schatten der Tür stehen. „Was verschafft uns die Ehre Eures späten Besuchs, werte wohlgeborene Damen?“ Schrecken und Unsicherheit mischten sich in die Stimme des Fürsten Firnislas. Diese Worte, die er rasch und entschlossen, mit gespielter Überlegenheit sagen wollte, klangen verzagt und eingeschüchtert. Unwillkürlich glitt sein Blick über die schweren Fechthandschuhe der Caballeras, die festen ledernen Leibröcke und blieb schließlich an den rondrisch geradlinigen und schnörkellosen Griffkörben der Rapiere haften. Behutsam wurde die Türe zum Gästegemach von Alisea zugezogen. Firnislas und sein Lakai waren mit den beiden Caballeras alleine. Nur wenige Raumschritt Luft trennten Firnislas von den mutmaßlich tödlich spitzen Klingen der Eindringlinge. Kolja presste seine Faust fester um den Dolchgriff, hielt ihn aber noch in den Falten seines Gewandes verborgen.
„Durchlaucht, Fürst Firnislas“, die Stimme Caneyas klang schneidend wie feinster Stahl, „wir sind hier, um Euch ein unwiderstehliches Angebot zu machen. Wir wissen, wer Ihr seid, oder besser, wer Ihr nicht seid...“
Fürst Firnislas schüttelte sein Haupt. Er war kreidebleich geworden. „Nun, wer soll ich sein, wenn nicht Firnislas Bornsky? Dies ist der Name, den mir meine Mutter gab... Ich schwöre, bei allen Göttern, dass ich ein sewerischer Magnat bin. Nicht mehr, aber ganz gewiss auch nicht weniger!“ Am Ende seiner Worte hatte die Stimme des Fürsten etwas an Festigkeit und Kraft gewonnen.
„Dies ist ein Bruch von Travias heiligem Gastrecht. Des Nachts hier einzudringen und uns zu bedrohen“, zischte der sich einmischende Lakai Kolja.
„Ihr seid die, die sich an Travia versündigt haben“, herrschte Yppolita die beiden mit lauter Stimme an, „wir haben Beweise, dass Ihr Halunken und Betrüger seid, nicht weniger, aber gewiss auch nicht mehr. Hochstapler, die hofften, schnelles Geld auf Kosten von ehrenhaften Standespersonen zu machen...“
„Wo ist denn Seine Hochgeboren der Baron? Warum kommt Ihr nur zu zweit, wenn Ihr doch ach so erdrückend schwere Beweise habt? Ich habe genug von dieser Eurer Posse und Euren Beleidigungen!“ Der Fürst war aufgestanden und stampfte mit dem Fuß auf. Wütend funkelten seine Augen. Er hatte seine Rolle wiedergefunden.
Yppolita begann zu lachen. „Also gut, lieber Fürst. Wir rufen meinen Bruder und Euer Spiel wird aufgedeckt. Aber seid Euch dessen gewiss, dann wird Euer Kadaver baumeln bis der Strick modrig und Eure Knochen bleich geworden sind... oder Ihr hört Euch unser Angebot an.“ „Mein Spiel? Mein Spiel?“, höhnte Firnislas mit leicht schrillender Stimme, „ich bin Firnislas Bornsky. Und ich erwarte, dass Hochgeboren Ranudo gerufen wird. Augenblicklich!“ Entschlossen schritt Fürst Bornsky auf die Tür zu. Niemand hielt ihn auf. Als er seine Hand auf den Türknauf legte, hielt er inne. Fürst Firnislas zögerte. Er zögerte einen Augenblick zu lange.
„Und Du, Lakai? Du erlaubst, dass dieser Schmierenkomödiant mit Deinem Leben spielt?“, raunte Caneya dem Diener Kolja zu, „letztlich ist es wie Boltan. Doch Eure Einsätze sind ungleich höher... Verlieren wir, werden wir scharf getadelt! Verliert Ihr, werdet Ihr gehängt! Ich bin nun doch gespannt: Ich will sehen!“
„Halt, Hagen!“, rief der Lakai. Die Hand Hagens sank vom Türknauf. Seine Rolle, sein Leben stürzten zusammen. Fürst Firnislas war verschwunden, wie weg geweht. Mit einem linkischen Grinsen auf den Lippen und Schweißperlen auf der Stirn drehte sich Hagen, der eben noch den Fürsten Firnislas gegeben hatte, zu den anderen um. Der ‚Kolja‘ zuckte mit den Schultern. Das Spiel war vorbei. Das Spiel um die zweitausend und fünfhundert Golddukaten war verloren.
Herablassend tätschelte Caneya von Gurnabán den Kopf des ‚Kolja‘: „Eine kluge Wahl. Domna Yppolita macht Euch Galgenstricken ein gutes Angebot: Ihr spielt Eure Rollen auch morgen... und übermorgen, wenn es denn sein muss. Und dann verschwindet Ihr aus Ratzingen. Ihr behaltet Euer Leben und jeder von Euch nimmt ein Zehntel der 2.500 mit. Und wenn Ihr Eure Aufgabe brav erledigt, ohne zu murren, dann bekommt Ihr noch einmal fünfzig Dukaten oben drauf. Nun haben wir eine Abmachung?“
Schritte näherten sich. Die Türe wurde geöffnet. Caballero Alrico di Dalias y las Dardas, ein Waffenknecht und zwei livrierte Lakaien traten ein. Musternd ließ Alrico seinen Blick über die Anwesenden wandern.
„Es kam tumultartiges Geschrei aus diesem Gemach! Ist denn alles in Ordnung, Durchlaucht?“, bellte der sichtlich müde Caballero die vier Personen an.
„Ja, es... es ist a...alles in b... bester Ordnung“, stotterte Fürst Firnislas.
„Haben wir denn ein Einverständnis erzielt, Durchlaucht?“, raunte Caneya von Gurnabán dem Fürsten zu.
„Ja, sicher“, antwortete Kolja der Lakai statt dessen schnell, „ja, sicher. Im Namen meines Herrn und Fürsten. So wollen wir es halten.“
„Was halten? Was ist hier los?“, knurrte Caballero Alrico unwirsch.
„Wir haben nur eine kleine Partie Boltan gespielt... mit almadanischen Regeln, versteht sich, Bruderherz“, breit grinsend trat Yppolita auf ihren kleinen Bruder zu und legte ihre Hand auf seine Schulter, „und am Ende kamen wir nun überein, dass Caneya und mir die Ehre zu teil wird, bei der Abreise Seiner Durchlaucht das Geleit bis Sherbeth zu geben... Gute Nacht, Euer Durchlaucht!“
Unter BrüdernBearbeiten
Am Mittag des zweiten Tags des Namenlosen erreichten Sten Helmdahli, ein hagerer Thorwaler Mercenario mit verhärmten Gesichtszügen, der weder Tod noch Dämonensultan fürchtete, und drei alte kriegs- und fehdeerprobte Waffenknechte Yppolitas, die schon für Dom Gualdo gekämpft, geblutet und gemordet hatten, im gestreckten Galopp bei strömendem Regen die Landstadt Ratzingen. Mit sich brachten sie aus Niverocca 2.500 Golddukaten in klingender Münze.
Das Creditgeschäft zwischen Bruder und Schwester war noch am Vorabend geschlossen worden. Baron Ranudo IV. Eslamo hatte die von Secretario Quintiliano Tracodi vorgetragenen Bedingungen zähneknirschend akzeptiert. Das alte dalias’sche Weingut vor den Toren Ratzingens und das Eigentumsrecht am verpachteten Gasthof Zum Silbernen Theron sollten an die junge Rahjageweihte Thesia gehen, die jüngste unter Ranudos Geschwistern. Dom Alrico Schelachario Honorio di Dalias y las Dardas sollte von seinem Bruder Ranudo auf andere, noch nicht näher bestimmte Art und Weise für diesen erlittenen Verlust recompensiert werden.
Zur Praiosstunde war es so weit: Feierlich trafen Baron Ranudo IV. Eslamo di Dalias y las Dardas und Fürst Firnislas Bornsky im Ucuri-Saal des Palacios Ippolito zusammen und unterzeichneten den ausgehandelten Kaufvertrag vor einem Dutzend Zeugen. Fürst Firnislas trat alle Rechte an der Grafschaft Dawosny an seinen ‚Vetter‘ Ranudo ab. Dieser verpflichtete sich seinerseits dafür, Fürst Firnislas die Summe von 5.000 Golddukaten Garether oder Puniner Prägung zu zahlen – 2.500 Golddukaten, die Hälfte des Geldes, wurde dem sewerischen Fürsten nach Abschluss des Vertrages in klingender Münze ausgehändigt.
„Mein lieber gnädiger Vetter, verzeiht, dass ich Euch einfach so unangekündigt störe.“ Mit diesen Worten schob sich Fürst Firnislas in die Bibliothek. Graf und Baron Ranudo legte den dicken, staubgesättigten Band, in den er vertieft war, beiseite.
Mit einem fragenden Lächeln blickte er zum Fürsten auf. „Was ist geschehen, Euer Durchlaucht? Ihr wirkt so betrübt – wenn ich mir erlauben darf, dies anzumerken? – Bitte nehmt doch Platz, durchlauchter Vetter!“
Mit einem leicht gedankenverlorenen Kopfnicken nahm Fürst Firnislas im ihm zugewiesenen Sessel Platz. Seine Gesichtszüge wirkten farblos und angespannt. Dunkle Ringe unter seinen Augen kündigten von seiner Erschöpfung. „Lieber Vetter, viel zu lange schon habe ich Eure mich sprachlos machende und überwältigende Gastfreundschaft genossen. Länger will ich Euch nicht mit meiner Gastung beschweren. Überdies zwingt mich mein Pilgerschwur zum raschen Weiterziehen, da ich schon zu lange an diesem Ort gedräut habe. Noch immer ist das Theater von Arivor mein Ziel und vorher will und kann ich nicht länger als notwendig bleiben. Ich gedenke morgen früh abzureisen. Bitte verzeiht mir meine ungebührliche Art, Euch dies mitzuteilen. Ich hoffe, Ihr mögt meine mir von meinem Herzen und meiner Götterfurcht diktierte Eile zu meinem Besten deuten.“
„Guter, bester, teuerster Dom Cousin“, ergriff der tief berührte Dom Ranudo das Wort, „ungern lasse ich Euch ziehen, da ich Eure Gegenwart und die anregenden Gespräche mit Euch vermissen werde – dies zum Einen. Zum Anderen aber will ich Euch aber auch segnen und Euch eine gute und fährnislose Reise zu Eurem Pilgerziel wünschen. Ich hoffe, dass Ihr unter der Domna Rondra Segen Arivor gut erreicht und Ihr Euren Schwur dort erfüllen mögt.“
„Liebster Herr Vetter“, gab nun Firnislas seine Widerrede, „Eure Worte geben Euch als den Ehrenmann zu erkennen, der Ihr seid. Ihr seid wahrhaft eine Zierde Almadas. Almada kann sich glücklich schätzen, einen Magnaten von Eurer Tugendhaftigkeit und Frömmigkeit ihr Landeskind nennen zu dürfen. Darf ich Euch bitten, dass Ihr mir fürderhin erlauben wollt, Euch für einen Bruder anreden und halten zu dürfen?“ „Aber, lieber Dom“, Tränen waren in Ranudos Augen gestiegen, „wir waren doch bereits Brüder als wir uns trafen. Gerne, nur zu gerne, will ich in Euch meinen Bruder haben. Welch Ehre für mich und meine ganze Familia, mein lieber Bruder... Um so mehr schmerzt es mich freilich, dass ich nicht berichten kann, dass meine Creatur Manticco seine Aufgabe erfüllen konnte: Weder die Räuber, noch die Euch gestohlene Habe konnte er wiederfinden.“
Versöhnlich lächelnd vollführte Fürst Firnislas eine wegwischende Geste. „Ach, mein lieber Bruder. Ich gelobe, meine Rückreise über Ratzingen stellen zu wollen. Womöglich sind meine Habseligkeiten bis dahin wieder aufgetaucht oder ich werde mich selbst auf die Suche begeben. Mein Pilgerschwur duldet aber – wie bereits gesagt – keinen Aufschub, auch wenn mich so vieles an diesen Ort bindet. Doch um einen Gefallen will ich Euch bitten, ehe wir scheiden.“
„Jeden, mein Bruder, jeden!“, brach es aus Baron Ranudo ohne weiteres hervor.
„Ich hoffe, Ihr legt es mir nicht als übergroße Dreistigkeit aus, aber dürfte ich Euch gnädigst um einen Credit ersuchen. Die 2.500 Dukaten will ich ungeschmälert bei einem bornländischen Bancier in Kuslik einzahlen, damit in der Frage der Ablösung der Grafschaft Dawosny alles seine Richtigkeit hat... Aber bei dem Überfall wurde ich auch großer Teile meiner Barschaft beraubt. Nun ist das Reisen durch das Königreich Yaquiria nicht gerade günstig. Könnten Euer Hochgeboren, mein guter Bruder, mir doch den geringen Betrag von 300 Golddukaten horasischer Prägung als Credit geben? Zu einem Zinssatz von zehn Prozent, versteht sich.“
Der Gefallen erschien Dom Ranudo zunächst doch in Erstaunen zu versetzen. Derartige Geldgeschäfte schienen ihm missliebig zu sein. Schweigend saßen sich die beiden Brüder gegenüber. Schließlich begann Dom Ranudo eifrig zu nicken: „Keine Rede, mein teuerster Bruder. Ich werde Fürsorge tragen, dass das Geld morgen zur Morgenstunde für Eure Abreise bereit ist... und zu einem Zinssatz von fünf Prozent versteht sich.“ Zufrieden lächelnd lehnte sich Dom Ranudo zurück.
Ein letztes BoronsstündchenBearbeiten
Der dritte Tag des Namenlosen brach an. Praios sandte rosenrote Strahlen über das sich langsam erhellende Firmament. Nur die Blätter und Blüten, die in den zahlreichen Pfützen trieben, zeugten noch vom schweren Unwetter der letzten Nacht. Im Innenhof des Palacio Ippolito standen dreizehn Rösser bereit. Yppolita di Dalias y las Dardas, Caneya von Gurnabán und Quintiliano Tracodi sowie Tsaya de Quentulán, welche ihrem Lehensherrn die benötigten 300 horasischen Golddukaten für den Credit an Fürst Firnislas gebracht hatte, saßen bereits in ihren Sätteln und warteten. Sie sollten Fürst Firnislas bis Sherbeth Geleit geben. Dazu sollten sie von fünf Waffenknechten – allesamt Yppolitas und Tsayas handverlesene Gefolgsleute – begleitet werden.
Eine geschlagene Viertelstunde dauerte es, ehe Fürst Firnislas und Graf Ranudo sich derart ausgiebig verabschiedet hatten, dass sich tatsächlich trennen mochten. Als dieses große Werk vollbracht war, saßen Fürst Firnislas und sein Lakai Kolja auf. Mit zwei Packpferden und unter Geleit von neun bewaffneten Reitern verließen sie den Palacio Ippolito und schließlich auch die Landstadt Ratzingen, um auf der fast menschenleeren Weinstraße in Richtung Sonnenuntergang zu reiten.
Eingedenk der furchtbaren Namenlosen Tage ritten die elf Personen den meisten Teil des Tages schweigend nebeneinander über die staubige Weinstraße. Die Sonne brannte gnadenlos auf Mensch und Tier herab. Die Luft war unerträglich schwül. Ab und an flüsterten Caneya und Yppolita verschwörerisch miteinander, vom Lakai Kolja dabei argwöhnisch beobachtet. Nur kurz und leise wechselten Caneya und Kolja einige Worte miteinader. Rasch war man überein gekommen, die Abrechnung ohne allzu viele Augenzeugen am Abend vor Sherbeth machen zu wollen. Zu Mittagsrast und Boronsstündchen kehrten die beiden Pilger und ihr Geleit in der Taberna Alter Alferez am Wegesrand ein. Der schmerbäuchige Wirt, ein getreuer alter Haudegen, der für die Familia von Rebenthal einst Blut und Wasser geschwitzt hatte, zeigte sich zunächst störrisch, ließ sich aber gegen klingende Münze doch erweichen, der Reisegesellschaft aufzutischen und auszuschenken. Fürst Firnislas und Kolja speisten dort zwar nicht üppig, aber doch recht beachtlich – Oliven, Bargento, frisches Weißbrot, Hammelfleisch, Rebenthaler Ziegentaler, je eine Kelle Taladura, je einen Schlauch Wasser, Yaquirtaler Madawein, Arangen und drei Stück Punipan – für Summa summarum 3 Silbertaler, 2 Heller und 7 Kreuzer.
Am späten Abend erreichten die Reiter Sherbeth. Auf einem Hügelrücken lag der Gräfliche Markt eingebettet in Blumenwiesen und Obstplantagen. Verheißungsvoll wie der sich lustvoll räckelnde Khabla lag das kleine Städtchen dar, verhieß Schatten, Kühle und erfrischende Getränke. Von der Mitte des Ortes ragte der beachtliche Turm des Rahjatempels steil in den Himmel, der von Westen her kommend von einer düster-schwarzen Wolkenmasse bedeckt wurde. Das Gleißen der Praiosscheibe war nicht mehr zu sehen – das Licht war von der schwarzen Düsternis verschluckt worden. Mit ausgestrecktem Arm wies Caneya auf das Castillo Rebenthal, dessen rissige russgeschwärzte Ruinen sich dräuend über das Land erhoben.
„Von dort oben hat man einen formidablen Blick über den Grillenbusch. Den Grillenbusch im Frühsommer muss man einmal im Leben gesehen haben!“, rief Caneya ihrer Gefährtin Yppolita und Fürst Firnislas zu. Aus der Ferne war ein dunkles Grollen wie aus dem Schlund eines hungrigen Tieres zu hören.
„Domna Tsaya, Quintiliano, Sten, Ihr begleitet uns – Lupe reite Du mit den anderen schon einmal nach Sherbeth und seht Euch nach einem Gasthof um!“, befahl Yppolita der Reiterschar. Die Gruppe trennte sich.
Staub wirbelte auf. Die Reiter trieben ihre Rösser den sich windenden Pfad zum Castillo hinauf. Frischer Wind kam auf und trieb den Reitern Sand und Staub ins Gesicht. Das Grollen aus den Wolken wuchs näher heran. Die Wolkentürme im Himmel erinnerten an Ungeheuer, die auf Beute lauerten. Der Schweiß im Gesicht vermischte sich mit dem Staub zu einer klebrigen Masse. Trabend erreichten die Pferde die Vorburg. Schmierig lag der Russ auf allen Mauerstümpfen und den Türmen, die wie abgebrochene Zähne aus dem Kiefer eines Riesen ragten. Sten wurde mit den Pferden am Portal zurückgelassen. Hier fand sich ein Unterstand für die Pferde. Zuschauer und Zeugen waren von beiden Parteien nicht erwünscht. Zu Fuß mit prallen Satteltaschen schritten die Yppolita und Firnislas, Caneya und Tsaya, Tracodi und Kolja in die Hauptburg.
„250 Dukaten für mich, 250 Dukaten für Gerbald – zusätzlich zweimal 50 Dukaten für uns beide... das macht... das macht 600 Dukaten insgesamt“, rechnete Hagen den Anteil der Bornländer vor.
„Wie ich auch rechnen mag; ich komme nur auf 560 Dukaten“, grinste Caneya böse. Der Wind zerrte an ihrem Caldabreser, den sie mich der linken Hand fest auf ihren Kopf presste.
„560? Wie kommt Ihr denn darauf?... Domna?“
„Ein Zehntel für Hagen und... ein Zehntel für Gerbald – also zwei Zehntel von 2.800 Dukaten – so rechne ich. Was meint Ihr, Domna Yppolita, Señor Tracodi – Ihr seid doch der schlaueste Kopf von uns allen.“
„Das sehe ich auch so wie Ihr, Domna Caneya – eine vorbildliche Rechnung, die Ihr hier aufgemacht habt“, beschied Quintiliano Tracodi knapp. Der heftiger werdende Wind wehte Gerbalds Flüche weit über den Grillenbusch hinaus.
„Das könnt Ihr so nicht rechnen... es geht um die 2.500 Dukaten. Die 300 sind unser ehrliches Zubrot – zumindest nicht ehrlicher oder unehrlicher als... als Eure Betrügereien“, erwiderte Hagen mit zornig funkelnden Augen.
„Was heißt hier Betrügereien? Du bist der Halunke und Betrüger – nicht wir“, gab Yppolita knapp zurück.
„Die 300 Dukaten Credit gehen nicht in die Rechnung ein. Anonsten 560 Dukaten meinethalben – um die 40 Dukaten wollen wir nicht streiten.
Aber die 300 sind nicht Teil der Vereinbarung“, schrie Hagen gegen den Wind.
„Die 300 Golddukaten gehören zu der Summe Eurer Geschäfte in Ratzingen... wir bekommen von allem vier Fünftel“, lauernd beugte sich Yppolita nach vorne, „für die 300 gilt dasselbe wie für die 2.500 Dukaten.“
„Nein, unser Geschäft, unsere Abrede bezog sich nur... nur... ich wiederhole: nur und ausschließlich auf die 2.500 Dukaten. Nicht auf die zusätzlichen 300 Dukaten – die haben mit dem Ganzen nichts zu tun. Von irgendetwas müssen wir ja leben. Außerdem ist Euer Schnitt wahrlich nicht zu verachten, dafür dass wir die Arbeit gemacht und das Risiko getragen haben.“ Bekräftigend nickte Gerbald zu Hagens Vortrag. „Ihr beiden Galgenvögel glaubt doch nicht allen Ernstes, dass wir Euch mit... mit 800 oder 900 Dukaten von hier verschwinden lassen. Euer Anteil liegt bei 560 Dukaten – und bei keinem Heller oder Kreuzer mehr.“ Caneya wurde lauter. Zur Bestätigung ihrer Worte klopfte sie auf den Griffkorb ihres Rapiers und taxierte mit einem geringschätzigen Blick die Bewaffnung der beiden Gauner. Tsaya de Quentulán war feixend hinter ihre Waffenschwester Caneya getreten. Die Aussichten, dass dieser Tag blutrot enden würde, standen gut. Andere Wetten würde sie nun nicht mehr annehmen.
„Also gut, also gut“, Gerbald, der den ‚Kolja‘ gegeben hatte, hob beschwichtigend beide Hände, „es wird sich doch eine Lösung finden lassen. Wir sind doch allesamt vernünftige Leute, äh Domnas, nicht wahr? Nicht wahr, Hagen? – Sagen wir 650 Dukaten von den 2.800 für uns und wir sind quitt?“
Kopfschüttelnd blickte Hagen, der als ‚Fürst Firnislas‘ brilliert hatte, seinen Kumpan an.
„Du bekommst Deine 450 Dukaten von meinem Anteil, einverstanden, Hagen? Einverstanden?“, flehentlich schaute Gerbald zu Hagen auf. Dieser nickte schließlich zerknirscht.
„Warum sollten wir diesen Galgenvögeln überhaupt etwas abgeben?“, warf Tsaya unvermittelt von hinten in die Runde. Schneidende Kälte lag in der Stimme der jungen Frau mit den mädchenhaft hübschen Gesichtszügen.
Ein Blitz durchschnitt die Wolkendecke. Ein urtümliches Grollen ließ den Himmel erbeben. Die finster-schwarzen Wolken wölbten sich mittlerweile über Sherbeth und das in Ruinen liegende Castillo Rebenthal. Die beiden Parteien blickten sich einen Augenblick belauernd an. Noch ehe Hagen seinen Säbel ziehen konnte, bohrte sich Caneyas Rapier in seinen Oberarm. Hagen machte zwei Sätze nach hinten, wäre fast gestrauchelt, fast in die Tiefe gestürzt. Schmerz puliserte durch seinen Körper. Der Ärmel seines Hemdes färbte sich rot von Blut. Caballera Yppolita riss ihr Rapier aus der Scheide und trieb es fast ansatzlos in Gerbalds Leib. Stahl klirrte auf Stahl. Caneya wirbelte herum, tauchte unter einem Hieb Hagens hindurch. Mit urtümlicher Wucht schlug Yppolita Gerbald den Dolch aus der Faust und schmetterte daraufhin den Griffkorb ihrer Waffe in Gerbalds Gesicht. Knochen brachen und Blut strömte aus der Nase. Geschickt entzog sich Hagen Caneyas lehrbuchmäßigen Attacken nach hinten. Weiter weg. Er wollte Abstand gewinnen. Tsayas Rapier blitzte auf und tauchte von schräg hinten tief in Hagens Brustkorb ein. Blut gurgelnd sackte Hagen zusammen. Mit einer beiläufigen Bewegung schnitt Yppolita die Kehle des in die Kniee gebrochenen Gerbald auf. Er fiel nach vorne. Sein Blut quoll auf die Satteltaschen mit den Golddukaten.
Das Unwetter war nun direkt über dem Castillo. Blitze zerschnitten die Finsternis. Das Grollen des Donners durchbebte die Caballeras: Das Tier hatte sich auf seine Beute gestürzt. Hagel prasselte auf das Castillo herab. Unter Mauervorsprüngen und in Nischen suchten die vier Yaquirtaler Schutz vor den Urgewalten.
„Wenn sich das Gewitter gelegt hat, müssen wir die beiden ausziehen, ihre Kleidung und sonstige Habe vernichten! Wir sollten zudem Sorge tragen, dass ihre Gesichter...“, mühte sich Quintiliano Tracodi vergeblich das Wüten des Sturmes und das Grollen des Donners zu übertönen.
Quintiliano Tracodis SchlussrechnungBearbeiten
2.799 Dukaten, 1 Silbertaler, 7 Heller, 3 Kreuzer (hievon 300 Dukaten Vinsalter Prägung)
an die wohlgeborene und ehrenfeste Caballera Caneya: 400 Dukaten (hievon 50 Dukaten V.P.)
an die wohlgeborene und ehrenfeste Caballera Tsaya: 325 Dukaten (hievon 50 Dukaten V.P.)
an den ehrbaren Secretario Quintiliano Tracodi: 155 Dukaten
an den festen Sten Helmdahli: 25 Dukaten
an die vier wackeren Mercenarios à 10 Dukaten – Summa: 40 Dukaten
an die liebholde Lakaiin Alisea: 15 Dukaten
Summa summarum: 960 Dukaten
es restieren für die wohlgeborene und höchst ehrenwerte Caballera Yppolita:
1.839 Dukaten, 1 Silbertaler, 7 Heller, 3 Kreuzer (hievon 200 Dukaten V.P.)
Es bleibt an der wohlgeborenen und höchst ehrenwerten Caballera Yppolita von ihrem Bruder Seiner Hochgeboren zu fordern: 2.499 Dukaten, 5 Silbertaler
Es bleibt an der wohlgeborenen höchst ehrenwerten Caballera Tsaya von Seiner Hochgeboren zu fordern: 300 Dukaten, horasischer Prägung
Summa: 2799 Dukaten 5 Silbertaler (300 Dukaten hievon Vinsalter Prägung)
Es fehlen: 3 Silbertaler, 2 Heller, 7 Kreuzer – letztes Mahl für zwei tote Männer (requiescant in Borone)
Der bornländische Graf: EpilogBearbeiten
Zwei Wochen später in irgendeiner Taverna in den Madahöhen
Caneya von Gurnabán, Caballera de Dos Puentes, saß im Schatten einer alten Platane und sah gedankenverloren auf ein Spielbrett für Rote und Weiße Kamele. Es war sein Lieblingsspiel gewesen. Er hatte es ihr beigebracht. An einem Weinbecher nippend schob sie ein rotes Packkamel zur Oase. Er hatte immer die weißen Kamele gehabt. Das Helle, das Lichte war stets das Seine gewesen. Die Terrasse der Taverna war fast ganz menschenleer. Für das Boronsstündchen war es mittlerweile zu spät – für das abendliche weinselige Zusammensein zu früh.
Sie blickte nicht auf, als sich ein Mann in verstaubtem Mantel näherte. Mantel und Caldabreser legte dieser mit übergroßer Sorgfalt über einen Stuhl. Ohne ein Wort des Grußes nahm er gegenüber der Caballera Platz und orderte einen Becher Wein und ein Schälchen Oliven.
„Das sieht überhaupt nicht gut aus, für die roten Kamele...“, wandte er sich an die Caballera. Bitter lächelnd sah sie auf: „Es sah nie gut aus für die Roten... die Weißen haben meist gewonnen. Ich kenne das Spiel nicht anders. Kann mir nicht vorstellen, dass es einen anderen Ausgang nimmt.“ Caneya schob ein weißes Kampfkamel vor – schon wieder verloren die Roten eine wichtige Karawanenroute.
Der Neuankömmling legte seine rechte Hand auf ihre Linke. Er blinzelte lächelnd gegen das Praioslicht, das durch das Blätterdach der Platane fiel: „Was ist eigentlich in Ratzingen geschehen? Ich habe von den beiden nichts mehr gehört... sind sie...?“
„Ich persönlich habe Hagen – oder Firnislas – abgestochen. Ja, sie sind beide tot.“
Der Mann zog seine Hand zurück. „Aber warum, Domna? Ich dachte, Ihr würdet eine schützende Hand über dieses Vorhaben halten – seinetwegen. Ich dachte, Ihr habt alles gebilligt.“
„Da war nichts mehr zu retten“, Caneya schob ein rotes Kamel in eine Oase, „der junge Tracodi hat Domna Yppolita und mir eröffnet, dass er das Spiel durchschaut hat. Hätte ich nicht gehandelt, wäre Tracodi zu Dom Ranudo gegangen. So oder so. Das Spiel für die beiden war ausgespielt. Und wäre es so gekommen, hätte Alvaro am Ende noch erfahren, dass Ihr davon wisst, Señor, dass Ihr den beiden Halunken entsprechende Informationes über die Familia di Dalias gegeben habt. Doch so weiß Dom Ranudo noch nichts: Er denkt immer noch, er sei nun ein sewerischer Graf... Alvaro Manticco wird ihm diesen Zahn sicher früher oder später ziehen. Ihr hattet diesen Hagen wirklich sehr gut unterrichtet. Ich hätte ihm den Fürsten abgenommen, wenn ich es nicht besser gewusst hätte. Euer Plan ging zwar nicht so auf, wie Ihr dies wolltet. Aber Ihr steht nicht ganz ohne Erfolge dar: Domna Yppolita hat sich gegen ihren Bruder und Soberan gestellt und ihn hintergangen... und hier habt Ihr 120 Dukaten von meinem Anteil an der Beute.“ Caneya legte einen prall gefüllten Beutel auf den Tisch.
Schweigend betrachte der Reisende den Beutel für eine Weile. Es arbeitete in ihm. Schließlich fuhr er sich mit der Hand über den Stoppelbart und begann schallend zu lachen. „Nun, Domna Caneya“, raunte er ihr wieder ganz beherrscht leise zu, „für einen Augenblick, dachte ich, Ihr hättet ihn vergessen, vergessen, was er für Euch getan hat, was Ihr ihm bedeutet habt, vergessen, wer die rechtmäßige Erbin von Dalias ist.“ Er legte seine Hand nochmals auf die Ihre und drückte sie fest, während er ein leises „Danke“ murmelte.
„Wir sollten uns vorerst nicht mehr treffen... und Ihr solltet mir auch nicht mehr schreiben, Hillero. Dom Ranudo und der Hundsfott Manticco trauen mir ohnehin nicht. Vorerst solltet Ihr in Punin bleiben. Bitte lasst dort in einem Tempel ein paar Kerzen anzünden für meinen Geliebten, auf dass Boron und Praios sich seiner Seele erbarmen mögen. Wenn es etwas zu bereden gibt und es sicher ist, komme ich zu Euch... Seid Ihr immer noch bei dieser Zelfira?“
Stumm nickte Hillero Camerario ihr zu. Der alte Majordomus Dom Gualdos gab sich einen Ruck, erhob sich, packte seinen Reitermantel und Caldabreser und schritt davon.
Caneya ließ ihren Blick über das Spielbrett wandern. Die weiße Partei hatte eine wichtige Route übersehen, war zu forsch und aggressiv vorgegangen; das Ganze war nicht mehr zu drehen. Weiß hatte verloren. Mit energischer Geste wischte sie die Spielfiguren vom Brett. Tränen stiegen in ihre Augen. Etwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie schluchzte auf, vergeblich rang sie um Fassung. Sie sehnte sich nach seinen Lippen, seinem Duft und dem Pulsieren seines Herzens. Nach den kleinen Augenblicken des Glücks, wenn er ihr lächelnd ins Ohr flüsterte, dass er sie liebe.
- ↑ Hier freilich irrt Fürst Firnislas: Der genannte erfolglose Aufstand gegen Kaiser Alrik ereignete sich im Jahr 692 und nicht 688 BF.