Chronik.Ereignis1033 Feldzug Ragath 08
Ragath, 28. Rondra 1033 BF, vormittags[Quelltext bearbeiten]
Im Gasthaus Almadaner Stuben im Weberviertel[Quelltext bearbeiten]
Autor: von Scheffelstein
Dulcinea di Alina blickte aus dem offenen Fenster auf die sonnenbeschienenen Dächer der Reichsstadt Ragath. Warmer Wind blähte die Vorhänge, und aus der nahen Garnison der Ragather Schlachtreiter hallten die Rufe eines Offiziers und Waffengeklirr herüber. Wahrscheinlich waren es nur die jungen Rekruten, die noch in der Stadt weilten. Das Heer des Kaisers nämlich war schon vor über einer Woche nach Selaque aufgebrochen, um die Wilden aus der Ebene zu vertreiben.
Vielleicht würde der Marschall auch die Freilassung ihres Vaters aus Domna Praiosmins Verließ anordnen. Eigentlich wäre es Dulcineas Pflicht gewesen, Hilfe zu holen, denn mit welchem Recht hielt die alte Reichsvogtin Ordonyo di Alina fest? Nachdem die Vogtin sie aus ihrem Castillo geworfen hatte, war Dulcinea auch fest entschlossen gewesen, nach Ragath oder gar Punin zu ziehen, um Söldner anzuheuern und es dieser fetten Pute zu zeigen!
Doch nach der ersten Nacht in einer verlausten Selaquer Taberna war ihr aufgegangen, dass sie mittellos nicht weit kommen würde. Und so war sie zunächst ein paar Tage in Selaque geblieben und hatte sich mit Boltanspielen so manchen Taler verdient. Die Taler aber hatten für kaum mehr als Wein und Unterkunft und ein karges Mahl des abends gereicht. Und als man sie beim Falschspielen erwischt hatte, hatte sie die Taberna und den Markt Selaque Hals über Kopf verlassen müssen.
Weiter war sie gezogen nach Ragath, das ihr ein besseres Pflaster schien für Glücksspiel und auch so manches Kunststück mit Karten und gezinkten Würfeln. Wahrlich, in Ragath hatte sie bald ein hübsches Sümmchen verdient gehabt. Doch Söldner waren teuer, und sie wusste nicht, wo sie nach ihnen fragen sollte. Und hatte ihr Vater nicht gesagt, der Sforigan, der Söldnervogt der Stadt, stehe aufseiten ihrer Feinde?
Gewiss war es klüger, einen guten Plan zu ersinnen, wie sie ihren Vater aus dem Castillo Albacim befreien konnte. Und wie ließ sich besser denken als bei einem guten Wein? Einem Krug nur. Oder zweien. Und weil es so schwierig war mit den Söldnern und der Domna Praiosmin vielleicht noch einem dritten Krug.
Und so war das bescheidene Vermögen, das sie angehäuft hatte, bald dahingeschmolzen, und der Wein hatte ihre Sinne getrübt, und das eine oder andere Mal hatte sie verloren, auch, weil man bereits wieder Verdacht zu schöpfen begann, dass sie nicht ehrlich spielte, und sie nur noch ab und an gewagt hatte, ihre gezinkten Würfel zu verwenden oder einen Fürsten, Magier oder ein Ass aus dem Ärmel zu zaubern.
Vor zwei Tagen aber, vor zwei Tagen hatte sie einen Traum gehabt. Am Abend hatte sie mit ein paar Fahrenden aus dem fernen Gareth Fünf aus Sieben gespielt, und die Fahrenden hatten von der Kaiserstadt berichtet, in der es mehr Menschen gäbe als in ganz Almada – hatten die Fremden jedenfalls behauptet.
Und dann, in der Nacht, hatte Dulcinea sich in der Stadt gesehen: Häuser, so weit das Auge reichte, Menschen und Pferde und Hunde und Katzen, mehr als sie zählen konnte. Goldene Dächer, Prunkstraßen, Kutschen und Wasserträger, weite Plätze und enge Gassen, wundersame Gerüche auf den Märkten, exotische Speisen in den Tabernas. Und das Beste war: Gold, Gold, Gold in jeder Börse, so viel Gold, das nur darauf wartete, die Besitzerin zu wechseln, Gold, das sich beim Glücksspiel gewinnen ließe, Gold, das sie vielleicht dem einen oder anderen unachtsamen Passanten aus der Tasche stibitzen konnte, wenn sie ein wenig übte. Und wo sonst sollte ihr das Üben leichter fallen als in einer so unüberschaubaren Menschenmenge, wie es sie in Gareth wohl in jeder Gasse gab?
Bald schon hatte Dulcinea sich im Traume reich gewähnt, war in Brokatwams und feinen Stiefeln über das Pflaster geschritten, einen prächtigen Caldabreser auf dem Haupt, einen schmucken Degen an ihrer Seite.
Eines nur war seltsam gewesen: Die Männer und Frauen, die ihr auf den Straßen begegnet waren, hatten die Hüte vor ihr gezogen, die Damen hatten geknickst und ihr Kusshände zugeworfen und scheu gekichert, die Herren aber hatten sich verneigt mit den Worten: "Phex gegrüßt, Herr Junker!"
Herr Junker? Was zum Namenlosen sollte das nun heißen? Missgestimmt blickte Dulcinea an sich herab, wie sie da auf ihrem Bette in der schmalen Kammer der Almadaner Stuben im Weberviertel Ragaths saß. Selbst den Garethern also war sie nicht Frau genug, dabei hatte Dulcinea selbst schon Händlerinnen aus dem Norden gesehen, die flach waren wie die Elentinische Ebene und hässlich wie Ferkina-Weiber!
Wütend riss sich Dulcinea das Hemd über den Kopf und starrte in den Messingspiegel, den sie vor einer Woche einer Kaufmannstochter beim Spielen abgeluchst und über der Waschschüssel aufgehängt hatte. Wahrlich, das Wesen, das ihr da aus dem Spiegel entgegen sah, war weder Frau noch Mann. Zu flachbrüstig für eine Dame, zu geschminkt für einen Herrn, selbst wenn man ihn für einen Yaquirtaler hielte, zu schlaksig selbst für einen Knaben, zu dürr für eine erwachsene Frau. Gerade so, als könne ihr Körper sich nicht entscheiden, ob er der eines Mannes oder der einer Frau sein wollte. Gerade so, dachte sie, als habe ihr lieber toter Zwillingsbruder seinen Teil des Lebens von ihr gefordert, von ihrem Leib – und ihrer Seele.
Ein plötzlicher Gedanke ließ Dulcinea lächeln. Vielleicht war sie stets so unglücklich gewesen, weil sie gar nicht Dulcinea war! Vielleicht hatte nur Dulcineas Leib überlebt, während ihre Seele für ihren Bruder gestorben war – und bei Dulcineo war es umgekehrt gewesen! Vielleicht war sie Dulcineo, nur gefangen im Leib ihrer – seiner? – Schwester?
Lächelnd legte Dulcinea ihre Hand an ihren Geldbeutel, in dem sie Dulcineos Botschaft aufbewahrte. "Für meine geliebte Schwester", sagte sie. Ja, selbst ihre Stimme war weder die eines Mannes noch die einer Frau, zu tief und rau für eine Dame - wenn sie nicht gerade in Panik kreischte -, nicht tief genug für einen Mann: Mehr klang sie wie ein Knabe an der Schwelle zum Mannesalter.
Dulcinea seufzte und betastete die Kette aus bunten Steinen, die sie aus dem Castillo da Vanya entwendet hatte und von der sie sich einredete, es sei ein Geschenk ihres Bruders an sie. Oder hatte sie die Kette ihrer Schwester geschenkt? War sie nun die Schwester oder der Bruder?
"Dulcineo", sagte sie zu ihrem Spiegelbild, runzelte die Stirn. Armer Dulcineo! So sah doch kein Mann aus! Dulcinea zerrte das Laken vom Bett und riss es in Streifen. Dann band sie es sich um die Brust, bis es aussah wie der Verband eines im Kampf Verwundeten. Brüste waren nicht mehr zu sehen, nicht einmal mehr zu erahnen. Besser!
Sie tauchte die Hände in die Waschschüssel und schrubbte sich Lippenrot und Augenruß aus dem Gesicht, dann kämmte sie ihr Haar, scheitelte es, schnitt mit dem Dolch eine Handbreit ab und flocht den Rest zu einem kurzen Eslamszopf, wie die Höflinge ihn trugen, und verschnürte ihn mit einem Lederband. Sie löste die Ohrringe, die zu groß für die eines Mannes waren, von ihren Ohrläppchen, schnitt den Kragen ihres Hemdes ab, der ihr zu damenhaft schien, löste das Band aus ihrem Mieder, sodass sie es wie eine Weste tragen konnte und kleidete sich wieder an. Kritisch betrachtete sie sich im Spiegel. Viel besser! Und doch würde sie neue Kleider brauchen, eine Waffe und neue Stiefel vielleicht.
Dulcinea kramte ihre wenigen Habseligkeiten zusammen und stopfte sie in das Tuch, das ihr in Ermangelung einer Tasche einstweilen als Behältnis dienen musste, bis sie Geld hatte, sich etwas Besseres, Standesgemäßeres zu kaufen. Sie schulterte das Bündel und blickte noch einmal in den Spiegel. Ob sie die Kette mit den Steinen ablegen sollte? Oh nein, das war ein Geschenk! Ein Geschenk, das sie – dass er? – von ihrem ... – nein für seine Schwester angefertigt hatte!
"Ihr müsst wissen, meine Herren", sagte sie mit bedauerndem Lächeln zu ihrem Spiegelbild, "dass meine arme Schwester Dulcinea leider nie auch nur das Kindesalter erreichte. Sie starb, damit ich leben konnte. Als Knabe fertigte ich ihr diese Kette an und eine weitere, die ich in der Erde ihres Grabes vergrub, Boron möge es mir verzeihen, sodass sie ein Andenken von mir hat, dass sie weiß, dass sie stets bei mir ist in meinen Gedanken, meine geliebte kleine Schwester. Mein Großvater sagte stets, ich dürfe dankbar sein, dass sie gestorben sei, sie habe ihr Leben für mich gegeben, ebenso wie unsere arme Mutter, und Ihr könnt gewiss sein, meine Herren, dass ich dankbar bin und ihrer stets mit all meiner Liebe gedenke."
Staunend blickte Dulcinea den jungen Mann an, der dort im Spiegel so freundlich über sie sprach. Noch nie hatte jemand mit solcher ehrlichen Liebe von ihr gesprochen, und seine Worte rührten sie zu Tränen. Auch Dulcineo lief eine Träne über die Wange, so war er, ihr lieber Bruder, so romantisch! - aber eben auch ein Mann, und deshalb wischte er die Träne fort und lachte.
"Nun ist es aber genug, Schwester", sagte er und zwinkerte ihr zu. "Weine nicht, ich ziehe aus, um mein Glück zu suchen und werde im fernen Gareth dem Namen unserer Familia alle Ehre machen! Und wenn ich wiederkehre, werde ich dein Grab besuchen und dir von all den Abenteuern berichten, die ich in der Fremde erleben werde. Wisse aber, dass ich dich im Herzen immer bei mir tragen werde, und dein Angedenken ist mir das Teuerste Almadas, das ich mit mir nehme."
Er lächelte und warf Dulcinea eine Kusshand zu und neigte huldvoll den Kopf. "Adios, meine liebe kleine Schwester!", sagte er.
Und damit drehte Dulcineo Rigoroso di Alina sich um, verließ seine Kammer, verließ die Almadaner Stuben, verließ Ragath und schritt schon bald strammen Schrittes, ein fröhliches Lied auf den Lippen, der Grenze des Königreichs entgegen.
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