Chronik.Ereignis1032 Die Herren von Pildek 16

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Baronie Pildek, Mitte Rahja 1032 BF[Quelltext bearbeiten]

Auf Maldianas Hof nahe Carhag-Lo und auf der Straße nach Endivarol[Quelltext bearbeiten]

Autor: Von Scheffelstein

Die Söldner[Quelltext bearbeiten]

Nado konnte nicht schlafen. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her, setzte sich auf, legte sich wieder hin, zog sich die Decke über den Kopf. Schließlich setzte er sich auf die Bettkante, stützte das Kinn auf die Hände und blickte auf die sich vor dem offenen Fenster abzeichnenden Umrisse seiner schlafenden Mutter. Nein, nicht seiner Mutter: der Frau, die er sein ganzes Leben als seine Mutter angesehen hatte. Die ihn großgezogen hatte. Die er liebte. Aber die, wenn er Jago glauben durfte, nicht seine Mutter war. Und er hatte keinen Grund, an Jagos Worten zu zweifeln. Jago log nicht, am allerwenigsten, wenn er wütend war.

Nado stand auf und ging in die Küche, entzündete eine Kerze und setzte sich an den Tisch. Gedankenverloren fuhr er mit den Fingern über das speckige Holz, die dunklen Flecken in der Mitte der Tischplatte, die Kerben, die er als kleiner Junge in die Kante geritzt hatte. Alles, was gestern noch vertraut war, schien plötzlich fremd. Nado zog einen Krug heran, trank aber nicht, sondern betrachtete stattdessen sein eigenes Gesicht, das sich in der dunklen Flüssigkeit spiegelte. Maldonado. Vinyaza hatte gesagt, der Name bedeute so etwas wie „die schlechte Gabe“ und man bezeichne hässliche oder auch unerwünschte Kinder damit. Nado musterte das Gesicht, das ihm aus der Tiefe des Kruges entgegensah. Das halblange, dunkle Haar, die dunklen Augen unter den dichten Brauen, die breite, gerade Nase, die kurzen, vollen Lippen. Ein männliches Gesicht und doch nicht zu markant. Nein, fand er, hässlich war er nicht. Ob seine Mutter ihn nicht gewollt hatte? Wer: Maldiana? Hatte sie ihn so genannt? Aber hatte sie nicht immer gesagt, wie sehr sie ihn liebte? Oder – seine wahre Mutter, wer auch immer das war? Ob sie tot war? Oder noch lebte? Dachte sie manchmal an ihn? Oder hatte sie ihn längst vergessen?

Nado stand auf und begann, in der Küche auf und ab zu gehen. Eigentlich konnte es ihm gleichgültig sein, ob er ein Findelkind war oder nicht. Er gehörte hierher. Jago, Fuocco und Batistar hatte er immer als seine Brüder angesehen, seine Schwestern immer als seine Schwestern, Maldiana immer als seine Mutter. Hätte er zu einem anderen Zeitpunkt unter anderen Umständen von seiner Herkunft erfahren – vielleicht wäre es ihm egal gewesen. Jetzt aber nagte das Wissen an ihm, fremd zu sein. So vieles hatte sich während der letzten Wochen ereignet. Erst hatte Vinyaza ihn verlassen, dann hatte er das Stierreiten beim Trigorner gewonnen. Er hatte Esperanzada kennengelernt – und verloren. Talfan und Batistar waren tot. Die Söldner hatten ihn beauftragt, die Zahori zu töten und die Zahori hatten ihm angeboten, die Bauern gegen die Söldner zu unterstützen, wenn er sich auf ihre Seite stellte.

Die Zahori! Jagos Antwort auf die Frage nach seiner Mutter fiel ihm wieder ein. Vielleicht, hatte er gesagt, sei sie eine Zahori gewesen. War er ein Zahori? Hatte Valdemora Silfide ihn deshalb nicht getötet? Unsinn! Woher sollte sie um seine Herkunft wissen? Und selbst wenn er ein Zahori war: Es gab so viele verschieden Sippen, und dass sie nicht alle miteinander befreundet waren, hatte er selbst gemerkt. Schließlich hatten die Cruento ...

Eine plötzliche Erinnerung ließ Nado innehalten. Da war diese alte Frau gewesen bei den Cruento, die Mutter der Mhanah. Sie hatte ihn mit jemandem verwechselt. An den Namen konnte er sich nicht erinnern, verdammt! Aber er sah die Alte genau vor sich, wie sie nach seiner Hand gegriffen, wie sie ihn angesehen hatte. Und dann hatte sie gefragt, ob er der Sohn des Mannes sei, für den sie ihn gehalten hatte. Und er hatte geantwortet, dass sein Vater tot sei. Was, wenn die Alte doch nicht so verwirrt war, wie er geglaubt hatte? Was, wenn sie wusste, wer sein Vater war?

Nado fuhr sich mit beiden Händen ins Haar und starrte in den Krug. Wie wahrscheinlich war das? Andererseits: Welchen Hinweis hatte er sonst auf seine Eltern? Der junge Mann legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Dann ging er zurück in die Schlafkammer und zog sich an. Er musste mehr erfahren!

Zu Fuß – das Pferd war tot – machte Nado sich auf den Weg zum Lager der Cruento-Zahori. Es regnete nicht mehr, aber die Straße war aufgeweicht, und in der Dunkelheit musste er achtgeben, nicht in ein Loch zu treten und zu stolpern. Es war weit nach Mitternacht, als er Carhag-Lo erreichte. Von hier aus war es noch eine gute halbe Stunde die Straße entlang und dann in den Wald hinein. Nado zählte die Gehöfte, an denen er vorbeikam, um die Entfernung abzuschätzen. Es war mehrere Wochen her, dass er mit Rinaldo hier gewesen war, und weiter als bis Carhag-Lo kam er sonst selten.

Der Wald zu seiner Rechten schien sich endlos hinzuziehen. Das letzte Gehöft lag schon eine Weile hinter ihm, aber einen Weg konnte Nado nicht entdecken. Ob er zu weit gegangen war? Fluchend drehte der junge Mann sich um und schaute die Straße zurück. Es war finster. Allein die Baumwipfel zeichneten sich schwarz vor dem nächtlichen Himmel ab. Nado beschloss, noch ein wenig weiterzugehen. Er würde genau achtgeben müssen, um eine Lücke zwischen den Bäumen auszumachen.

Als er sich umdrehte, erschrak er. Nicht allzu weit entfernt konnte er flackernden Lichtschein ausmachen, der rasch näher kam. Was er zunächst für Wasser gehalten hatte, das von den Blättern tropfte, erkannte er bald als eilige Hufschläge auf der morastigen Straße.

Wer ritt zu dieser Stunde durch die Nacht? Nado sah sich nach einem Versteck um. Links des Weges erstreckte sich eine Weide. Rechts war der Wald. Doch Büsche und Sträucher versperrten Nado den Weg zwischen die Bäume. Der junge Mann rannte die Straße zurück, aber es wurde nicht besser. Das Hufgetrappel wurde lauter, die Reiter ritten schnell. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm, dass sie zu dritt waren, der Mittlere hielt eine Fackel. Kurzerhand sprang Nado über den Weidenzaun und warf sich ins Gras. Vielleicht achteten die Reiter nicht zu genau auf den Weg.

Doch weit gefehlt! Die Pferde kamen näher, waren aber langsamer geworden. Nado konnte nun auch Stimmen hören.

„Ich schwör’ dir, da ist einer gelaufen!“, sagte ein Mann,

„Schwachsinn. Mitten in der Nacht.“ Eine Frauenstimme.

„Eben“, sagte ein Dritter. „Du siehst schon Gespenster im Dunkeln. Da war nichts.“

„Dass du nichts siehst, wenn du die Fackel hältst, ist mal klar“, knurrte der Erste.

Die Pferde hatten die Stelle fast erreicht, an der sich Nado hinter den Zaun duckte.

„Vielleicht ein Hirsch oder sowas“, sagte die Frau. „Wenn schon!“

„Das war kein Hirsch!“, sagte der erste Mann. „Bei Kor! Hast du vergessen, was der Condottiere gesagt hat? Wenn noch einmal ein Zahori es wagt, in der Nähe des Lagers rumzuschleichen, dann ist er dran.“

Mercenarios! Oh, scheiße!, dachte Nado.

„Der hat auch gesagt, wir sollen bis Morgengrauen in Pildek sein. Los jetzt!“ Die Frau ritt an Nados Versteck vorüber.

„Gib mir die Fackel!“, sagte der erste Mann.

„Da ist nichts“, sagte der zweite.

„Wenn ich’s doch sage? Willst du dir einen Zahori entgehen lassen?“

Der Mann mit der Fackel lachte rau. „Wenn du einen Zahori findest, küss’ ich dir den Arsch. Wenn du keinen findest, darf deine Kleine mir mal den Schwanz lutschen!“

„Halt’s Maul!“, knurrte der erste Söldner, aber sie schienen die Fackel zu tauschen. Einer der Männer ritt an Nado vorüber, der andere aber ritt in die entgegengesetzte Richtung zurück.

„Hey!“, rief die Frau. „Was soll der Scheiß?“

Der Söldner, der jetzt das Licht hatte, antwortete nicht. Nado überlegte, ob er aufspringen und über die Weide davonlaufen sollte. Wenn er Glück hatte, sahen die Mercenarios ihn nicht. Wenn er noch mehr Glück hatte, waren sie selbst laut genug, ihn nicht zu hören.

„Verdammte Scheiße, Adelmo!“, rief die Frau. „Wir haben Besseres zu tun!“ Sie kam zurückgeritten und passierte abermals Nados Versteck, ohne ihn zu beachten. Auch der zweite Söldner kam wieder näher, hielt aber sein Pferd an.

Adelmo und die Frau stritten. Offenbar hatte die Frau das Sagen, denn sie befahl jetzt das Weiterreiten, und kurz darauf kam sie ein drittes Mal an Nado vorbei. Adelmo näherte sich fluchend.

Der dritte Söldner lachte. „Mein Alrik freut sich schon auf deine Dunya ...“

„Halt die Fresse!“, fauchte Adelmo und hielt nur wenige Schritt hinter Nados Versteck an, um die Fackel zu übergeben. Ein Moment des Schweigens trat ein. Dann pfiff einer der Männer durch die Zähne.

„Hol dich der Namenlose, Adelmo! Da liegt einer!“

„Wo?“

Es platschte, als einer der Söldner vom Pferd sprang. Nado zögerte keinen Moment. Er sprang auf und rannte in die Dunkelheit.

„Da läuft er!“

„Halt!“

Nado hielt nicht an. Er rannte. Hinter ihm schwang sich jemand über den Zaun. Schwere Schritte teilten das Gras. „Dich krieg’ ich!“ – Nado sah sich nicht um. Er lief, so schnell er konnte, und bald hatte er das Gefühl, den Söldner abzuhängen. Die Schritte hinter ihm wurden leiser. Trotzdem rannte Nado weiter. Vereinzelt tauchten Bäume aus der Dunkelheit auf. Die Weide führte ein wenig bergan – auch das noch! Erstmals wagte der junge Mann einen Blick über die Schulter – und das Herz rutschte ihm in die Hose. Zwei Reiter kamen über die Wiese geprescht, der Fackelträger und die Frau!

Er hatte nicht einmal mehr die Zeit, sich nach einem Versteck umzusehen oder nach etwas, das er als Waffe benutzen konnte. Das Pferd der Frau stürmte heran, ein Stiefel traf Nado an der Schulter – der unversehrten diesmal – und er stürzte zu Boden. Ehe er sich wieder aufrappeln konnte, war der Fackelträger heran, und Nado spürte dessen harten Absatz in seinem Nacken.

„Sieh an, sieh an, eine Zahoriratte“, sagte der Söldner. „Ich fress’ meinen Hut!“ Auch die Frau stieg nun ab. Der Söldner packte Nado am Kragen und riss ihn in die Höhe. Mit der Fackel leuchtete er dem jungen Mann ins Gesicht. „Kenn ich nicht“, stellte er fest.

„Aber ich!“, sagte die Frau und griff um Nados Kinn. „Ist kein Zahori!“

„Nein?“, fragte der Söldner und lachte dann. „Haha, Pech gehabt, Adelmo!“

„Du kleiner Scheißer!“, sagte die Frau und drückte Nado mit dem Rücken an einen Baumstamm. „Glaubst, uns verarschen zu können, was?“

Jetzt erkannte Nado sie auch: Die Oger-Elfe! Die Vertraute des Condottiere! Wie viel Pech konnte ein Mensch haben? Sie merkte, dass er sie erkannt hatte und nickte. Dann schlug sie ihm unvermittelt mit dem Handrücken ins Gesicht. Nados Kopf flog seitlich gegen den Baumstamm. Sein Schädel dröhnte. Blut lief ihm über die Wange. Adelmo kam heran geritten und sprang neben seinem Pferd ins Gras. An eine Flucht war nicht mehr zu denken. Die eiserne Hand der Frau riss seinen Kopf herum und zwang ihn, sie anzusehen. „Drei meiner Frauen haben die Zahori auf dem Gewissen. Du hattest einen Auftrag!“

„Sag bloß, das ist der Kerl?“, fragte Adelmo.

„Kein Zahori!“, frohlockte der Fackelträger.

„Hat sich mit den Zahori verbrüdert!“, sagte die Frau. „Statt zu tun, was er sollte.“

„Es ist eine Taktik“, erklärte Nado, bemüht lässig, und spuckte das Blut aus, das ihm in den Mund lief. Die Gedanken rasten in seinem Kopf. Was sollte er nur sagen?

„Ach, eine Taktik?“, lachte der Fackelträger.

„Ja“, sagte Nado und sah nun den Söldner an. „Sobald sie sich in Sicherheit wiegen, komme ich an sie ran ...“

„Weicheier“, sagte die Frau. „Fortezza kann Weicheier nicht ausstehen.“

„Ich bin kein ...“

Das Knie zwischen seinen Beinen raubte Nado die Luft. Stöhnend krümmte er sich, da traf ihn die Faust der Frau unter dem Kinn und warf ihn auf den Rücken.

„Drei meiner besten Leute“, zischte sie. „Tot. Und wer hat die Zahori aufgemischt?“

„Ich ... ich ...“ Nado konnte nicht sprechen.

„Du? Ja, du! Du gibst es auch noch zu?“

Abwehrend hob Nado die Hand. Der Stiefel der Frau fegte sie hinweg und traf ihn am Brustbein. „Der ist für Maqueda!“

„Madalya, vielleicht sollten wir ihn lieber zum Condottiere bringen?“, mischte Adelmo sich ein. Die Söldnerin hörte nicht auf ihn. Ihr Fuß traf Nado mit aller Wucht in die Seite, seine Rippen brachen. „Der ist für Luciana!“

Verzweifelt hob der junge Mann die Hand. Er wollte etwas sagen. Sie sollte aufhören! Er wollte wegkriechen! Seine Glieder gehorchten ihm nicht. Der Schmerz versagte ihm die Stimme.

„Madalya, meinst du nicht, dass der Condottiere ihn selber haben will?“

Hoffnung keimte in dem jungen Mann auf, als die Söldnerin sich Adelmo zuwandte. „Erledigt ist erledigt“, sagte sie. „Wir haben unseren Auftrag. Keine Zeit für Spielchen.“

„Dann lass uns gehen“, sagte Adelmo. War es Mitleid, das aus seinen Augen sprach?

Madalya riss Nado in die Höhe. Leblos hing er in ihren Armen, seine Füße berührten kaum den Boden. „Meine Schwester“, sagte sie. „Sie haben meine Schwester umgebracht!“

Nado wollte sagen, dass er nichts damit zu tun hatte. Dass auch er einen Bruder verloren hatte. Und ... und noch wen? Er konnte sich nicht erinnern. Sah das Gesicht der Zahori vor sich. Sie hatte ihm etwas von dem Mädchen erzählt. Welchem Mädchen? Seine Mutter war traurig gewesen. Was war mit seiner Mutter? Wer war die Frau da? „Meine Schwester!“, sagte sie. Weinte sie? Dunkelheit umfing Nado. „Lass ihn!“, sagte jemand. Ein gewaltiger Schlag traf Nado, Schmerzen zerrissen die Finsternis, Lichtfunken tanzten auf blutigen Wellen. „Für meine Schwester!“, hörte er. Es war, als würde er schweben. Für einen Moment war alles leicht und warm. Leicht. Und warm. Dunkel. Still.


Chronik:1032
Die Herren von Pildek
Teil 16