Chronik.Ereignis1032 Die Herren von Pildek 15
Baronie Pildek, Mitte Rahja 1032 BF[Quelltext bearbeiten]
Auf Maldianas Hof nahe Carhag-Lo[Quelltext bearbeiten]
Autor: Von Scheffelstein
Die Mutter[Quelltext bearbeiten]
Der Tag war vorübergezogen wie die Geschichte eines böswilligen Märchenerzählers, der seine Zuhörer mit Grausamkeiten quälte und sich an ihrem Schrecken ergötzte. Sie hatten Batistar nicht mit nach Hause genommen. Sie hatten seinen Leichnam losgeschnitten und in ein Tuch geschlagen. Escalio hatte den Toten auf seinen Ochsenkarren geladen, und gemeinsam waren sie zum Boronanger nach Carhag-Lo gefahren. Die Priesterin, die für Talfans Beerdigung aus Endivarol gekommen war, war noch immer dort, um sich um die Gräber zu kümmern. Sie hatte Batistars Leichnam gewaschen, und man hatte ihm saubere Kleidung angezogen. Zur Mittagsstunde hatte man ihn beigesetzt. Ganz Carhag-Lo war gekommen, alle Bäuerinnen und Bauern, Mägde und Knechte, Handwerker und auch alle Kinder. In stillem Grauen hatten sie sich um das Grab versammelt, und beinahe wortlos waren sie auseinandergegangen. Die Furcht lag über dem Dorf wie eine schwarze Wolke, die nicht weichen wollte. Der Trigorner selbst war von seinem Hof gekommen, um Maldiana sein Beileid auszusprechen und der Familie seine Unterstützung zuzusagen.
„Dunkle Mächte sind in Pildek eingefallen“, hatte er gesagt. „Wir dürfen uns nicht gefallen lassen, dass Hexen und Mörder ihr Unwesen in Carhag-Lo treiben. Wir werden Wachen aufstellen, die dafür sorgen, dass so etwas nicht noch einmal geschieht. Wir werden die Hexen aus Pildek vertreiben!“
Die Bauern hatten stumm genickt, aber niemand hatte sich freiwillig für eine erste Wachmannschaft gemeldet. Die Angst saß den Menschen tief in den Knochen, nichts anderes wollten sie, als sich in ihren Häusern zu verkriechen, die Läden zu schließen und alles Böse und Grausame, alles Leid und den unbarmherzigen Tod auszusperren.
Maldiana hatte den ganzen Tag geweint, untröstlich auf ihrem Stuhl in der Küche gesessen und sich greinend gewiegt wie ein verlassenes Kind. Selbst der stets scherzende Fuocco hatte an diesem Tag keine Worte gefunden, seine Mutter zu trösten. Schweigend hatte er neben ihr gesessen, ihre Hand gehalten und hinaus in den Regen gestarrt. Der Trigorner hatte Fuocco eine Woche freigegeben, um bei seiner Familie zu sein. Nado hatte Rondara geholfen, das Essen zuzubereiten und die Kühe zu melken. Jago war zu seinem Haus auf der oberen Weide gegangen, denn auch an einem Trauertag gab es Arbeit zu verrichten. Doch als es Abend wurde, kam er zurück, und Rondara verteilte die Fleischsuppe auf fünf Teller.
Sie aßen schweigend. Nados Gedanken kreisten unablässig um Batistar, dessen Platz an diesem Abend leer blieb – und immer leer bleiben würde.
Batistar war ebenso grausam hingerichtet worden wie Esperanzada. Hatte sich Nado in Valdemora Silfide getäuscht? Hatten die Zahori nicht nur Talfan auf dem Gewissen, sondern auch das Mädchen und nun Batistar? Aber wie dumm wäre es von der Zahori, sich ausgerechnet an Nados Bruder zu vergreifen, nachdem Nado vor allen Menschen ihre Partei ergriffen, sein Wort für sie eingelegt und die anderen davon abgehalten hatte, die Zahori zu töten.
„Ich glaube nicht, dass es die Zahori waren“, sagte Nado, als Fuocco die Teller zusammenschob, um sie auf dem Hof abzuspülen.
„Fängst du schon wieder an?“, fuhr Jago auf.
„Was?“, fragte Nado. „Ich will nur wissen, wer es getan hat, verstehst du? Ich will den Mörder finden. Er soll dafür bezahlen!“
„Nichts wirst du!“, rief Jago. „Wir haben schon genug bezahlt!“
„Wie meinst du das?“
„Wie meine ich das? Wenn du dich nicht in Dinge einmischen würdest, die dich nichts angehen, dann hätte Batistar nicht ...“
„Jago!“ Es war das erste, was Maldiana seit vielen Stunden sagte.
„Was soll das heißen?“ Entgeistert starrte Nado seinen Bruder an. „Willst du mich für Batistars Tod verantwortlich machen?“
„Glaubst du, dass es Zufall war?“ Jagos Augen glommen dunkel. „Alle die gestorben sind, hatten mit dir geredet. Hast du nicht selbst gesagt, dass du das Mädchen auf dem Friedhof getroffen hast? Und Talfan: das war dein Freund, nicht?“
„Vater!“, rief Rondara erschrocken, und selbst Maldiana hatte zu weinen aufgehört. „Lass ihn in Frieden, Jago. Es ist doch nicht seine Schuld!“, sagte sie.
Aber Jago hörte nicht auf. „Mit wem hast du dich angelegt, Maldonado? Hä? Mit wem? Welches Unglück bringst du über unser Haus?“
Nado schluckte. Er konnte es nicht fassen! Sein eigener Bruder gab ihm die Schuld an allem Unglück im Dorf, an all den Toten! Der Blick in Jagos Augen schmerzte beinahe mehr als Batistars Verlust.
„Er ... Batistar ... war auch mein Bruder!“, sagte er heiser.
Jago starrte ihn an, so finster, dass er Nado wie ein Fremder vorkam. „Wann wirst du es ihm endlich sagen, Mutter?“, fragte Jago, ohne Nado aus seinem Blick zu entlassen.
„Jago, hör’ auf!“, bat Maldiana.
Nado versuchte, dem Blick des Bruders standzuhalten, ihm nicht zu zeigen, wie tief verletzt er war. „Was?“, fragte er. „Was soll sie mir sagen?“
Jago sah ihn nur an. „Mutter?“
„Hör auf, Jago! Er hat nichts damit zu tun!“
„Was? Mutter, was sollst du mir sagen?“ Nado sah zu Maldiana. Aller Augen waren auf die alte Frau gerichtet. Auf dem Hof hörte man Fuocco Wasser über das Geschirr gießen.
Tränen liefen erneut aus Maldianas Augen. „Dass ich dich sehr lieb habe, Nado, mein Junge, das sage ich dir.“ Sie griff nach seiner Hand und tätschelte sie, dann stand sie plötzlich auf und ging hinaus auf den Hof.
Auch Jago stand auf. „Komm, Rondara, wir gehen“, sagte er.
Rondara sah zu Nado. Mitleid lag in ihrem Blick. Sie presste die Lippen zusammen, nickte ihm zu und hob hilflos die Schultern. Ihr Vater schob sie unsanft zur Tür, doch statt ihr zu folgen, schloss er sie hinter ihr.
„Eines sage ich dir, Junge!“, wandte er sich an Nado. „Wenn du nicht fortan den Platz einnimmst, der dir zusteht, wenn du nicht tust, was ich dir sage, dann wirst du verschwinden! Dann ist das hier die längste Zeit dein Zuhause gewesen.“
Wut regte sich in dem jungen Mann. „Du bist nicht der Herr dieses Hofes!“
„Aber ich werde es eines Tages sein“, sagte Jago. „Also überleg’ dir besser, auf wessen Seite du stehst!“
„Ich bin auf unserer Seite!“, rief Nado. „Ich habe nichts Falsches getan! Ich habe genauso einen Bruder verloren wie du!“
Jago schnaubte, dann öffnete er die Tür, drehte sich aber noch einmal um. „Batistar“, sagte er, „war nicht dein Bruder.“
Verständnislos blickte Nado ihn an, dann hielt er Jago am Arm zurück, ehe der die Küche verlassen konnte. „Was sagst du da? Was soll das?“
Jago blieb stehen. In seinem Gesicht arbeitete es, sein Mund zuckte, dann nickte er leicht. „Du bist nicht unser Bruder“, sagte er dann und wollte gehen. Aber Nado packte ihn an beiden Schultern und zog ihn zurück in die Küche. Er war größer als Jago, doch der war ihm an Kraft ebenbürtig. Jago drückte mit dem Rücken die Tür zu und schob Nado von sich fort.
„Mutter hat einen Narren an dir gefressen, deshalb hat sie es dir nie gesagt. Aber ich schwöre dir: Wenn du unserer Familie schadest, dann verschwindest du dorthin, wo auch immer du hergekommen bist!“
„Wo ... ich hergekommen bin?“ Nado suchte in Jagos Augen nach einer boshaften Lüge, nach einem grausamen Scherz, aber es war nicht Jagos Art zu lügen, und Scherzen konnte er auch nicht. „Wo ... ich ... Ich bin nicht ... Mutter ist nicht? Sie ist nicht meine Mutter?“
„Nein“, sagte Jago.
„Wer ... wer ist meine Mutter?“
„Was weiß ich?“ Jago zuckte die Schultern. „Irgendein Mädchen. Kam her, hat dich zur Welt gebracht, ein paar Wochen auf unsere Kosten gelebt, dann ist sie verschwunden. Eine Streunerin? Eine Zahori? Mit denen scheinst du es ja zu haben! Also denk’ dran: Wenn du hier wohnen willst, mach’ keinen Ärger! Wenn du nur einmal noch, nur einmal etwas tust, was uns in Gefahr bringt, dann werf’ ich dich eigenhändig raus, das schwöre ich dir!“
Jago zog die Tür auf und trat auf den Hof. Auf der Schwelle schaute er noch einmal zurück. „Kein Wort zu Mutter, Junge“, sagte er. „Sie wollte nie, dass du es weißt!“
Die Tür fiel zu. Nados Leben lag in Trümmern.
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