Chronik.Ereignis1032 Alte Freunde, alte Feinde 09
Capitale Punin, 29. Travia 1032 BF (Gilbornstag)[Quelltext bearbeiten]
Auf dem Theaterplatz (zur Praiosstunde)[Quelltext bearbeiten]
Autor: SteveT
Ein lauter Fanfarenstoß ließ die dicht an dicht gedrängte Bürgermasse auf dem Theaterplatz erst erschrocken zusammenzucken und dann aufjubeln. Aus der Gassenschlucht am südlichen Rand des Platzes setzte das rhythmische Geratter anmarschierender Trommler ein. Man sah große rot-goldene Fahnen, die über den Köpfen der Menschenmenge geschwenkt wurden. Die etwas verspätete Reiterin Serenos, wie die sie umgebenden Trommlerjungen und Fahnenschwinger komplett in Rot und Gold gekleidet, ritt auf ihrem gestriegelten und geschmückten Fuchs durch die Menge, den rechten Arm selbstsicher mit geballter Siegesfaust zum Gruß über den Kopf erhoben.
"Ja! Antares! Schenk uns den Sieg!", jubelten die Serenisti - natürlich nicht die Reiterin, sondern das Pferd anfeuernd, während der größere Teil der Menge laut buhte und der Reiterin höhnisch riet, nur besser gleich wieder umzukehren und sich die Blamage zu ersparen. Alle Augen wanderten immer wieder gebannt nach oben zur großen mechanischen Uhr am Ghulamsturm des platzbeherrschenden Palacio di Mayor, im Volksmund wegen seiner flatternden Bewohner auch »Taubenturm« genannt.
Der große Zeiger des Uhrwerks stand eine Viertelstunde vor der Praiosstunde - dem traditionellen Beginn des Gilbornslaufs! Mit dem zwölften und letzten Schlag der Tarragonna, der großen Glocke im 'Dicken Ghirlando', dem zweiten Uhrenturm Punins am anderen Ende der Innenstadt, würden die zehn Reiter der einzelnen Stadtzehntel auf den ihnen zugelosten besten Zuchtrössern des ganzen Landes auf die mit Sand ausgestreute Rennstrecke gehen - ohne Sattel, auf pfeilschnellen Pferden, drei Runden durch die engen Gassen und Kurven der Innenstadt, über glattes, mitunter rutschiges Pflaster, bis der Schnellste unter ihnen unter dem Getöse der Massen vor der Tür des Rathauses auf dem Theaterplatz zum Halten kam. Dort wurde ihr oder ihm traditionell vom amtierenden Ratsmeister der Siegespreis, das goldene Halstuch des Heiligen Gilborns überreicht, das dann für ein Jahr - bis zum nächsten Rennen - in der Contrade des Siegers aufbewahrt werden würde, wo sich rauschende Siegesfeiern bis tief in die Nacht anschlossen, während für die neun unterlegenen Stadtzehntel nur Wehklagen und Katzenjammer, verbunden mit traditionell ebenso ausufernden Frustbesäufnissen übrig blieben.
Wer das Glück hatte, entlang der seit Jahrhunderten feststehenden Rennstrecke zu wohnen, der hatte von den Fenstern oder der Loggia seines Hauses einen besseren Blick auf das Rennen, als die Menge drunten auf den engen Gassen. An besonders spektakulären, da sturzträchtigen Stellen, wie etwa in der engen Kurve der Via Aguilon, hockten die Rennbegeisterten sogar auf den Dächern der umliegenden Häuser.
Da am Gilbornstag, dem höchsten Feiertag Punins, traditionell wirklich die ganze Stadt auf den Beinen war, mischten sich überall auch Zeitgenossen unter die Menge, denen die Garde an normalen Tagen schon einmal den Zutritt zur ummauerten Innenstadt verwehrte. So waren natürlich auch Gaspare und die anderen zerlumpten Gassenjungen und -mädchen der Schnarrer und Pfeifer aus der Unterstadt im Einsatz, denn für sie war der Gilbornstag erst recht ein Festtag. Alle Bürger trugen ihre teuerste Festagsgewandung und teuren Schmuck spazieren, viele waren schon jetzt am Vormittag angeheitert oder betrunken. Gaspare drückte sich an den Stand eines Arangenverkäufers heran und wartete, bis dieser einer hübschen jungen Domnatella mit großen galantem Gehabe eine Frucht zerteilte. Ein rascher Griff, ein Wurf und zwei Arangen flogen hinter seinem Rücken in den auffangbereiten Tuchbeutel Federigos, in dem sich bereits ganz anderen Schätze befanden.
Was Gaspare stutzig machte, war, das heuer auffällig viele bekannte Gesichter aus Unter-Punin zum Rennen gekommen waren - auch diejenigen, die sich in all den Jahren zuvor nie für das Rennen interessiert hatten. Viele trugen längliche, in bunte Tücher gewickelte Gegenstände mit sich herum, die man auf den ersten Blick für zusammengerollte Fahnen halten konnte. Aber keine der Fahnen hatte die Wappenfarben Unter-Punins, Gaspare war sich mit seinem geschärften Blick ohnehin sicher, dass sich darin Waffen - möglicherweise Säbel oder Rapiere - befanden. Aber woher waren all diese bettelarmen Tröpfe an so teure Klingen gelangt?
Von der anderen, nördlichen Seite des Platzes bahnte sich eine ganz andere Gruppe aus vornehm gekleideten Edelleuten mit Remplern und Ellenbogenstößen unsanft ihren Weg durch die Menge. "Mach Platz du Trottel, siehst du nicht, dass Du Magnaten den Weg verstellst?", verpasste Vesijo de Fuente y Beiras einem rotwangigen Gesellen in der Tracht der Wollweber eine klatschende Ohrfeige und schob ihn gleichzeitig grob beiseite. Der ihm auf dem Fuß folgende Donato Galandi, Tego Colonna, die Hofjunker Filippo, Juanito, Federico und Constanzo, sowie vier Söldlinge Colonnas - allesamt bewaffnet - warfen dem Weber finstere Blicke zu, so daß er sich jeden Protestes enthielt, sondern lieber mit rotem Handabdruck auf der Wange das Weite suchte.
"Respektloses Pack! Zeit, das jemand diesen Abschaum wieder Manieren lehrt!", grummelte Dom Vesijo weiter vor sich hin und blickte sich suchend über die Köpfe der Menschenmenge hinweg um, ob er Domna Solivai irgendwo erspähen konnte. Er war sich sicher, dass die Junkerin von Amhall de Cascanueva ihre Verabredung einhalten würde. Wenn er sie schon nicht in der Menge des schreienden und johlenden Bürgerpacks ausmachen konnte, dann würde hoffentlich zumindest sie ihn sehen, denn mit seinem Gardemaß ragte er deutlich aus der ansonsten größtenteils kleinwüchsigen Menge heraus.
"Wir warten hier einen Moment!" brüllte er Filippo ins Ohr, damit dieser ihn beim Gekreisch der Umstehenden verstehen konnte.
Donato Galandi zog derweil eine bunte Augenmaske aus seinem Gewand und setzte sie auf. Bis zum "Fest der Freuden" war es zwar noch einige Monde hin, aber dennoch trugen auch noch eine erkleckliche Anzahl anderer Bürger Masken, etwa wenn sie verheiratet waren und Arm in Arm mit einer Person unterwegs, die nicht ihr Ehepartner war...
Ratsmeister Bodar Sfandini betrat den Palacio di Mayor zur gleichen Zeit durch den Seiteneingang. Zu gerne hätte er das Rennen draußen von der Loggia des Rathauses verfolgt, wo man den besten Blick der ganzen Stadt hatte. Aber ausgerechnet vor diesem Festtag war Dom Riario erstochen worden, waren Assiref, Albizzi, Galandi und die Gebrüder Tournaboni von den Taladuris gefangengesetzt worden, so dass eine außerordentliche Sitzung des Hohen Rates anstand. Er rechnete nicht damit, dass viele Ratsmitglieder erscheinen würden und diejenigen, die kamen, wollten sicher so schnell wie möglich - spätestens zum Ende des Rennens - wieder im Freien sein, was auch ganz in seinem Sinne war.
Aber es gab notorische Querulanten und Besserwisser wie den Hofschneider Knabenschuh oder auch Seine Spektabilität Sirdion Koosmar, die sicher wieder unendliche Fragen stellen würden, auf die er selbst noch keine Antworten wußte. Seine Tochter Elea begleitete ihn, die inzwischen die Geschicke der Druckerei Sfandini Erben & Cie. an seiner statt lenkte und ebenfalls bereits ein Mitglied des Hohen Rats der Domna war.
Ein livrierter Amtsdiener erwartete ihn bereits, die schweren samtenen Prachtgewänder des Puniner Stadtoberhauptes über dem Arm, die Dom Bodar nur zu solchen bedeutenden Anlässen anlegte und dann auch so schnell wie möglich wieder auszog. "Ah, Messér Sfandini! Ihr werdet bereits erwartet!", hielt er Bodar den schweren, mit Gold und Smaragden bestickten Amtsmantel entgegen, in den dieser ächzend hineinschlüpfte. Der Mantel allein wog sechs Stein, die Ghulamskappe noch einmal soviel.
"Sind etwa bereits viele Räte versammelt? Wer kommt denn zum Gilbornslauf ins Grüne Kabinett?", frug er den Amtsdiener.
"Nur eine Handvoll, Herr Ratsmeister!", schüttelte dieser den Kopf. "Ihr werdet aber in Eurem Studiolo erwartet, von einem Kind."
"Einem Kind?" frug Sfandini ungläubig und präsentierte seine Gewandung seiner Tochter, die mit gerunzelter Stirn zustimmend nickte.
"Äh ja, einem Edelknaben, Herr Ratsmeister - einem ausgesprochen hochnäsigen Edelknaben, wenn Ihr mir die Bemerkung gestattet. Er spricht so, als wäre er der Kaiser persönlich!"
"Aha! Gut, Peppote!", nickte der Ratsmeister. "Dann weiß ich schon, um wen es sich handelt! Gehe schon vor, Elea. Ich werde noch kurz meinen kleinen 'Schutzherren' auf einen anderen Tag vertrösten und dann kann die Ratssitzung beginnen. Wir wollen an diesem Freudentag nicht zu lange über betrübliche Ereignisse raisonnieren. Das hat Zeit bis morgen!"
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