Chronik.Ereignis1033 Feldzug Selaque 34

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In Ksl. Selaque, 5. Rondra 1033 BF[Quelltext bearbeiten]

Auf dem Castillo da Vanya[Quelltext bearbeiten]

5. Rondra 1033 BF, in den Nachtstunden[Quelltext bearbeiten]


Autor: von Scheffelstein

Ein Geräusch weckte Richeza. War es das Schlagen des offenen Fensterladens im Wind? Das leise Rascheln des Vorhangs in der Balkontür? Oder der Pulsschlag ihres Herzens, den sie noch immer deutlich – wenn auch leiser – in ihren Ohren vernahm.

Sie drehte sich auf die Seite. Die Müdigkeit lastete wie eine bleierne Decke auf ihren Schultern, aber es tat gut, zum ersten Mal seit so langer Zeit in einem bequemen Bett zu liegen. Ein ferner Blitz erhellte das Zimmer, beleuchtete die holzvertäfelte Wand, das leere Rechteck, wo einst das Gemälde ihrer Vorfahren gehangen hatte, das von Domna Praiosmins Soldaten beschädigte Mobiliar.

Es war friedlich auf der Burg, gerade so, als hätte es all die Wirrnisse der letzten Wochen nicht gegeben. Richeza konnte noch immer nicht glauben, dass das Castillo nun wieder in ihrer Hand war. Aber die Selaquer Gardisten hatten keine Anstalten gemacht, Yegua von Elenta zu befreien und taten bislang, was Moritatio ihnen aufgetragen hatte.

Ein weiterer Blitz erleuchtete den Raum und warf einen langen Schatten an die Wand. Richeza fuhr hoch. In der offenen Tür zum Balkon stand jemand. Schwarz zeichneten sich die Umrisse einer Person im Kapuzenmantel vor dem Nachthimmel ab. Richezas Herz machte einen Satz. Wer war das? Wie war derjenige hier heraufgekommen? Am Balkon empor? Einer der Gardisten? Ein Meuchler? Ein Ferkina? Oder ... Dom Gendahar? Noch immer wusste sie nicht, was der Streitzig eigentlich hier wollte. Beim Abendessen hatte er sich höflich zurückgehalten. Aber sagte man nicht, er sei schon an manchem Balkon empor geklettert, im Schlafgemach mancher Dame ein und aus gegangen?

"Wer seid Ihr?", fragte Richeza. "Was wollt Ihr hier?"

Sie tastete nach ihrem Dolch, bis ihr einfiel, dass sie ihre kaputten Stiefel im Baderaum gelassen hatte und damit auch die verborgene Klinge. Und ihr Degen, den sie am Sattelknauf ihres Pferdes zurückgelassen hatte und der sich im Stall wiedergefunden hatte – neben dem schwer verwundeten Ross, zum Namenlosen mit der Elenterin, dass sie so mit einem Pferd umging! – lag auf einem der Regale neben der Tür. Zu weit weg!

Mit klopfendem Herzen zog Richeza die Decke höher und schalt sich zugleich eine Närrin: Wenn die fremde Person es auf ihr Leben abgesehen hatte, wäre es besser, aufzuspringen und aus dem Zimmer zu fliehen, statt sich unter der Bettdecke zu verkriechen.

"Wo ist mein Bruder?"

"Was?" Irritiert starrte Richeza den Fremden an – nein: die Fremde! Die Stimme gehörte einer Frau. Einer alten Frau. Und für den Streitzig war die Person ohnehin zu klein. Richeza war zugleich erleichtert und beunruhigt. Und vielleicht auch ein wenig enttäuscht? Unsinn!

Sie schlug die Decke zurück und stand auf. Ihr Nachthemd wehte leicht im Wind, umspielte ihre Beine. Bis zu ihrem Degen waren es mehrere Schritt. Sie musste schnell sein.

Ein Licht flammte auf und blendete Richeza. Schützend hielt sie sich die Linke vors Gesicht, blinzelte gegen die plötzliche Helligkeit. Eine bläuliche Lichtkugel schwebte über der Frau, die nun durch die Balkontür in den Raum trat. Sie hielt einen Stecken in der Hand. Als sie die Kapuze zurückschlug, erkannte Richeza sie.

"Du?"

"Wo ist mein Bruder?", wiederholte Udinia Krähenfreund.

"Was in aller Welt machst du hier? Wie bist du hier hereingekommen?" Nun, die Frage konnte sie sich schenken, die Alte war schließlich eine Hexe, und bestimmt ritt sie auf ihrem Stab durch die Lüfte, wie Hexen das nun mal taten.

"Ich suche meinen Bruder. Tsacharias. Wo ist er? Was habt Ihr mit ihm gemacht?"

"Gemacht? Nichts!" Richeza runzelte die Stirn und hob die Schultern. "Er war im Dorf unten. Heute Nachmittag noch." Aber hatte der Streitzig nicht erzählt, der Alte sei fortgegangen? "Ich weiß nicht, ob er noch dort ist. Vielleicht ist er weggegangen. Zurück in die Berge. Wer weiß?"

Die Frau bedachte sie mit einem langen Blick, dann drehte sie sich um und schob den flatternden Vorhang zurück. Das kalte Licht schien noch immer über der Tür.

"Warte!", rief Richeza, als die Alte wieder auf den Balkon treten wollte. "Warum ...?" Sie brach ab. "Sag ihm meinem Dank", sagte sie stattdessen. "Sag deinem Bruder meinen Dank, dass er sich um mich gekümmert, mich geheilt hat."

Die Alte schaute über die Schulter zurück, ihr Blick war durchdringend, Misstrauen lag darin. Schließlich hob sie eine Augenbraue, dann griff sie unter ihre Bluse und zog einen Anhänger an einem Lederband hervor und hielt ihn Richeza hin. Es war ein goldenes Amulett mit einem grün-schwarz gemaserten Stein. "Das gehört Euch."

"Mir?" Zu spät fragte sie sich, ob dies eine List der Alten und der Gegenstand verzaubert war, sie hatte bereits danach gegriffen. Der Anhänger war leicht. Und hübsch. Goldene Blätter rankten sich um den Stein, hielten einen filigranen goldenen Ring.

"Eurer Mutter", sagte Udinia Krähenfreund.

Ihre Blicke begegneten sich, neugierig, misstrauisch, beide.

"Woher hast du das?", fragte Richeza stirnrunzelnd.

Eine lange Pause. "Eure Mutter war ein guter Mensch."

Richeza schwieg, betrachtete das Amulett und dann die Alte. "Sicher war sie das. Warum sagst du mir das?"

Udinia Krähenfreund stand noch immer in der Tür. Der Nachtwind zauste in ihrem grauen Haar. Das Zauberlicht zeichnete tiefe Schatten in ihr Gesicht. "Ich will, dass Ihr Euch an sie erinnert. Ich will, dass Ihr Euch erinnert, wie eine da Vanya auch sein kann." Sie schwang ein Bein über den Stecken. Ihre Röcke bauschten sich.

"Warte!" Richeza griff nach dem Arm der Alten, hielt sie fest. "Was weißt du von meiner Mutter?"

Die Augen der alten Frau schimmerten dunkel. "Eine Menge, mein Kind. Mehr als Ihr ahnt." Sie sah auf die Hand der Edlen, die ihren Ärmel umklammert hielt.

Tausend Fragen schossen Richeza durch den Kopf, aber es war spät, sie war müde, und die Situation zu befremdlich, so unwahrscheinlich, dass sie keinen Gedanken fassen konnte. Schon wandte die Alte sich ab. "Meine Mutter ...", begann Richeza leise. "Meine Tante hat sie eine halbe Portion genannt und zartbesaitet ..."

"Eure Mutter war ein guter Mensch", wiederholte die Alte.

"Hat meine Tante sie gehasst? Verachtet?"

Udinia Krähenfreund löste sich aus Richezas Griff. "Es gibt wohl keinen Menschen auf Deren, der Eure Mutter mehr liebte als Eure Tante es tat. Das ist aber auch das Einzige, was ich ihr zu Gute halten kann. Für Eure Mutter wäre sie durchs Feuer gegangen. Und für Euch wohl auch."

Bevor Richeza etwas erwidern konnte, stieß sich die Frau mit beiden Beinen vom Boden ab und erhob sich in die Luft. Richeza stand noch auf dem Balkon und blickte ihr nach, lange nachdem die Dunkelheit die Alte verschluckt hatte.


Autor: SteveT

Derselbe Wind, der Richeza aus dem Schlaf riss, weckte auch den frischgebackenen "Burgherrn" Moritatio viel zu früh aus einem ohnehin unruhigen Schlummer.

Er war ein solcher Idiot! Nichts konnte er richtig machen oder sagen. 'Du siehst wie eine richtige Frau aus!', wiederholte er im Geiste nochmals seinen verhängnisvollen Satz, wegen dem ihn Richeza den gesamten restlichen Abend angegiftet, angeschwiegen oder mit unleidlichen Blicken bedacht hatte. Die schöne Romina-Alba war auch ein für allemal über alle Berge – die würde er bestimmt niemals wiedersehen.

Dazu kam noch die Tag für Tag größer werdende Angst vor seiner Rückkehr nach Punin. 'Aha, unser treuloser Deserteur und Fahnenflüchtiger gibt sich auch wieder einmal die Ehre!', hörte er Filippo di Lacara und seinen verderbten Vetter Juanito di Dubiana schon spöttisch ätzen. 'Los! Vor dem gesamten Regiment antreten zum Spießrutenlauf!'

Schon vor über zwei Wochen hätte er sich im Hofjunkerquartier in der Residencia einfinden müssen – sie würden ihn gewiss für ein paar Tage an den Pranger stellen lassen, und danach musste er wahrscheinlich für den Rest des Jahres ohne jede Hilfe die Latrine reinigen und den Pferdestall ausmisten – wenn ihm nicht sogar vor dem Kaiser der Process gemacht wurde. Er schüttelte den Kopf, und es rieselte ihm eiskalt den Rücken hinunter.

Wo nur seine Mutter und Gujadanya blieben? Das Castillo war wieder ihres – und er selbst hatte dazu sogar einen kleinen Beitrag leisten können. Aber jetzt musste er wirklich fort, um seine Pflicht vor dem Kaiser und Almada zu erfüllen – er brachte sonst ja nur Schande über seine Farben, dass er die eigenen Privatfehden höher hielt als den Dienst am Kaiserreich.

Nein, gleich morgen früh wurde er zu Richeza gehen und ihr seinen Abschied verkünden. Sie war die Tochter von Mutters Schwester, die hier einst gelebt hatte – also warum sollte sie nicht die Befehlsgewalt über das Castillo übernehmen können, bis Rifada selbst mit Verstärkung eintraf? Auf die Anwesenheit ihres ungeliebten Vetters, der sich nur falschen Hoffnungen hingab, während er seine eigentliche Aufgabe vernachlässigte, konnte sie dabei sicher sehr gut verzichten. Die einzige Schwierigkeit war, dass er dem wackeren Weggefährten Anzures Ballan sein derzeit einziges verfügbares Ross als Belohnung geschenkt hatte. Es würde also morgen und an den nächsten Tagen auf einen langen Fußmarsch bis nach Punin hinauslaufen ...


Am Rand des Raschtulswalls, wenig später

Autor: von Scheffelstein

Nach dem Gewitter war es kühl geworden. Dulcinea kauerte sich in ihren klammen Kleidern eng an die Felswand, um wenigstens vor dem Wind geschützt zu sein. Sie hatten nicht gewagt, ein Feuer zu machen, aus Angst, die Oger könnten dadurch angelockt werden. Lange hatten ihr Vater und sie in der Felsspalte ausgeharrt, selbst noch, als es zu regnen begonnen hatte. Erst, als die Dämmerung eingesetzt hatte, waren sie den Hang wieder abwärts gestolpert, doch der heftige Regen hatte sämtliche Pfade in schlammige Flüsse verwandelt, und sie waren nur langsam vorwärts gekommen. Schließlich hatten sie sich unter einen Felsüberhang geflüchtet, wo der Regen sie nicht erreichte. – Aber die Oger, wenn die Oger wiederkamen!

Bei jedem Geräusch zuckte Dulcinea zusammen. Anfangs hatte sie jedes Mal ihren Vater geweckt, bis er in seine gewohnte schlechte Laune verfallen war und sie angeblafft hatte, sie solle ihn gefälligst erst wecken, wenn sie kein Auge mehr offenhalten könne, aber auf keinen Fall auch nur einen Moment früher.

Und so starrte Dulcinea in die Dunkelheit, zitternd – nicht nur vor Kälte –, und lauschte auf die Wassertropfen, die von den Steinen fielen, auf den Wind, der ab und an ein schauriges Heulen zwischen den Felsen erzeugte, auf das ferne Heulen eines Wolfes.

Sie hatte Durst, und zugleich verspürte sie den allmählich stärker werdenden Drang, sich zu erleichtern, doch sie wagte nicht, das Versteck zu verlassen; das leise Atmen ihres Vaters beruhigte sie.

Ach!, dachte sie, wenn sie nur so tapfer wäre wie ihr Bruder, der nie ein Mann, ja nicht einmal ein Knabe geworden war, ach, wenn nur ihr Bruder nie gestorben wäre!

"Hab keine Angst, Schwesterherz", flüsterte sie mit seiner Stimme, als irgendwo ein Kiesel herunterfiel und klackernd von Stein zu Stein sprang, bis er schließlich liegenblieb. "Ich pass' auf dich auf!", flüsterte sie und berührte die Kette an ihrem Hals, die Kette mit den bunten Steinen, die er ihr geschenkt hatte – fast jedenfalls glaubte sie schon selbst daran.

Was knirschte da so, irgendwo unter ihr in den Dunkelheit? Waren da nicht Schritte? Oh, wenn das die Oger waren, dann waren sie verloren! Dulcinea kroch ein wenig näher an ihren Vater heran, bereit, ihn wachzurütteln, sobald sie etwas sähe, das ihnen gefährlich werden konnte. Aber wäre es dann nicht schon zu spät? Und was wollte Ordonyo di Alina schon gegen einen Oger ausrichten? Ihr Vater war verschlagen und hinterlistig, das ja, aber der Gewalt eines Menschenfressers hatte er nichts entgegenzusetzen. Und wenn es ein Wolf war? Das Heulen in der Ferne war verstummt. Was, wenn das Biest sich heimlich angeschlichen hatte?

Dulcinea suchte mit den Augen die Umgebung ab. Die Wolken waren ein wenig aufgerissen, der Mond spähte hervor, aber selbst in seinem schwachen Licht war nichts zu sehen. Stille.

Allmählich wurde Dulcinea müde, der Angst zum Trotz, aber sie traute sich noch nicht, den Vater zu wecken. Und außerdem wurde das Drücken in ihrem Unterleib immer stärker. Was aber, wenn dort draußen doch ein Oger lauerte oder ein Wolf? Dulcinea konnte sich kaum etwas Demütigenderes vorstellen, als beim Pinkeln getötet zu werden. Und so kniff sie die Beine zusammen wie ein kleines Mädchen und biss sich auf die Lippen, bis der Schmerz immer größer wurde, größer sogar als die Angst.

Verdammt noch mal, Dulcineo wäre einfach dort hinaus gegangen und hätte sein Wasser abgeschlagen, und wenn ihm der Wolf zu nahe gekommen wäre, hätte er ihm ins Gesicht gepisst und ihn mit einem lässigen Fußtritt in die nächste Schlucht befördert! Und einem Oger, einem Oger wäre er einfach davongelaufen, denn Dulcineo war flink wie ein Wiesel und behände wie ein Geißbock.

Mit grimmigem Gesicht stolperte Dulcinea unter dem Felsvorsprung hervor, kletterte ein wenig den Hang hinab und lauschte, nicht ohne einen gewissen Stolz, dem Strömen und Glucksen des Wassers, das über die Steine plätscherte, ein nicht enden wollender Strom. Ha!, dachte sie, als sie ihre Kleider richtete, einen solchen Bach hätte nicht einmal ihr Bruder zustande bekommen.

Doch als sie sich umwandte, um wieder in das Versteck zurück zu kriechen, erstarrte sie. Da saß jemand! Kaum zwanzig Schritt entfernt auf einem Felsen, und drehte ihr den Rücken zu. Dulcinea sah flatternde Gewänder und im Wind schwebendes, langes Haar, aber es schien ein Mann zu sein, wenn auch schlank, fast schon hager, sofern sie das sagen konnte, denn er saß mit unterschlagenen Beinen, und die vom Wind gebauschten Kleider verwischten seine Konturen.

Dulcineo?

"Dulcineo?", flüsterte Dulcinea, obwohl eine Stimme in ihrem Kopf sie eine Närrin schalt. Ihr Bruder war tot! – Aber wer sonst säße hier friedlich mitten in der Nacht auf einem Felsen, reglos und stumm wie eine Traumgestalt?

Wider alle Vernunft kletterte Dulcinea ein wenig näher an den Mann heran, so leise, wie sie es vermochte, aus Angst, sie könne die Traumgestalt verschrecken und so die einmalige Begegnung mit ihrem Bruder verpassen, aus Angst aber auch, der Mann könne ein Fremder sein oder gar ein Dämon, der sich umdrehte, sobald er sie bemerkte, und sie mit Haut und Haaren verspeiste.

Obwohl ab und an ein Stein sich unter Dulcineas Füßen löste und herabsprang, schien der Mann sie nicht zu hören. Dennoch blieb Dulcinea in etwa sieben Schritt Entfernung stehen und duckte sich hinter einen Felsen. Was machte er da? Er saß einfach nur dort, die Hände auf den Knien, die Finger zusammengelegt. War ihm nicht kalt?

Dulcinea beobachtete ihn eine Weile. Trug er einen Bart? Bei allen Göttern, aber was für einen! Nein, Dulcineo hätte sich bestimmt ordentlich rasiert und nicht so ein wild wucherndes Gestrüpp im Gesicht getragen. Enttäuscht musste Dulcinea sich eingestehen, dass der Mann dort auf dem Felsen so gar nichts mit dem Bruder ihrer Träume gemein hatte.

Schon überlegte sie, wie sie sich so unauffällig wie möglich zurückziehen könne, als eine plötzliche Bewegung aus dem Augenwinkel sie aufschrecken ließ. Da flog ein riesiger Vogel am Nachthimmel, düster und unförmig, wie sie ihn noch niemals gesehen hatte. Oh nein, und er hielt genau auf sie zu! Dulcinea schob sich den Fingernagel in den Mund und unterdrückte den Impuls, schreiend aufzuspringen und davon zu hasten. Vielleicht hatte das Wesen sie noch nicht entdeckt!

Es flog einen Bogen, schwarz vor dem Mond, und landete nur zwei Schritt von dem Mann entfernt auf dem großen Felsen. Es war gar kein Vogel. Es war ein Mensch in einem wehenden Umhang, der einen knorrigen Stab in der Hand hielt.

"Da also steckst du, Bruder!"

Eine Frau! Dulcinea vergaß vor Staunen, sich zu fürchten.

"Udinia", sagte der Mann, ohne sich zu rühren. Seine Stimme klang alt und gleichmütig.

"Bei Sumu!, was treibst du hier?", fragte die Frau. Auch sie klang nicht mehr jung. "Ich suche dich schon seit Tagen!"

"Was führt dich zu mir?"

Statt einer Antwort klopfte die Alte mit dem Stecken auf den Felsen. "Einen unwirtlicheren Ort hättest du dir nicht aussuchen können, was?", knurrte sie. "Komm mit mir, so weit unten im Tal ist es nicht sicher!"

'Im Tal?', dachte Dulcinea? Sie sah ringsherum nur Berge.

"Fürchte dich nicht, Schwester, Sicherheit ist nur ein Wunsch unserer Ängste. Fürchte den Wandel nicht, denn er ist das Leben wie Stillstand der Tod ist."

Die Frau schnaubte. "Vom Tod habe ich genug gesehen, Bruder! Ich glaubte schon, du seiest tot! Ich habe ein Grab an deiner Hütte gesehen und fand sie verlassen vor."

"Eine arme Frau", sagte er. "Harpyien haben ihrem Leben ein Ende bereitet, möge Tsa sie erneut segnen!"

"Was, bei allen Geistern!, machst du hier?" Die Alte wies mit dem Stecken über den Hang. "Ich habe Oger gesehen, sie haben am Abend Grezzano verwüstet. Na, das soll mich nicht kümmern, denn wenn ich's recht gesehen habe, haben sie dem Söldnerpack ordentlich was mitgegeben, das dort herumlungert. Die gleiche Mordsbande, die neulich meinen Kräutergarten verwüstet hat! Und dann sind noch mehr von diesen Leuten gekommen, haben die Bauern totgeschlagen, die die hässliche da Vanya in meiner Hütte einquartiert hat! Stell dir nur vor", empörte sie sich, "seit Tagen muss ich mich mit Usonzo und Miguelo auf der oberen Weide verstecken! Nicht mal in meiner eigenen Hütte hab' ich mehr Ruhe!"

"Stürme kommen und gehen", sagte der alte Mann, "auch dieser wird vorüberziehen. Habe Vertrauen, Udinia, habe Geduld!"

"Geduld, pah!", grollte die Frau. "Ich bin zu alt, um Geduld zu haben! Ich kann nicht den Rest meines Lebens darauf warten, dass dieses Pack sich zum Namenlosen schert! Ich werde gehen. Komm mit mir, Bruder, lass uns woanders hingehen, Selaque war noch nie ein gute Ort zum Leben für uns, und er ist unwirtlicher denn je!"

"Dieser Ort ist so gut wie jeder andere", widersprach der Mann. "Aber die Menschen hier brauchen uns vielleicht mehr als anderswo. Ist nicht das Wasser in der Wüste so wichtig wie auf den Weiden, auch wenn die Tropfen im Sand zu versickern scheinen und man ihr Wirken nur erahnt, wenn man mit scharfem Auge und langem Atem hinsieht?"

Die Alte brummte etwas, das Dulcinea nicht verstand. Kleine Steine drückten in Dulcineas Knie, aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Fasziniert blickte sie zu dem seltsamen Paar auf dem Felsen hinüber.

"Wo willst du denn hingehen? Zurück in die Berge? Dort wimmelt es vom Barbarenpack! Ich bitte dich, Bruder", sagte die Frau, "lass uns gehen! Was hält dich noch hier? Was hält dich in Selaque?" Ihr Tonfall änderte sich, bekam etwas Spitzfindiges. "Ist es nicht Zeit für einen Wandel, Bruder? Einen Neuanfang?"

Er lachte leise, und eine Weile schwiegen sie. Dulcinea kratzte sich vorsichtig an der Nase und fragte sich, ob sie das alles hier vielleicht nur träumte. Zu unwirklich erschienen ihr die beiden Alten im Mondlicht. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit schien, sagte der Mann:

"Du hast Recht, Udinia, ich bin schon zu lange an einem Ort gewesen. Und doch kann selbst ich mich mitunter nur schwer von Altem und Liebgewonnenem trennen. Mein Hund ist mir davongelaufen. Der dumme Junge, ich sorge mich, dass ihm etwas zugestoßen ist. Lass mich Gewissheit haben, was ihm widerfahren ist, und ich werde dich begleiten. Du findest mich hier, wo ich der Stimme des Windes lauschen und den Atem der Berge spüren werde."

"Was? Du willst, dass ich deinen Köter suche?", fragte die Frau entgeistert.

"Raffzahn", sagte er. "Ich habe ihn aus einer Felsspalte gezogen, als er ein Welpe war. Vier Jahre ist das her. Inzwischen ist er mehr als einen Schritt hoch, schwarzgrau mit grauem Wolfskopf und einem schwarzen Fleck auf der linken Stirne. Ein gutes Tier, auch wenn er sich zuweilen vor seinem eigenen Spiegelbild fürchtet."

Wieder Schweigen. Dann schüttelte die alte Frau den Kopf unter der Kapuze. "Bei allen Göttern!", murmelte sie, klemmte sich den Stecken zwischen die vielen Röcke, die sie trug, und erhob sich mit einem Satz in die Lüfte. Wie ein Pfeil schoss sie davon und war schon bald zwischen den tiefhängenden Wolken verschwunden.

Staunend sah Dulcinea ihr nach und blickte dann zu dem Alten, der reglos auf seinem Felsen saß, als sei nichts geschehen. Leise schlich Dulcinea zu ihrem Versteck zurück und legte sich hin. Ihre Angst war verschwunden, und so vergaß sie sogar, ihren Vater zu wecken, während sie über das Gesehene nachdachte und darüber allmählich in den Schlaf hinüberglitt.

Als Ordonyo di Alina sie grob an der Schulter rüttelte und sie übel beschimpfte, weil sie bei ihrer Wache eingeschlafen war, war es schon hell. Der Alte auf dem Felsen war verschwunden, und Dulcinea fragte sich wieder, ob das alles nicht nur ein Traum gewesen war.

Chronik:1033
Der Ferkina-Feldzug
Teil 34