Chronik.Ereignis1033 Feldzug Schrotenstein 08
In der Baronie Schrotenstein, 3. Rondra 1033 BF
Am Schwarzen See
3. Rondra 1033 BF, am frühen Morgen
Autor: SteveT
Mit sachten Stößen der Stakstange steuerte die Briesacher Fischerin Jasafea ihren schmalen Nachen unweit des südlichen Ufers durch die schilfgesäumten Flachwasser des riesigen Schwarzen Sees von Schrotenstein.
Normalerweise scheuchte sie dabei reihenweise Enten, Schwäne, Fischreiher und Flamingos aus ihren Brutverstecken auf. Heute aber stieg kein einziger Vogel gen Himmel - offenbar hatten sie alle schon früher das Weite gesucht. Der Grund dafür war für Jasafea, ihren jüngeren Bruder Ezequiel und den dorfältesten Fischer Boromir, der am Bug des Bootes mit dem wurfbereiten Netz stand, schon seit dem Morgengrauen zu hören: Der Wolf heulte wieder! Die ganze Gegend zwischen Briesach und Schrotenstein hatte inzwischen von der bedrohlichen Bestie gehört, deren Geheul selbst die Fische im See unruhig werden ließ, sodass sie schon seit zwei Tagen nur noch miserablen Fang machten.
"Da ist er!", rief Ezequiel plötzlich und deutete hinüber ans Ufer. Die anderen zwei folgten seinem Fingerzeig und tatsächlich - dort, halb verborgen zwischen Schilf und Wasserrohr, lief ein grau-schwarz geflecktes Raubtier nervös auf und ab und stieß zwischendurch immer wieder einmal schauriges Geheul gen Himmel aus.
"Das ist kein Wolf! Das ist gar eine Khoramsbestie!", rief Ezequiel mehr begeistert als furchtsam. "Wenn wir der den Garaus machen, sind wir bis an unser Lebensende die Helden des gesamten Dorfes!"
"Nicht stämmig genug!", widersprach ihm der alte Boromir. "Das ist bloß ein Schakal, der sich verlaufen hat, vielleicht sogar nur ein Hund."
"Das ist kein Hund!", schüttelte Jasafea bestimmt den Kopf und ließ das Ende der Ruderstange probeweise ein paar Mal wie einen Knüppel in ihre geöffnete Handfläche klatschen. "Das ist eine Bestie, der es jetzt ans Leder geht. Los Boromir! Wirf das Netz über sie! Ich wate dann bis fast ans Ufer heran, bleibe aber noch im Schutze des Wassers, und schlage ihr so lange die Stange auf den Schädel, bis sie sich nicht mehr rührt!"
Boromir nickte und visierte sein Ziel an. Er musste den Wolf an einer freien Uferstelle erwischen, andernfalls würde das Netz auf dem Schilf landen und das Untier konnte entkommen. Er wollte gerade werfen, als er Jasafea "Boron hilf!" rufen hörte.
"Das Viech hat jemanden umgebracht! Es hat einen Menschen gerissen! Da liegt eine Leiche am Ufer!", stammelte Jasafea und deutete entsetzt auf eine Uferstelle, an der tatsächlich die nackten, blutig zerschundenen Beine einer Frau aus den Wasserpflanzen ragten.
Geschockt warf Boromir sein Netz. Der grauschwarze Wolf hatte aber offenbar den Namenlosen an seiner Seite, denn das Netz verfing sich an einem zwei Schritt hohen Schilfrohr und blieb dadurch so hochgespießt hängen, dass er noch ohne Schwierigkeiten darunter herausschlüpfen konnte.
Jasafea sprang dennoch ins Wasser, wie sie es vorgehabt hatte, und stieß einige Schreie und bedrohliche Geräusche aus, auf die sie der Wolf erst eine Weile belämmert anglotzte und sogar mit dem Schwanz zu wedeln begann, dann aber nahm er doch Reißaus, als sie mit der Stakstange in seine Richtung stach.
Vorsichtig näherte sie sich der Toten, die mit dem Gesicht nach unten im Uferschlamm lag und steckte dann ihre Stange in den weichen Morast unter ihr, sodass sie sie per Hebelwirkung auf den Rücken drehen konnte.
Sie sog scharf die Luft ein und musste sofort das Gesicht abwenden. "Ihr Götter! Wie hat diese Bestie die arme Frau zugerichtet!", rief sie schockiert. Jetzt sprangen auch Boromir und ihr kleiner Bruder ins Wasser und zogen den Nachen hinter sich heran.
Die Tote war eine Frau in den Fünfzigern - ihre linke Brust war unter der zerfetzten Kleidung abgetrennt und ihr Blut hatte alles Wasser um sie herum hellrot verfärbt. Auch ihr Bein wies tiefe, schreckliche Wunden auf, die purpurn und schwarz umrändert waren.
"Ich ... ich glaube, das war kein Wolf!", brachte Ezequiel entsetzt und selbst leichenblass heraus und deutete auf die Stirn der Frau, auf der eine kolossale Beule in allen Farben des Regenbogens schimmerte. "Es sei denn, der Wolf hat ihr erst einen Knüppel über den Schädel gezogen, ehe er an ihr herumzunagen begann."
"Ihr guten Götter - der Junge hat Recht!", nickte Boromir auf diesen Einwand hin. "Aber wer sonst könnte so etwas entsetzliches getan haben?"
"Zum Beispiel die verfluchten Briganten und Mordbuben, die drüben auf der Insel hausen!", mutmaßte Jasafea verachtungsvoll. "Diese Dreckschweine haben die arme Frau zu Tode gequält und gepeinigt - wahrscheinlich weil niemand ein Lösegeld für sie aufbringen konnte oder wollte. Seht euch doch bloß ihre Muskeln an! Das ist mit Sicherheit ein bettelarmes Weib, das sein ganzes Leben lang schwer schuften und die schwerste Arbeit verrichten musste. Eine Steinbrecherin vielleicht, würde ich vermuten?"
"Auf alle Fälle war sie nicht von hier!", stellte Boromir sachlich fest, als wäre dies das einzig Gute an der Sache. "Wenn wir sie im See versenken, wird sie vielleicht auch zu einem bösartigen Wassergeist, wie die ganzen Selbstmörder, die von den Trauerklippen springen - ich meine, so schrecklich wie diese Frau gestorben ist ..."
"Ja, wir sollten sie besser ins Boot legen und mit nach Briesach nehmen, um sie auf dem Anger zu verscharren", pflichtete ihm Jasafea bei.
"Einer könnte ja sogar einen Boroni aus La Dimenzia holen, damit er ihr Grab segnet und ein paar fromme Worte darüber spricht", schlug Ezequiel vor.
Seine Schwester und der alte Boromir schüttelten sofort den Kopf. "Es läuft doch keiner bis hoch nach Ragathsquell wegen einer Toten, die nicht von hier ist. Niemand von uns kennt die Frau, und sie trägt auch nichts am Leibe, womit man ihr Begräbnis bezahlen könnte."
"Wir könnten ja bei der Baronsmutter in Schrotenstein vorsprechen", schlug Ezequiel vor. "Die haben genug Geld und könnten die Grablege der Frau bezahlen. Außerdem haben sie ein Schloss in Ragathsquell, und wenn ein berittener Bote dorthin abgeht, könnte er unterwegs auch einen Priester aus La Dimenzia kommen lassen."
"Hm ja, der Junge hat Verstand!", klopfte ihm Boromir anerkennend auf die Schulter. "Domna Belisetha ist eine barmherzige Frau - ich würde es sogar wagen, vor ihr wegen dieser Sache vorzusprechen."
Gerade als sie die Leiche zu dritt packen und in den Nachen heben wollten, entdeckte Jasafea, dass die eine Hand der Toten krampfhaft um einen glänzenden Gegenstand geschlossen war.
"Seht euch das an!", rief Boromir ehrfurchtsvoll, der das andere Handgelenk der Toten gepackt hatte und nun deren vom Wasser aufgeweichte Handfläche nach oben drehte. In der Handfläche prangte rötlich schimmernd unverkennbar das Abbild eines aufrecht stehenden Greifen, das wie eingebrannt aussah.
"D... d... das ist ein Stigmata!", stammelte er gerührt, zog seine Kappe vom Kopf und schluckte den Kloß herunter, den er plötzlich im Halse spürte. "Sie wurde vom Götterfürsten gezeichnet! Womöglich ist diese Frau eine Heilige!"
"Ein Grund mehr, die Baronsmutter darüber in Kenntnis zu setzen!", murmelte Jasafea, zeichnete das Praiosrund in die Luft und zog sich ebenfalls ihre breitkrempige Fischersmütze vom Kopf.
Nur Ezequiel war angestrengt damit beschäftigt, die verkrampfte Hand der Toten aufzubekommen, damit er die goldene Münze oder das Amulett in Augenschein nehmen konnte, das sie sogar über ihren Tod hinaus festhielt.
Ein Rascheln im Schilf ließ Boromir und Jasafea derweil zusammenzucken und aufsehen. "Der Wolf! Er kommt zurück!", riefen sie warnend.
Raffzahn hatte die ganze Szenerie aus dem Dickicht heraus mit zusammengekniffenen Augen beobachtet. Die fremden Zweibeiner scharten sich um die schlafende Leitwölfin und rissen und zogen an ihr herum, als wollten sie sie auffressen. Er stieß ein tiefes Knurren aus und hob seine Lefzen, sodass seine vier langen Reißzähne bedrohlich zum Vorschein kamen. Sprungbereit, mit gesenktem Kopf, kam er wieder näher an das ekelhafte Nass heran und begann dann zu bellen, so laut, wie er nur konnte.
"Ezequiel! Ins Boot!", rief ihm seine Schwester warnend zu, die sich gerade in den Nachen hochstemmte. "Wir müssen die Tote später holen! Er wird dich zerreißen!"
"Ja, ja, ich hab's gleich!", rief der erst sechzehnjährige Fischer zurück, der inzwischen immerhin bereits zwei der fünf Finger der Frau aufgebogen hatte. Panisch blickte er zu dem kläffenden Raubtier hinüber, das immer näher auf ihn zugeschossen kam. "Gütige Tsa! Bitte lass das Biest wasserscheu sein!", betete er stumm bei sich und fasste das güldene Amulett der Frau mit spitzen Fingern, um es mit einem festen Ruck endgültig ihrer Hand zu entreißen.
Ehe er jedoch die Münze an sich bringen konnte, schnellte plötzlich der andere Arm der 'Toten' in die Höhe und packte ihn so fest an der Gurgel, dass er nur noch ein erschrockenes und entsetztes Röcheln hervorbrachte.
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