Chronik.Ereignis1033 Feldzug Selaque 14
In der Baronie Selaque, 2. Rondra 1033 BF
In Grezzano
2. Rondra, morgens
Autor: von Scheffelstein
Stumm betrachtete Richeza Morena Solivai von Harmamund, die Tochter der Soberana des verfeindeten Hauses und Nichte des Marschalls von Almada. Noch schien die Frau nicht zu ahnen, dass mit Moritatio und ihr gleich zwei Mitglieder der befehdeten Familia ihr gegenüber am Feuer saßen. Sie schien sie ob ihrer einfachen Kleidung für Söldner aus Dom Hernáns Gefolge zu halten, und bislang hatte Richeza sich nicht die Mühe gemacht, Domna Morena eines Besseren zu belehren. Im Gegenteil: Solange die Harmamund nicht wusste, dass der Feind mithörte, sprach sie ganz siegesgewiss davon, dass Domna Praiosmin von Elenta ihrer Familia das Castillo da Vanya vermacht habe und sie es in Kürze in Besitz nehmen werde.
'Das werden wir noch sehen!', dachte Richeza und sah sich nach Dom Hernán um, der etwas abseits mit einigen seiner Söldner sprach. Letztlich, das schien er ebenfalls zu spüren, würde er das Zünglein an der Waage sein. Wie würde er sich entscheiden? Für die Elenta und die Harmamunds? Oder die da Vanyas? Ob sie ihn geradeheraus fragen sollte? Aber was sollte er darauf schon antworten?
Richeza kratzte den Rest mit Honig gesüßten Haferbrei aus ihrer Schale und bemerkte, wie einer der jungen Gefolgsmänner ihrer Tante, Landolo hieß er wohl, seinen Kumpan Zicardo in die Seite stieß. Der dritte im Bunde, Gilano, wies mit dem Daumen die Straße zum Steinbruch hinauf, und auch einige der Söldner drehten die Köpfe dorthin. Richeza folgte ihrem Blick - und der Kiefer klappte ihr herunter:
Der Junge, der sich dem Dorf näherte, war niemand anderes als ihr Vetter Praiodor. Der Knabe war barfuß und unter seiner zerschlissenen Hose schaute der Verband hervor. Sein Wams, das sah man nun deutlich, war ihm an den Armen bereits zu kurz, und sein langes Haar stand ihm verfilzt vom Kopf ab. Doch er ging, auf seinen eigenen Beinen; sicher und ohne zu zögern kam er näher. Niemand hielt ihn auf. Erst als er den Dorfplatz erreichte, wurde er langsamer, blieb schließlich stehen, blickte in die fremden Gesichter, die ihn teils anstarrten oder sich gleichgültig abwandten. "Wo ist meine Mama?"
Richeza stand langsam auf, konnte noch immer nicht glauben, was sie da sah. Praiodor, auf seinen eigenen Füßen! Er war mager, die Wangen eingefallen und doch lag eine ungekannte Röte auf seinen Lippen, der Stirn, den Wangen. Er sah so lebendig aus, wie sie ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte.
"Praiodor!", rief sie erfreut. "Praiodor, wie geht es dir?" Sie lief auf ihn zu. Der Söldnerbaron, die Harmamund, die Gräflichen, alle waren sie vergessen. Sie kniete vor ihm nieder. - Er wich vor ihr zurück. "Wo ist meine Mama?"
"Sie ist ..." Sie schluckte. Es ging ihm besser, eindeutig - wie sollte sie ihm da die schlimme Nachricht überbringen. "Praiodor, deine Mutter ist ... Sie war sehr krank, weißt du? Aber sie hat alles getan, damit es dir wieder besser geht ..." Er runzelte die Stirn. "Sie ..." Richeza holte tief Luft. "Sie ist ... gestorben, damit du leben kannst. Sie ist jetzt ..."
Er starrte sie an, machte einen Schritt zurück, blickte an ihr vorbei zu den Söldnern und Soldaten. "Habt Ihr meine Mama umgebracht?"
"Was? Ich? Praiodor, warum sollte ich? Nein, ich ..."
"Ihr lügt!" Er begann zu weinen, lautlos, versuchte sichtlich, gegen die Tränen anzukämpfen, wischte sie fort. Sie erhob sich, streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu trösten, aber er stolperte rückwärts aus ihrer Reichweite. "Warum habt Ihr das gemacht? Was habt Ihr mit mir vor? Ich will nach Hause!"
"Praiodor", sagte sie leise, "wie kannst du so etwas glauben? Nach all dem, was ich für sie und für dich getan habe?"
Einen Augenblick lang schien Praiodor verunsichert. "Meine Mama kann Euch nicht leiden!" Richeza starrte ihn an. "Sie sagt, Ihr seid das schwarze Schaf der Familie!"
"Was? Was ... redest du da?" Sie fühlte sich, als hätte er sie geschlagen. Es stimmte, Fenia hatte einmal so von ihr gedacht, vor langer Zeit, als Ramiro noch gelebt hatte, lange bevor der Junge krank und Fenia schwermütig geworden war, bevor sie am Grab ihres Onkels geschworen hatte, um Praiodors Leben zu kämpfen, weil seine Mutter es nicht vermochte.
"Ich will nach Hause!", sagte Praiodor. "Wer sind die alle?" Er wischte sich über das Gesicht. "Mein Vater ist ein Held und meine Mama ist Baronin. Ihr könnt mich nicht einfach entführen!"
"Praiodor", sagte Richeza, mit einem Anflug von Verzweiflung, "dein Vater ... ist ... auch tot", fügte sie tonlos hinzu.
"Ich weiß!" Er sah sie an. "Er ist für das Reich gefallen!" Es klang stolz. Er sah wieder zu den Soldaten, neugierig jetzt, mit den leuchtenden Augen eines Jungen, für den Krieg noch ein Spiel war oder eine Heldengeschichte. "Ist der echt?", fragte er Servando Cronbiegler, der neben Dom Gendahar und Domnatella Romina auf einem gefällten und halbierten Baumstamm saß, und deutete auf einen violetten Edelstein am Knauf des Langschwerts, das der junge Caballero mit einem Schleifstein bearbeitete.
Richezas Blick wanderte über den Knaben hinweg zu dem Mann, der soeben auf den Dorfplatz trat: Tsacharias Krähenfreund. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.
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