In der Baronie Selaque, 2. Rondra 1033 BF

In Grezzano


2. Rondra, morgens

Autor: von Scheffelstein

Stumm betrachtete Richeza Morena Solivai von Harmamund, die Tochter der Soberana des verfeindeten Hauses und Nichte des Marschalls von Almada. Noch schien die Frau nicht zu ahnen, dass mit Moritatio und ihr gleich zwei Mitglieder der befehdeten Familia in Grezzano waren. Sie schien sie ob ihrer einfachen Kleidung für Söldner aus Dom Hernáns Gefolge zu halten, und bislang hatte Richeza sich nicht die Mühe gemacht, Domna Morena eines Besseren zu belehren. Im Gegenteil: Solange die Harmamund nicht wusste, dass der Feind mithörte, sprach sie ganz siegesgewiss davon, dass Domna Praiosmin von Elenta ihrer Familia das Castillo da Vanya vermacht habe und sie es in Kürze in Besitz nehmen werde.

'Das werden wir noch sehen!', dachte Richeza und sah sich nach Dom Hernán um, der etwas abseits mit einigen seiner Söldner sprach. Letztlich, das schien er ebenfalls zu spüren, würde er das Zünglein an der Waage sein. Wie würde er sich entscheiden? Für die Elenta und die Harmamunds? Oder die da Vanyas? Ob sie ihn geradeheraus fragen sollte? Aber was sollte er darauf schon antworten?

Richeza kratzte den Rest mit Honig gesüßten Haferbrei aus ihrer Schale und bemerkte, wie einer der jungen Gefolgsmänner ihrer Tante, Landolo hieß er wohl, seinen Kumpan Zicardo in die Seite stieß. Der dritte im Bunde, Gilano, wies mit dem Daumen die Straße zum Steinbruch hinauf, und auch einige der Söldner drehten die Köpfe dorthin. Richeza folgte ihrem Blick - und der Kiefer klappte ihr herunter:

Der Junge, der sich dem Dorf näherte, war niemand anderes als ihr Vetter Praiodor. Der Knabe war barfuß und unter seiner zerschlissenen Hose schaute der Verband hervor. Sein Wams, das sah man nun deutlich, war ihm an den Armen bereits zu kurz, und sein langes Haar stand ihm verfilzt vom Kopf ab. Doch er ging, auf seinen eigenen Beinen; sicher und ohne zu zögern kam er näher. Niemand hielt ihn auf. Erst als er den Dorfplatz erreichte, wurde er langsamer, blieb schließlich stehen, blickte in die fremden Gesichter, die ihn teils anstarrten oder sich gleichgültig abwandten. "Wo ist meine Mama?"

Richeza stand langsam auf, konnte noch immer nicht glauben, was sie da sah. Praiodor, auf seinen eigenen Füßen! Er war mager, die Wangen eingefallen und doch lag eine ungekannte Röte auf seinen Lippen, der Stirn, den Wangen. Er sah so lebendig aus, wie sie ihn schon lange nicht mehr gesehen hatte.

"Praiodor!", rief sie erfreut. "Praiodor, wie geht es dir?" Sie lief auf ihn zu. Der Söldnerbaron, die Harmamund, die Gräflichen, alle waren sie vergessen. Sie kniete vor ihm nieder. - Er wich vor ihr zurück. "Wo ist meine Mama?"

"Sie ist ..." Sie schluckte. Es ging ihm besser, eindeutig - wie sollte sie ihm da die schlimme Nachricht überbringen. "Praiodor, deine Mutter ist ... Sie war sehr krank, weißt du? Aber sie hat alles getan, damit es dir wieder besser geht ..." Er runzelte die Stirn. "Sie ..." Richeza holte tief Luft. "Sie ist ... gestorben, damit du leben kannst. Sie ist jetzt ..."

Er starrte sie an, machte einen Schritt zurück, blickte an ihr vorbei zu den Söldnern und Soldaten. "Habt Ihr meine Mama umgebracht?"

"Was? Ich? Praiodor, warum sollte ich? Nein, ich ..."

"Ihr lügt!" Er begann zu weinen, lautlos, versuchte sichtlich, gegen die Tränen anzukämpfen, wischte sie fort. Sie erhob sich, streckte die Hand nach ihm aus, um ihn zu trösten, aber er stolperte rückwärts aus ihrer Reichweite. "Warum habt Ihr das gemacht? Was habt Ihr mit mir vor? Ich will nach Hause!"

"Praiodor", sagte sie leise, "wie kannst du so etwas glauben? Nach all dem, was ich für sie und für dich getan habe?"

Einen Augenblick lang schien Praiodor verunsichert. "Meine Mama kann Euch nicht leiden!" Richeza starrte ihn an. "Sie sagt, Ihr seid das schwarze Schaf der Familie!"

"Was? Was ... redest du da?" Sie fühlte sich, als hätte er sie geschlagen. Es stimmte, Fenia hatte einmal so von ihr gedacht, vor langer Zeit, als Ramiro noch gelebt hatte, lange bevor der Junge krank und Fenia schwermütig geworden war, bevor sie am Grab ihres Onkels geschworen hatte, um Praiodors Leben zu kämpfen, weil seine Mutter es nicht vermochte.

"Ich will nach Hause!", sagte Praiodor. "Wer sind die alle?" Er wischte sich über das Gesicht. "Mein Vater ist ein Held und meine Mama ist Baronin. Ihr könnt mich nicht einfach entführen!"

"Praiodor", sagte Richeza, mit einem Anflug von Verzweiflung, "dein Vater ... ist ... auch tot", fügte sie tonlos hinzu.

"Ich weiß!" Er sah sie an. "Er ist für das Reich gefallen!" Es klang stolz. Er sah wieder zu den Soldaten, neugierig jetzt, mit den leuchtenden Augen eines Jungen, für den Krieg noch ein Spiel war oder eine Heldengeschichte. "Ist der echt?", fragte er Servando Cronbiegler, der neben Dom Gendahar und Domnatella Romina auf einem gefällten und halbierten Baumstamm saß, und deutete auf einen violetten Edelstein am Knauf des Langschwerts, das der junge Caballero mit einem Schleifstein bearbeitete.

Richezas Blick wanderte über den Knaben hinweg zu dem Mann, der soeben auf den Dorfplatz trat: Tsacharias Krähenfreund. Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen.


Autor: Romina Alba

Die Comtessa hatte gut und lange geschlafen. Jetzt saß sie neben ihrem Onkel und Dom Servando auf einem Baumstumpf und frühstückte. Inzwischen waren fast alle hier im Lager bei ihr gewesen und hatten ihre Freude darüber zum Ausdruck gebracht, dass sie unversehrt aus den Bergen zurück sei. Einigen Söldner schien es herzlich egal und auch Dom Hernán hatte sich ihr noch nicht genähert, sie beobachtete ihn und fragte sich, was wohl in ihm vorging.

Der Castellan hatte ihr erzählt, dass der Baron unter anderem wegen ihr hier wäre, stockte aber dann und wollte nicht damit rausrücken, was er mit "unter anderem" meinte. Sie hasste es, wenn man sie nicht aufklärte, doch sie beließ es dabei und beschloss, den Baron bei Gelegenheit selbst zu fragen.

Domna von Harmamund hatte auch einige oberflächliche Worte mit ihr gewechselt, jetzt saß sie da und sang ein Loblied auf die unmögliche Praiosmin, die hier mitten in einem Ferkinasturm eine Fehde vom Zaun brach. Keiner hier machte die Frau darauf aufmerksam, dass zwei Mitglieder der verfeindeten Familia da Vanya nah neben ihr am Feuer saßen und mithörten. Romina sah zu Richeza. Deren Disziplin war bewundernswert. Es gab bestimmt Gründe, eine Fehde gegen Rifada da Vanya vom Zaun zu brechen, warum nur störte es sie selbst so sehr, dass diese Harmamund so eine große Klappe hatte.

Plötzlich wurden die beiden Männer neben ihr still und schauten staunend auf den Knaben Praiodor, der auf seinen eigenen Füßen mitten auf dem Platz stand. Richeza kam sofort zu ihm und sprach mit ihm, der Knabe fragte nach seiner Mutter und schien der Scheffelsteinerin gegenüber eher scheu und unfreundlich. Ja, er wich sogar vor ihr zurück, kam stattdessen zu ihrer Gruppe und fragte nach einem Edelstein am Knauf des Schwertes von Dom Servando. Dieser bestätigte lächelnd die Echtheit des Amethysts. Der Knabe berührte den Stein und lachte begeistert, es war unglaublich, hatte er nicht eben erst vom Tod der Mutter erfahren? Vielleicht war sein Geist getrübt.

"Praiodor", versuchte sie die Aufmerksamkeit des Knaben zu erlangen. "Praiodor, du warst lange krank, und deine Base", sie deutete auf Richeza, "hat dich gesucht und unter Lebensgefahr aus den Ferkinabergen gebracht. Es ist nicht recht, dass du so mit ihr sprichst. Du musst erst zuhören, was passiert ist, hörst du? Es ist nicht recht, einfach so ein Urteil zu sprechen, weil man etwas gehört hat." Sie sah den Jungen streng an. "Gerade, weil deine Mutter Baronin und dein Vater ein Held war, gerade deswegen musst du dich benehmen und die Cortezia ehren, junger Mann."


Autor: von Scheffelstein

Praiodor wandte den Blick von dem Schwert ab und der Comtessa zu. Sein Lächeln schwand, verunsichert sah er von Romina zu Richeza und wieder zurück, schaute zu Gendahar auf, zu Servando Cronbiegler, der stolz irgendetwas Belangloses über das Schwert erzählte und wieder zur Comtessa.

"Meine Mama mag sie nicht", sagte er leise und blickte zu Boden, spielte mit den Zehen im rötlichen Staub, sah wieder zu Romina auf, unsicher. "Warum ist sie tot? Warum sind die Soldaten hier?" Er schaute zu den Bergen hinauf, deren Gipfel von der noch jungen Morgensonne erleuchtet wurden. "Ich kenne die Berge nicht", sagte er. "Warum habt ihr mich hierher gebracht?" Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf den Topf mit Haferbrei und senkte den Blick dann auf seine Füße. Seine Lippen zuckten leicht, als suche er nach Worten, dann suchten seine Augen erneut die der Comtessa, sein Gesicht eine einzige unausgesprochene Frage.


Autor: SteveT

Alle Glieder taten ihm weg, als sich Moritatio am nächsten Morgen wie zerschlagen von seinem steinigen Lager zwischen den zwei Steinbrecherhütten erhob. Sicher, er hätte im Schutze der Dunkelheit in eine der beiden Hütten schleichen können - aber darin hatten - dem Schnarchen und auch anderen Körpergeräuschen nach - mindestens vier oder fünf Söldner genächtigt. Vielleicht waren es sogar Waffenknechte des falschen Grafen gewesen - so oder so hatte er keine Lust gehabt, des Nachts dumme Fragen zu beantworten, warum er sich hier herumdrückte und nicht bei seinen anderen Gefährten schlief. Seinen Gefährten ...?

Im Grunde war er nur noch wegen Richeza hier, und die hatte ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass es für ihn keinen Platz in ihrem Leben gab. Nach der tiefen Leere, die er gestern Abend direkt nach dieser Eröffnung verspürt hatte, war er heute nur noch traurig. Was blieb ihm jetzt noch? Gewiss, Punin war eine wunderschöne Stadt - aber ihn erwartete dort nur großer Ärger und danach wochenlanger Drill und Schikane. Mit etwas Hoffnung im Herzen, hätte er das alles schon durchgestanden - aber jetzt dachte er ernsthaft daran, ganz woanders hin zu reisen. Irgendwohin weit fort, wo ihn kein Mensch kannte ...

Sein Magen machte sich knurrend bemerkbar - ihm fiel erst jetzt auf, dass er seit gestern Nachmittag nichts mehr gegessen hatte. Er spähte um die Ecke und blickte die Dorfstraße hinab. War das nicht eben der magere kleine Praiodor gewesen, der auf seinen eigenen zwei Füßen an ihm vorbeimarschiert war? Unsinn! Schließlich hatte der Junge gestern noch blass wie ein Toter auf der Tragbahre gelegen. Er sah, wie sich Richeza aus dem Grüppchen der anderen löste und vor dem Jungen auf die Knie ging. Es musste tatsächlich Praiodor sein! Zu gerne hätte er sich dieses medicinische Wunder aus der Nähe angesehen - aber die vermaledeite Harmamund hockte in Richezas Rücken, zusammen mit den Leuten, mit denen er bis gestern noch gereist war, und redete auf sie ein, als wären sie die allerbesten Freunde. Es juckte ihn in den Fingern, einfach mir nichts, dir nichts hinüber zu gehen und dem unausstehlichen Weibsbild links und rechts klatschend eine runterzuhauen.

"Eine für dich, eine für die Frau Mama!", würde er ihr dann sagen. Aber es stand zu befürchten, dass sie eine weitaus bessere Fechterin als er selbst war. Er hatte ja noch nicht einmal ein intaktes Rapier ...


Autor: Der Sinnreiche Junker

„Verzeiht, Euer Hochgeboren…“, räusperte sich plötzlich Hernán von Aranjuez ganz in Domna Rominas Nähe. Eigentlich hätte sie ihn wohl bemerken müssen, klapperte die recht mitgenommen wirkende Rüstung doch bei jedem Schritt, doch hatte der kleine Praiodor scheinbar ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht, und ohnehin war das gesamte Lager von reger Betriebsamkeit erfüllt, sodass eigentlich ständig überall irgendetwas klapperte und schepperte.

In der Rüstung wirkte der Kratzfuß freilich reichlich unelegant, doch waren solcherlei Fragen der Etikette hier oben wohl eher nachrangig. „Verzeiht, dass ich noch keine Gelegenheit hatte, Euch angemessen zu begrüßen, Euer Hochgeboren. Ich bin Hernán von Aranjuez. Als ich gestern endlich Zeit fand, Euch aufzusuchen, sagte man mir, Ihr wäret bereits zu Bett gegangen. Oder womit wir hier oben so an Schlafgelegenheiten dienen können“, lächelte er entschuldigend. Tatsächlich hatte man der Grafentochter eine Hängematte überlassen, was für jemanden, der nicht daran gewöhnt ist, alles andere als bequem war, wenn auch mutmaßlich bequemer als die von den ehemaligen Bewohnern zurück gelassenen, strohgefüllten Säcke mit denen die meisten anderen im Lager Vorlieb nehmen mussten.

Tatsächlich war bereits während dem Essen eine Gruppe Mercenarios aufgebrochen, und kurz bevor sie sich zur Ruhe begeben hatten eine weitere. Wer lange genug wach gewesen war, oder nur einen leichten Schlaf hatte, der hatte bemerkt, dass das Lager die ganze Nacht nicht zur Ruhe gekommen war, sondern mehrfach Gruppen waffenklirrend gekommen und gegangen waren. Offenbar war der Ausflug in den Raschtulswall auch nach der glücklichen Rückkehr der Vermissten noch nicht für alle beendet.

Der Baron und Junker, das wusste Romina Alba, genoss in Ragath und darüber hinaus einen eher zweifelhaften Ruf. Einen Tag nach ihrer Geburt endete vor Punin die Usurpation Answin von Rabenmunds in Almada, und es war ihr Vater gewesen, der ihn dreizehn Jahre später begnadigt hatte, sodass er aus dem Exil auf die heimatlichen Güter in der Mark zurückkehren konnte. Gedankt hatte er es Dom Brandil, indem er während des Jahres des Feuers abermals unter dem Rabenbanner stritt. Nachdem er so auch die letzten fünf Jahre ihres Lebens fernab der Heimat verbracht hatte, hatte sie ihn wohl erst auf der jüngsten Landständeversammlung wahrgenommen, wo mit seinem verspäteten Auftritt nicht nur die Eroberung von Oberfels verkündet worden war, sondern auch sehr zum Verdruss ihres gräflichen Vaters die Erhebung des ungeliebten Junkers zum Baron von Dubios durch den Kaiser – mehr oder weniger über den Kopf des Grafen hinweg.





Chronik:1033
Der Ferkina-Feldzug
Teil 14