Chronik.Ereignis1033 Feldzug Ferkinalager 08: Unterschied zwischen den Versionen

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==Im [[Raschtulswall]], 25. Praios [[Annalen:1033|1033]] BF==
==Im [[Raschtulswall]], 25. und 26. Praios [[Annalen:1033|1033]] BF==
===Am Fuße des Djer Kalkarif im Raschtulswall===
===Am Fuße des Djer Kalkarif im Raschtulswall===


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====25. Praios====
'''Autor''': [[Benutzer:Von Scheffelstein|von Scheffelstein]]
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"Bitte", flüsterte Richeza, "lasst mich ihn finden. Lebend." Doch die Götter schienen ihr in dieser Nacht so fern wie in jeder, seit beinahe zwanzig Jahren. So starrte sie weiter in die Dunkelheit und lauschte dem Klagen des Windes.
"Bitte", flüsterte Richeza, "lasst mich ihn finden. Lebend." Doch die Götter schienen ihr in dieser Nacht so fern wie in jeder, seit beinahe zwanzig Jahren. So starrte sie weiter in die Dunkelheit und lauschte dem Klagen des Windes.


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====26. Praios====
'''Autor''': [[Benutzer:Von Scheffelstein|von Scheffelstein]]
'Nein', schrie Richeza, 'deine Mutter!' Sie riss sich los und stürmte zurück in den Burghof, mitten hinein in das Dutzend Bewaffneter, die das Ross ihrer Tante umringten. Sie griff nach ihrem Degen – nur um entsetzt festzustellen, dass er nicht an ihrer Seite hing. Moritatio drückte ihr einen Säbel in die Hand.
'Was tust du hier?', schrie Richeza.
'Ich werde dich selbstverständlich begleiten', sagte er.
'Schau dich doch an, du kannst ja kaum noch stehen', rief sie und stieß ihn zurück. 'Bring dich in Sicherheit! Ich muss Praiodor finden!'
Er sah sie vorwurfsvoll an. 'Du hättest niemals alleine gehen dürfen!'
Richeza blieb keine Zeit zu antworten. Von überall drangen Bewaffnete auf sie ein. Richeza ließ den Säbel kreisen, doch für jeden, den sie zu Boden schickte, schienen zwei weitere Kämpfer dazuzukommen. Die Tücher, die ihre bärtigen Gesichter bedeckten, flatterten im Wind. Ferkinas!
Wütend erwehrte sich Richeza ihrer Hiebe, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie der Übermacht erliegen würde. Schon zerrten die ersten Wilden an ihren Armen und Beinen. Schreiend schlug Richeza um sich. Eine gepanzerte Hand streckte sich ihr entgegen und zog sie auf ein großes, schwarzes Ross.
Richeza schlang die Arme um den Rücken ihrer Tante, und das Tier sprengte davon, einen morastigen Weg entlang, der von Olivenbäumen gesäumt war. Schlamm spritzte unter den Hufen des Pferdes auf, und der Wind zerrte an Richezas Haaren.
Sie wusste nicht, wie lange sie durch eine sich kaum ändernde Landschaft ritten, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ihre Tante das Ross anhielt und zu Boden sprang.
"Gut gemacht, Qualalahina", sagte sie und tätschelte den Hals des Pferdes. Sie streckte Richeza den Handschuh entgegen.
'Danke', sagte Richeza, als sie die Hand nahm. 'Es hat nicht viel gefehlt.'
'Reiner Eigennutz, Teuerste!', sagte ihre Tante und klappte das Visier hoch. Aureolus von Elenta grinste sie an.
Richeza schrie auf und wollte ihre Hand zurückziehen, doch der Panzerhandschuh hielt ihre Finger fest umschlossen. Der Elentaner riss an ihrem Arm, dass sie durch die Luft geschleudert wurde und stöhnend auf dem Boden landete.
Aureolus lachte meckernd – doch als Richeza den Kopf hob, war er verschwunden. An seiner Stelle stand ein alter Mann mit zerzaustem, weißem Haar und einem langen Bart. Bis auf ein Tuch, das er sich um die Hüften gebunden hatte, und Felle um seine Füße war er nackt. Unzählige bunte Federn, Steine und kleine Tierschädel hingen an einer Lederschnur um seine Brust.
"Scheene Frau ganz alleine?", fragte er.
Richeza versuchte sich aufzurappeln, aber der Wind drückte sie gegen den Eingang einer Felsspalte. Nur mit Mühe kam sie auf die Füße, vermochte sich jedoch nicht gegen den Sturm anzustemmen.
"Wer ... bist du ... Tsacharias Krähenfreund?", fragte Richeza. Erstaunt stellte sie fest, dass der Wind dem Alten nichts anhaben konnte. Er stand seelenruhig auf einem Felsblock über ihr und starrte aus dunklen Augen auf sie herab.
"Krähen, Geier, lustige kleine Vogel, die singen am Morgen, viel Vogel Freund der Luft", kicherte der Alte. Er war kein Almadaner. Sein Dialekt hörte sich eher ... tulamidisch an? Nein, auch nicht: novadisch?
Richeza runzelte die Stirn, dann versuchte sie es auf Tulamidya. "Ich meine: Tsacharias Krähenfreund – ist das dein Name? Ich ... suche dich nämlich. Äh ... wenn du der bist, der ..." Sie verstummte. Das war alles so unwirklich. Wo war der verfluchte Bastardsohn der Domna Praiosmin hin? Sie konnte ihn nirgends entdecken. Und ihre Tante – war die nicht ...? Träumte sie etwa?
"Du suchst mich, ja? Ich suche dich. Sehr gut, sehr gut." Der Alte hatte nun auch ins Tulamidische gewechselt. Irgendetwas schien ihn zu erheitern, doch plötzlich wurde er ernst, sein Blick lauernd.
"Ras'Ragath. Bist du die Tochter der Hairani von Ras'Ragath?"
Richeza hob verwirrt die Schultern. Sie musste träumen. Verstohlen kniff sie sich in den Arm. Es tat weh. "Ich ..." Sie schüttelte den Kopf, hob erneut die Schultern. Ragath? Ob sie eine Tochter der Herrscher von Ragath war? Was zum ...? "Ich weiß nicht", sagte sie. "Vielleicht? Meine Vorfahren herrschten über Ragath, das ist wahr. Aber warum willst du das wissen?"
"Also bist du eine Tochter der Hairani von Ras'Ragath, ja?"
"Zum Namenlosen, was willst du von mir? Schön, meine Ahnen herrschten über Ragath. Und? Sagst du mir jetzt deinen Namen? Wenn du Tsacharias Krähenfreund bist, dann solltest du nämlich wissen, dass meine Verwandten ..."
Abermals brach sie ab. Wenn der Alte der gesuchte Heiler war, zeigte sie sich besser versöhnlich, solange sie ihn noch brauchte. Andererseits – falls er es nicht war ...? Richeza reckte ihren Arm nach dem Dolch im Stiefel, doch der Wind hatte plötzlich an Kraft gewonnen, presste sie hart gegen die Felswand. Das Haar flatterte ihr ins Gesicht, und als sie den Mund öffnete, fuhr der Sturm mit solcher Macht in ihre Kehle, dass sie zu ersticken glaubte. Im nächsten Moment wurde sie in die Höhe gerissen, wirbelte schreiend ein halbes Dutzend Schritt über dem Boden und flog, ohne zu wissen wie, auf dem Rücken liegend auf eine Klippe zu, während der Alte mit unterschlagenen Beinen neben ihr in der Luft saß und lachte. Sein Kichern und Brabbeln ging im Tosen des Sturmes unter, der sie nur knapp an der Klippe vorbeifegte.
'Aufwachen!', dachte Richeza. 'Komm schon, wach auf!'
Aber der Alptraum fand kein Ende, der Höllenflug dauerte an. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als sie kopfüber auf eine Schlucht zu sauste, die ihr vage bekannt vorkam, ihr Magen machte einen Satz, als sie urplötzlich zu fallen schien – ihr rechtes Bein absurd in die Höhe gereckt, als habe es sich an einem unsichtbaren Ast verfangen. Plötzlich tauchten Zelte unter ihr auf, Gesichter starrten zu ihr herauf, Gesichter von Frauen, Kindern und Schafen, dann schlug sie unsanft auf staubigem Boden auf.
Der Alte stand neben ihr und brüllte etwas in der kehligen Sprache der Ferkinas. Zwei junge Männer kamen herbeigerannt, und Augenblicke später hockte der eine rittlings auf ihrem Bauch und drückte ihre Hände neben ihrem Kopf in den Sand.
Richeza dämmerte allmählich, dass sie ''jetzt'' nicht mehr träumte. Erschrocken schrie sie auf, versuchte, den Jungen abzuschütteln, doch er war stärker als sie. Richeza bäumte sich auf, schrie und strampelte, konnte aber nicht verhindern, dass der zweite junge Mann ihr die Stiefel auszog und die Füße fesselte. Als der Bursche, der auf ihr saß, sie kurz losließ, griff sie ihm ins Gesicht und drückte ihm die gekrallten Finger in die Augen. Der Junge brüllte, sein Griff lockerte sich, dann traf Richeza ein Stiefeltritt ins Gesicht, dass ihre Zähne aufeinander schlugen und ihr Hinterkopf hart auf den Stein prallte.
"Nein!", rief der Alte. Seine übrigen Ferkina-Worte verstand die Edle nicht, aber er schien wütend zu sein. Er wies auf ein Zelt in der Nähe. Der Junge, der auf Richeza saß, erhob sich und fragte etwas. Der zweite Bursche schüttelte den Kopf und redete auf den Alten ein. Dann zuckten sie beide vor dem zornigen Gebrüll des Greises zurück. Speichelfäden flogen aus dem fast zahnlosen Mund des Alten. "Ich bin der Nuranshâr!", brüllte er. Er brüllte noch viel mehr, Worte, die Richeza nichts sagten, die aber bewirkten, dass die beiden Burschen ihr hastig unter die Arme griffen und sie auf die Füße zerrten. Benommen stellte sie fest, dass auch ihre Hände gefesselt waren. Die Jungen schleiften sie auf das Zelt zu und stießen sie zu Boden. Einer ihrer Stiefel landete in Richezas Gesicht. Ihr schwindelte.
"Seeeehrrr, seeehrr gut!", kicherte der Alte. "Ihr zwei scheene Frau. Shâr seeeehrrr zufrieden mit [[Ghazal iban Muyanshîr|Ghazal]]. Wenn Shâr zuruck, Shâr wählst eine Frau, Ghazal wähle andere."
Das irre Lachen war das Letzte, was Richeza hörte, ehe der Traum endlich zu Ende war.





Version vom 9. Mai 2011, 19:03 Uhr

Im Raschtulswall, 25. und 26. Praios 1033 BF

Am Fuße des Djer Kalkarif im Raschtulswall


25. Praios

Autor: von Scheffelstein

Richeza lag bäuchlings zwischen zwei dornigen Sträuchern und blickte auf die Zelte hinab, die über das Plateau verstreut lagen wie Kieselsteine in einem ausgetrockneten Bachbett. Hundert oder mehr Zelte mussten es sein. Selbst in den angrenzenden Schluchten konnte die Edle Jurten entdecken, und wo immer ein paar Büschel Gras aus dem Boden ragten, waren Bergpferde oder Esel angebunden oder liefen Ziegen und Schafe umher und stritten mit mahlenden Kiefern um das karge Mahl. Hier also hatten die verfluchten Ferkinas ihr Lager aufgeschlagen! Richeza dankte dem Schicksal, dass sie ihnen nicht in die Hände gefallen war.

Mehr als eine Stunde, schätzte sie, hatte sie in ihrem Versteck ausgeharrt, ehe sie gewagt hatte, herauszukriechen und sich von den Handfesseln zu befreien. Der Strick hatte inzwischen so tief in ihr Fleisch geschnitten, dass ihre Finger ganz blau gewesen waren und ihre Gelenke wund und blutig. Schlimmer aber war, dass die Ferkinas ihre Ausrüstung mitgenommen hatten. Sie hatte nichts: keine Rüstung, keinen Umhang, keine Decke, und selbst ihre Waffe hatte sie auf dem Djer Kalkarif verloren. Am schmerzlichsten aber war, dass sie weder eine Feldflasche, noch etwas zu Essen hatte. Ihr knurrender Magen erinnerte sie zunehmend, dass sie, bis auf das aufgeweichte Brot am Morgen, an diesem Tag noch nichts gegessen hatte.

Seit einem guten Wasserlauf beobachtete Richeza das Lager der Ferkinas und wägte ab, ob sie es wagen konnte – oder musste? – hinab zu schleichen, um nach ihrer Ausrüstung zu suchen oder wenigstens etwas Essbares und ein Fell oder eine Decke zu stehlen. Viele Krieger entdeckte sie nicht auf den ersten Blick. Aber jede Frau, jedes Kind und jeder Greis konnten ihr ebenso gefährlich werden. Es reichte, dass auch nur ein Ferkina sie entdeckte – dann hätte sie keine Hoffnung mehr, zu entkommen. Andererseits: Wenn sie ohne Umhang und ohne Nahrung und ohne Waffe hinaus ins Gebirge liefe – wie groß wäre ihre Hoffnung, auch nur die Nacht zu überleben?

Die Edle kaute an ihre Unterlippe. Es war zum Verzweifeln! Was hatte sie nur geritten, allein auf den verdammten Berg zu klettern? Sie blickte hinüber zum Djer Kalkarif. Vielleicht konnte sie zurückkehren zu der Höhle, in der die anderen übernachtet hatten. Vielleicht hatten sie ja doch auf sie gewartet? Im selben Moment verfluchte Richeza sich für diesen Gedanken. Praiodor! Sie hatten versprochen, Praiodor zu suchen! Wie konnte sie sich nur wünschen, sie würden auf sie warten? Was auch immer sie tat: Die Hoffnung, lebend aus dem Gebirge zurückzukehren, war gering, die Hoffnung, den Ferkinas zu entkommen beinahe noch geringer, falls der Elentaner sie gegen sie aufhetzen sollte. Die Hoffnung, Praiodor und seine Mutter zu finden aber – zumal lebend –, schwanden von Stunde zu Stunde.

Richeza schob sich den Fingernagel in den Mund und fuhr sich über die Zähne. Was konnte sie tun? Sich auf die Suche nach den anderen begeben? Aber wenn die nicht mehr in der Höhle waren, so blieb ihr nichts, als der Rückweg nach Grezzano, in der Hoffnung, die Siedlung zu erreichen, bevor sie verhungerte oder von Berglöwen gefressen wurde oder entkräftet in eine Spalte stürzte. Noch aussichtsloser war es, sich allein auf die Suche nach Praiodor und seiner Mutter zu machen. Der Raschtulswall war zu groß. Ohne Ausrüstung wäre sie verloren. Und was, wenn die Ferkinas Domna Fenia und Praiodor gefangen hatten? Sollte sie zuerst im Lager der Wilden nachsehen? Vielleicht war dort auch das Grafentöchterlein und wusste mehr? Wie aber sollte Richeza das Zelt finden, in dem die Barbaren ihre Gefangenen unterbrachten? Unmöglich, hundert Zelte zu durchsuchen, ohne entdeckt zu werden!

Richeza schnippte eine Spinne fort, die über ihre Hand lief. Und wenn sie versuchte ... die Ferkinas ... für sich zu nutzen? Vielleicht ... konnten die Praiodor und Fenia für sie finden. Vielleicht ... Doch das würde bedeuten ...

Richeza schloss die Augen. Wie sie es drehte und wendete, es lief stets auf dieselbe unerfreuliche Wahl hinaus: Entweder, sie opferte sich. Oder Praiodor. Und höchstwahrscheinlich würden sie beide sterben – falls ihr Vetter und seine Mutter überhaupt noch lebten. Doch wenn sie nicht alles versuchte, was in ihrer Macht stand, war alles umsonst gewesen: Das Opfer ihrer Tante, die gefallenen Söldner des Aranjuezers, die Gefahr, in die sie Moritatio und den Yaquirtaler gebracht hatte, alle Mühen der letzten Jahre, als sie nach einem Heilmittel für Praiodor gesucht hatte.

Ein Sieg wird im Kopf entschieden, pflegte ihr Großvater zu sagen. Wenn sie versagte, würde sie sterben. So oder so. Aber wenn nur die leiseste Hoffnung bestand, wenigstens das Leben ihres Vetters zu bewahren, so wollte sie sie nutzen. Richeza schluckte. Dann zog sie sich von der Klippe zurück und richtete sich auf. Sie hatte ihre Wahl getroffen.


Autor: von Scheffelstein

Richeza starrte in die Dunkelheit. Der Himmel hatte sich erneut zugezogen, Madamal und Sterne waren nicht zu sehen. Wie finster es hier war, so anders als in Punin, wo selbst nachts der Himmel von den Laternen und Wachfeuern widerschien und anders auch, als in Kornhammer, wo wenigstens die Fackeln am Burgtor und die Nachtkerzen am Traviatempel die Finsternis erhellten.

Die Edle wagte nicht, ein Feuer zu machen. Zu viele Ferkinas trieben sich in der Gegend herum. Ob der Bastard sie bereits gegen sie aufgehetzt hatte und sie nach ihr suchten? Richeza zog sich die muffige Decke fester um den Leib und kauerte sich gegen die harte Wand der Spalte, in der sie sich versteckt hielt.

Sie war ein großes Wagnis eingegangen, als sie in eines der abseits stehenden Zelte des Lagers eingedrungen war, in der Hoffnung, sich nicht darin zu täuschen, es leer vorzufinden. Es war leer gewesen. Gierig hatte sie eine Kalebasse mit Beerenwein geleert, der ihr rasch zu Kopf gestiegen war, hatte einen der Schinken losgeschnitten, die an Querstreben vom Dach der Jurte hingen, sich eine Decke geschnappt und eine steinerne Axt, die ihr schwer und unhandlich schien und ihr im Kampf kaum nützen würde. Dann war sie wieder aus dem Zelt gehuscht, vorbei an verräterisch blökenden Schafen, und hatte sich, so schnell sie konnte, vom Lager entfernt.

Wie sollte sie nur Praiodor und seine Mutter finden, allein, verfolgt von Ferkinas, in einer Wildnis, die sie auf hundert verschiedene Arten zu töten vermochte? Aber die Vorstellung, sich an die Ferkinas zu verkaufen, um sie vielleicht, vielleicht dazu zu bringen, für sie nach dem Jungen zu suchen, erfüllte sie mit solcher Abscheu, dass sie es vorzog, zu scheitern. Auch wenn sie wusste, dass der Tod ihres Vetters sie nicht minder schwer treffen würde als der ihres Onkels.

"Bitte", flüsterte Richeza, "lasst mich ihn finden. Lebend." Doch die Götter schienen ihr in dieser Nacht so fern wie in jeder, seit beinahe zwanzig Jahren. So starrte sie weiter in die Dunkelheit und lauschte dem Klagen des Windes.


26. Praios

Autor: von Scheffelstein

'Nein', schrie Richeza, 'deine Mutter!' Sie riss sich los und stürmte zurück in den Burghof, mitten hinein in das Dutzend Bewaffneter, die das Ross ihrer Tante umringten. Sie griff nach ihrem Degen – nur um entsetzt festzustellen, dass er nicht an ihrer Seite hing. Moritatio drückte ihr einen Säbel in die Hand.

'Was tust du hier?', schrie Richeza.

'Ich werde dich selbstverständlich begleiten', sagte er.

'Schau dich doch an, du kannst ja kaum noch stehen', rief sie und stieß ihn zurück. 'Bring dich in Sicherheit! Ich muss Praiodor finden!'

Er sah sie vorwurfsvoll an. 'Du hättest niemals alleine gehen dürfen!'

Richeza blieb keine Zeit zu antworten. Von überall drangen Bewaffnete auf sie ein. Richeza ließ den Säbel kreisen, doch für jeden, den sie zu Boden schickte, schienen zwei weitere Kämpfer dazuzukommen. Die Tücher, die ihre bärtigen Gesichter bedeckten, flatterten im Wind. Ferkinas!

Wütend erwehrte sich Richeza ihrer Hiebe, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie der Übermacht erliegen würde. Schon zerrten die ersten Wilden an ihren Armen und Beinen. Schreiend schlug Richeza um sich. Eine gepanzerte Hand streckte sich ihr entgegen und zog sie auf ein großes, schwarzes Ross. Richeza schlang die Arme um den Rücken ihrer Tante, und das Tier sprengte davon, einen morastigen Weg entlang, der von Olivenbäumen gesäumt war. Schlamm spritzte unter den Hufen des Pferdes auf, und der Wind zerrte an Richezas Haaren.

Sie wusste nicht, wie lange sie durch eine sich kaum ändernde Landschaft ritten, aber es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis ihre Tante das Ross anhielt und zu Boden sprang.

"Gut gemacht, Qualalahina", sagte sie und tätschelte den Hals des Pferdes. Sie streckte Richeza den Handschuh entgegen.

'Danke', sagte Richeza, als sie die Hand nahm. 'Es hat nicht viel gefehlt.'

'Reiner Eigennutz, Teuerste!', sagte ihre Tante und klappte das Visier hoch. Aureolus von Elenta grinste sie an.

Richeza schrie auf und wollte ihre Hand zurückziehen, doch der Panzerhandschuh hielt ihre Finger fest umschlossen. Der Elentaner riss an ihrem Arm, dass sie durch die Luft geschleudert wurde und stöhnend auf dem Boden landete.

Aureolus lachte meckernd – doch als Richeza den Kopf hob, war er verschwunden. An seiner Stelle stand ein alter Mann mit zerzaustem, weißem Haar und einem langen Bart. Bis auf ein Tuch, das er sich um die Hüften gebunden hatte, und Felle um seine Füße war er nackt. Unzählige bunte Federn, Steine und kleine Tierschädel hingen an einer Lederschnur um seine Brust.

"Scheene Frau ganz alleine?", fragte er.

Richeza versuchte sich aufzurappeln, aber der Wind drückte sie gegen den Eingang einer Felsspalte. Nur mit Mühe kam sie auf die Füße, vermochte sich jedoch nicht gegen den Sturm anzustemmen.

"Wer ... bist du ... Tsacharias Krähenfreund?", fragte Richeza. Erstaunt stellte sie fest, dass der Wind dem Alten nichts anhaben konnte. Er stand seelenruhig auf einem Felsblock über ihr und starrte aus dunklen Augen auf sie herab.

"Krähen, Geier, lustige kleine Vogel, die singen am Morgen, viel Vogel Freund der Luft", kicherte der Alte. Er war kein Almadaner. Sein Dialekt hörte sich eher ... tulamidisch an? Nein, auch nicht: novadisch?

Richeza runzelte die Stirn, dann versuchte sie es auf Tulamidya. "Ich meine: Tsacharias Krähenfreund – ist das dein Name? Ich ... suche dich nämlich. Äh ... wenn du der bist, der ..." Sie verstummte. Das war alles so unwirklich. Wo war der verfluchte Bastardsohn der Domna Praiosmin hin? Sie konnte ihn nirgends entdecken. Und ihre Tante – war die nicht ...? Träumte sie etwa?

"Du suchst mich, ja? Ich suche dich. Sehr gut, sehr gut." Der Alte hatte nun auch ins Tulamidische gewechselt. Irgendetwas schien ihn zu erheitern, doch plötzlich wurde er ernst, sein Blick lauernd. "Ras'Ragath. Bist du die Tochter der Hairani von Ras'Ragath?"

Richeza hob verwirrt die Schultern. Sie musste träumen. Verstohlen kniff sie sich in den Arm. Es tat weh. "Ich ..." Sie schüttelte den Kopf, hob erneut die Schultern. Ragath? Ob sie eine Tochter der Herrscher von Ragath war? Was zum ...? "Ich weiß nicht", sagte sie. "Vielleicht? Meine Vorfahren herrschten über Ragath, das ist wahr. Aber warum willst du das wissen?"

"Also bist du eine Tochter der Hairani von Ras'Ragath, ja?"

"Zum Namenlosen, was willst du von mir? Schön, meine Ahnen herrschten über Ragath. Und? Sagst du mir jetzt deinen Namen? Wenn du Tsacharias Krähenfreund bist, dann solltest du nämlich wissen, dass meine Verwandten ..."

Abermals brach sie ab. Wenn der Alte der gesuchte Heiler war, zeigte sie sich besser versöhnlich, solange sie ihn noch brauchte. Andererseits – falls er es nicht war ...? Richeza reckte ihren Arm nach dem Dolch im Stiefel, doch der Wind hatte plötzlich an Kraft gewonnen, presste sie hart gegen die Felswand. Das Haar flatterte ihr ins Gesicht, und als sie den Mund öffnete, fuhr der Sturm mit solcher Macht in ihre Kehle, dass sie zu ersticken glaubte. Im nächsten Moment wurde sie in die Höhe gerissen, wirbelte schreiend ein halbes Dutzend Schritt über dem Boden und flog, ohne zu wissen wie, auf dem Rücken liegend auf eine Klippe zu, während der Alte mit unterschlagenen Beinen neben ihr in der Luft saß und lachte. Sein Kichern und Brabbeln ging im Tosen des Sturmes unter, der sie nur knapp an der Klippe vorbeifegte.

'Aufwachen!', dachte Richeza. 'Komm schon, wach auf!'

Aber der Alptraum fand kein Ende, der Höllenflug dauerte an. Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als sie kopfüber auf eine Schlucht zu sauste, die ihr vage bekannt vorkam, ihr Magen machte einen Satz, als sie urplötzlich zu fallen schien – ihr rechtes Bein absurd in die Höhe gereckt, als habe es sich an einem unsichtbaren Ast verfangen. Plötzlich tauchten Zelte unter ihr auf, Gesichter starrten zu ihr herauf, Gesichter von Frauen, Kindern und Schafen, dann schlug sie unsanft auf staubigem Boden auf.

Der Alte stand neben ihr und brüllte etwas in der kehligen Sprache der Ferkinas. Zwei junge Männer kamen herbeigerannt, und Augenblicke später hockte der eine rittlings auf ihrem Bauch und drückte ihre Hände neben ihrem Kopf in den Sand.

Richeza dämmerte allmählich, dass sie jetzt nicht mehr träumte. Erschrocken schrie sie auf, versuchte, den Jungen abzuschütteln, doch er war stärker als sie. Richeza bäumte sich auf, schrie und strampelte, konnte aber nicht verhindern, dass der zweite junge Mann ihr die Stiefel auszog und die Füße fesselte. Als der Bursche, der auf ihr saß, sie kurz losließ, griff sie ihm ins Gesicht und drückte ihm die gekrallten Finger in die Augen. Der Junge brüllte, sein Griff lockerte sich, dann traf Richeza ein Stiefeltritt ins Gesicht, dass ihre Zähne aufeinander schlugen und ihr Hinterkopf hart auf den Stein prallte.

"Nein!", rief der Alte. Seine übrigen Ferkina-Worte verstand die Edle nicht, aber er schien wütend zu sein. Er wies auf ein Zelt in der Nähe. Der Junge, der auf Richeza saß, erhob sich und fragte etwas. Der zweite Bursche schüttelte den Kopf und redete auf den Alten ein. Dann zuckten sie beide vor dem zornigen Gebrüll des Greises zurück. Speichelfäden flogen aus dem fast zahnlosen Mund des Alten. "Ich bin der Nuranshâr!", brüllte er. Er brüllte noch viel mehr, Worte, die Richeza nichts sagten, die aber bewirkten, dass die beiden Burschen ihr hastig unter die Arme griffen und sie auf die Füße zerrten. Benommen stellte sie fest, dass auch ihre Hände gefesselt waren. Die Jungen schleiften sie auf das Zelt zu und stießen sie zu Boden. Einer ihrer Stiefel landete in Richezas Gesicht. Ihr schwindelte.

"Seeeehrrr, seeehrr gut!", kicherte der Alte. "Ihr zwei scheene Frau. Shâr seeeehrrr zufrieden mit Ghazal. Wenn Shâr zuruck, Shâr wählst eine Frau, Ghazal wähle andere." Das irre Lachen war das Letzte, was Richeza hörte, ehe der Traum endlich zu Ende war.



Chronik:1033
Der Ferkina-Feldzug
Teil 08