Chronik.Ereignis1044 Ein Großer ist ins Licht gegangen 04: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Junge, vom Alter her wahrscheinlich bereits auf der Schwelle zum jungen Mann, stand in der Tür und machte eine tiefe, formvollendete Verbeugung. Dieses klar höfische Benehmen und seine Kleidung, ein weites weißes Seidenhemd mit kleiner Stickerei des Wappens derer von Culming, sowie eine dunkle, weite Hose, deuteten unzweideutig auf enge Verbindungen zum Adel hin - und standen damit in krassem Widerspruch zu seiner sonstigen Erscheinung. Sein dunkles, für einen Almadaner ungewöhnlich kurzes Haar fiel etwas wild nach allen Richtungen, sein sehniger, schmaler Körperbau zeugte nicht gerade von einem Leben im Überfluss, eher von frühem Mangel, und in seinen Augen lag eine gewisse Bauernschläue, wie man sie eher auf den Straßen der [[Punin|Capitale]] denn an den Höfen der [[Nobleza]] erwarb.  
Der Junge, vom Alter her wahrscheinlich bereits auf der Schwelle zum jungen Mann, stand in der Tür und machte eine tiefe, formvollendete Verbeugung. Dieses klar höfische Benehmen und seine Kleidung, ein weites weißes Seidenhemd mit kleiner Stickerei des Wappens derer von Culming, sowie eine dunkle, weite Hose, deuteten unzweideutig auf enge Verbindungen zum Adel hin - und standen damit in krassem Widerspruch zu seiner sonstigen Erscheinung. Sein dunkles, für einen Almadaner ungewöhnlich kurzes Haar fiel etwas wild nach allen Richtungen, sein sehniger, schmaler Körperbau zeugte nicht gerade von einem Leben im Überfluss, eher von frühem Mangel, und in seinen Augen lag eine gewisse Bauernschläue, wie man sie eher auf den Straßen der [[Punin|Capitale]] denn an den Höfen der [[Nobleza]] erwarb.  
Mit schnellen Blicken erfasste der Bursche alle anwesenden Personen, um dann, den Blick direkt auf [[Selea Fabiola Al'Morsqueta|Domna Fabiola]] gerichtet, zu sprechen.
Mit schnellen Blicken erfasste der Bursche alle anwesenden Personen, um dann, den Blick direkt auf [[Selea Fabiola Al'Morsqueta|Domna Selea]] gerichtet, zu sprechen.


“Die Zwölfe zum Gruße, edle Herrschaften! Mein Herr, Dom [[Algerio da Selaque von Culming]], Edler des [[Edlengut Selkethal|Sekethals]], schickt mich mit einer Einladung zu Euch. Es wäre ihm das größte Vergnügen und eine Ehre, würdet Ihr, Euer Wohlgeboren Selea Al’Morsqueta, Euch dazu bereit erklären, ihm heute Abend zur siebten Stunde in der [[Schwarzer Schwan|Weinstube Schwarzer Schwan]] Gesellschaft zu leisten.”
“Die Zwölfe zum Gruße, edle Herrschaften! Mein Herr, Dom [[Algerio da Selaque von Culming]], Edler des [[Edlengut Selkethal|Selkethals]], schickt mich mit einer Einladung zu Euch. Es wäre ihm das größte Vergnügen und eine Ehre, würdet Ihr, Euer Wohlgeboren Selea Al’Morsqueta, Euch dazu bereit erklären, ihm heute Abend zur siebten Stunde in der [[Weinstube Schwarzer Schwan]] Gesellschaft zu leisten.”


Schweigend musterte Fabiola Answin eingehender. Algerio da Selaque von Culming, Edler von Selkethal. Deswegen kam ihr der Junge bekannt vor. Der Edle hatte ihn nach dem Leichenzug davon abgehalten, in die Gilbornshalle zu drängen. Stellte sich die Frage, wie ausgerechnet sie die Aufmerksamkeit Dom Algerios auf sich gezogen hatte. Es war so voll gewesen.  
Schweigend musterte Fabiola Answin eingehender. Algerio da Selaque von Culming, Edler von Selkethal. Deswegen kam ihr der Junge bekannt vor. Der Edle hatte ihn nach dem Leichenzug davon abgehalten, in die Gilbornshalle zu drängen. Stellte sich die Frage, wie ausgerechnet sie die Aufmerksamkeit Dom Algerios auf sich gezogen hatte. Es war so voll gewesen.  
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„Nun, Answin, folge Duoro in die Küche, er wird dir eine Stärkung für den Weg mitgeben.“ Dann wandte sie sich ab. Der Page war offensichtlich endgültig entlassen.  
„Nun, Answin, folge Duoro in die Küche, er wird dir eine Stärkung für den Weg mitgeben.“ Dann wandte sie sich ab. Der Page war offensichtlich endgültig entlassen.  


Kaum hatte sich die Tür hinter dem Jungen geschlossen, drehte sich Fabiola zu Kashlan, der aufhörte, Beschäftigung bei den Büchern zu heucheln. „Ist dein neuster Spatz in der Nähe?“ Der Aranier nickte. „Er soll dem Jungen folgen, vielleicht erfährt er was Hilfreiches.“ „Er ist eine sie, Azîla. Ihr Name ist Ayla.“ Er hielt Fabiolas Blick mit einem spöttischen Schmunzeln stand, bevor er mit einer tiefen, formvollendeten Verbeugung ergänzte: „Und sie wird sich umgehend auf den Weg machen.“  
Kaum hatte sich die Tür hinter dem Jungen geschlossen, drehte sich Fabiola zu Keshlan, der aufhörte, Beschäftigung bei den Büchern zu heucheln. „Ist dein neuster Spatz in der Nähe?“ Der Aranier nickte. „Er soll dem Jungen folgen, vielleicht erfährt er was Hilfreiches.“ „Er ist eine sie, Azîla. Ihr Name ist Ayla.“ Er hielt Fabiolas Blick mit einem spöttischen Schmunzeln stand, bevor er mit einer tiefen, formvollendeten Verbeugung ergänzte: „Und sie wird sich umgehend auf den Weg machen.“  
 
Die Zwillinge sahen dem Freund ihrer kleinen Schwester abfällig nach.


Die Zwillinge sahen dem Freund ihrer kleinen Schwester abfällig nach.


===Im Hinterhof===
===Im Hinterhof===
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Ayla der Spatz hockte in einer Ecke des Hinterhofes und leckte sorgfältig den letzten Zuckerguss von ihren Fingern. Immer wieder zuckte ihr Blick unruhig umher. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie mit Schlägen und Schimpfen davonjagte. Solche wie sie waren nirgends willkommen, erst recht nicht in diesem Teil Punins.  
Ayla der Spatz hockte in einer Ecke des Hinterhofes und leckte sorgfältig den letzten Zuckerguss von ihren Fingern. Immer wieder zuckte ihr Blick unruhig umher. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie mit Schlägen und Schimpfen davonjagte. Solche wie sie waren nirgends willkommen, erst recht nicht in diesem Teil Punins.  


Es grenzte an ein Wunder, dass die Domna sie für den vermasselten Taschendiebstahl nicht weiter zur Verantwortung gezogen hatte. Dem Fremden mit den freundlichen Augen sei Dank. Er hatte mit Musik in der Stimme gedrängt, sich um Ayla kümmern zu dürfen. Dem Mädchen hochgeholfen, ihr angeboten, mitzukommen, statt sie mit Schlägen davon zu jagen oder den Grünröcken zu überlassen. Hatte ihr ganz leichtes, süßes Gebäck mit Zuckerguss gegeben. Sogar einen Becher verdünnten Wein gebracht. Den sie natürlich nicht angerührt hatte. Jeder in [[Unter-Punin]] wusste, dass Kinder, die niemand vermisste, gefügig gemacht wurden, verschwanden. Verkauft an Novadis. Oder schlimmeres. Das würde ihr nicht passieren. Sie war vorsichtig, auf der Hut. Es wurde Zeit, zu sich zu verdrücken.  
Es grenzte an ein Wunder, dass die Domna sie für den vermasselten Taschendiebstahl nicht weiter zur Verantwortung gezogen hatte. Dem Fremden mit den freundlichen Augen sei Dank. Er hatte mit Musik in der Stimme gedrängt, sich um Ayla kümmern zu dürfen. Dem Mädchen hochgeholfen, ihr angeboten, mitzukommen, statt sie mit Schlägen davon zu jagen oder den Grünröcken zu überlassen. Hatte ihr ganz leichtes, süßes Gebäck mit Zuckerguss gegeben. Sogar einen Becher verdünnten Wein gebracht. Den sie natürlich nicht angerührt hatte. Jeder in [[Unter-Punin]] wusste, dass Kinder, die niemand vermisste, gefügig gemacht wurden, verschwanden. Verkauft an Novadis. Oder schlimmeres. Das würde ihr nicht passieren. Sie war vorsichtig, auf der Hut. Es wurde Zeit, sich zu verdrücken.  


„Hat es geschmeckt, kleiner Spatz?“ Sie hatte ihn nicht kommen hören. Ihr Blick zuckte zu ihm. So freundliche Augen. Musik in der Art, wie er sprach. Ayla nickte. „Bist du satt?“ Sie schüttelte den Kopf. Er zog Brot und Obst hervor, ging in die Knie und legte es vor sie. „Hast du gar keinen Durst?“ Sie schüttelte wieder den Kopf. Achselzuckend griff er nach dem Becher und trank einen tiefen Schluck. „Und jetzt?“ Sie steckte die Hand nach dem Becher aus.  
„Hat es geschmeckt, kleiner Spatz?“ Sie hatte ihn nicht kommen hören. Ihr Blick zuckte zu ihm. So freundliche Augen. Musik in der Art, wie er sprach. Ayla nickte. „Bist du satt?“ Sie schüttelte den Kopf. Er zog Brot und Obst hervor, ging in die Knie und legte es vor sie. „Hast du gar keinen Durst?“ Sie schüttelte wieder den Kopf. Achselzuckend griff er nach dem Becher und trank einen tiefen Schluck. „Und jetzt?“ Sie steckte die Hand nach dem Becher aus.  
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„Ich werde dir gegen deinen Willen nicht weh tun. Doch was werden deine Freunde denken, wenn du so spät, aber unversehrt zurück kommst?“ Er musterte sie, bevor er achselzuckend aufstand. „Der Junge trägt eine blaue Rose vor silberner Scheibe auf rot als Wappen seiner Herrschaft. Wenn du ihm folgst und zurück kommst, erwartet dich Lohn. Wenn du ihm folgst und dich anders entscheidest, sehen wir uns wohl nicht wieder. Wenn du ihm nicht folgst auch nicht.“  
„Ich werde dir gegen deinen Willen nicht weh tun. Doch was werden deine Freunde denken, wenn du so spät, aber unversehrt zurück kommst?“ Er musterte sie, bevor er achselzuckend aufstand. „Der Junge trägt eine blaue Rose vor silberner Scheibe auf rot als Wappen seiner Herrschaft. Wenn du ihm folgst und zurück kommst, erwartet dich Lohn. Wenn du ihm folgst und dich anders entscheidest, sehen wir uns wohl nicht wieder. Wenn du ihm nicht folgst auch nicht.“  
„Welche Informationen?“ „Alle, kleiner Spatz. Und wenn sie dir noch so nebensächlich erscheinen.“  
„Welche Informationen?“ „Alle, kleiner Spatz. Und wenn sie dir noch so nebensächlich erscheinen.“  
Ayla griff den Becher und leerte ihn. Dann steckte sie das Essen ein und erhob sich. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss. Wie der Blitz schoss sie an dem Fremden vorbei.  
Ayla griff den Becher und leerte ihn. Dann steckte sie das Essen ein und erhob sich. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss. Wie der Blitz schoss sie an dem Fremden vorbei.
 


===In den Straßen Punins, später===
===In den Straßen Punins, später===
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Im Schatten eines Ziertürmchens auf der Mauer des weitläufigen Parks um einen prunkvollen [[Palacio|Palacios]] hockend sah Ayla wenig später zu, wie der Junge ohne Zögern durch das mit einem goldenen Turm auf Schwarz und Rot geschmückte Portal eingelassen wurde und im Innern des prächtigen Hauses verschwand. Das Wappen des Hauses von [[Familia von Taladur ä.H.|Taladur]]! Hier musste [[Rafik von Taladur ä. H.|Dom Rafik]], der Kanzler, wohnen. Ihre Augen weiteten sich ehrfürchtig.  
Im Schatten eines Ziertürmchens auf der Mauer des weitläufigen Parks um einen prunkvollen [[Palacio]] hockend sah Ayla wenig später zu, wie der Junge ohne Zögern durch das mit einem goldenen Turm auf Schwarz und Rot geschmückte Portal eingelassen wurde und im Innern des prächtigen Hauses verschwand. Das Wappen des Hauses von [[Familia von Taladur ä. H.|Taladur]]! Hier musste [[Rafik von Taladur ä. H.|Dom Rafik]], der Kanzler, wohnen. Ihre Augen weiteten sich ehrfürchtig.  


Einige Zeit beobachtete Ayla den Palacio, hingerissen von so viel unvorstellbarer Pracht. Vorsichtig begann sie, den Park zu erkunden, doch bald siegte ihre Nervosität. Wenn man sie fand, würde es nicht bei einer schmerzenden Schulter bleiben. Am Ende würden sie sie zwingen, ihren Fremden zu verraten. Eilig machte sie sich auf den Rückweg. Vielleicht würde sie ein paar Münzen bekommen. Und warmes Essen. Bei der Prügel war sie unsicher. Auf einen Platz für die Nacht wagte sie lieber nicht zu hoffen.  
Einige Zeit beobachtete Ayla den Palacio, hingerissen von so viel unvorstellbarer Pracht. Vorsichtig begann sie, den Park zu erkunden, doch bald siegte ihre Nervosität. Wenn man sie fand, würde es nicht bei einer schmerzenden Schulter bleiben. Am Ende würden sie sie zwingen, ihren Fremden zu verraten. Eilig machte sie sich auf den Rückweg. Vielleicht würde sie ein paar Münzen bekommen. Und warmes Essen. Bei der Prügel war sie unsicher. Auf einen Platz für die Nacht wagte sie lieber nicht zu hoffen.  




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Aktuelle Version vom 27. Oktober 2024, 19:23 Uhr

Punin, Peraine 1044 BF[Quelltext bearbeiten]

Anwesen der Familia Al'Morsqueta zu Punin, am frühen Nachmittag[Quelltext bearbeiten]

Autoren: BBB, Eliane

Es klopfte.

„Herein!“ Die Bedienstete öffnete die Tür und bedeutete Answin mit einer Geste, einzutreten. Vor dem jungen Pagen lag ein Raum, der zu seinem bisherigen Eindruck des Hauses passte. Ursprünglich nicht als Residenz für das Mitglied einer adeligen Familia angelegt, war es zu einer solchen umgebaut worden. In diesem Fall zu einer gelungenen Mischung aus bodenständigen almadanischen Elementen, der ursprünglichen Lebensweise seiner alten Bewohner entsprechend. Und elegantem, unaufdringlichem Luxus mit recht subtilen, für Eingeweihte aber unmissverständlichen Hinweisen auf Stand und Herkunft der aktuellen Bewohner. Sicherlich keine günstige Angelegenheit. Anders als der Empfangsraum, den er durchquert hatte, schien dieser Salon eher privaten Zusammenkünften zu dienen.

Dazu passte auch, dass im ersten Moment keiner besondere Notiz von Answin zu nehmen schien. In einem Sessel saß entspannt zurückgelehnt eine Frau mit hochgesteckten, dunklen Locken. Neben ihr, die Rücken zur Tür, zwei Männer, jeder über einen ihrer auf den Lehnen ruhenden Unterarme gebeugt. Zu ihren Füßen ruhte ein Hund, der träge seinen Kopf zum Neuankömmling wandte, ihn ansah und es sich dann auf seinen Vorderpfoten bequem machte.

Bei den bodentiefen Fenstern stand ein weiterer Mann. Seine Schultern zusammengesunken, silber-graue Strähnen im vollen Haar, einen Block und Kohlestift in der Hand, starrte er abwesend nach draußen. Von dort klang Lachen herein, im Schatten des Innenhofes waren noch mehr Gestalten auszumachen. Ein einfach gekleideter Angestellter war gerade dabei, Bücher in ein die ganze Wand einnehmendes Regal zu räumen.

Die Frau hob lächelnd den Kopf, wandte den Blick der Tür zu. Als sie Answin bemerkte, veränderte sich ihre Haltung augenblicklich. Sie richtete sich auf, straffte die Schultern, strich sich über die Unterarme, während sie diese ihren Gesprächspartnern entzog. „Ja?“ Ihre Frage galt unmissverständlich Answin. Die beiden Männer drehten sich um. Einen Moment hatte Answin den Eindruck, sie seien das Spiegelbild des jeweils anderen. Die anderen Anwesenden reagierten nicht weiter.

Der Junge, vom Alter her wahrscheinlich bereits auf der Schwelle zum jungen Mann, stand in der Tür und machte eine tiefe, formvollendete Verbeugung. Dieses klar höfische Benehmen und seine Kleidung, ein weites weißes Seidenhemd mit kleiner Stickerei des Wappens derer von Culming, sowie eine dunkle, weite Hose, deuteten unzweideutig auf enge Verbindungen zum Adel hin - und standen damit in krassem Widerspruch zu seiner sonstigen Erscheinung. Sein dunkles, für einen Almadaner ungewöhnlich kurzes Haar fiel etwas wild nach allen Richtungen, sein sehniger, schmaler Körperbau zeugte nicht gerade von einem Leben im Überfluss, eher von frühem Mangel, und in seinen Augen lag eine gewisse Bauernschläue, wie man sie eher auf den Straßen der Capitale denn an den Höfen der Nobleza erwarb. Mit schnellen Blicken erfasste der Bursche alle anwesenden Personen, um dann, den Blick direkt auf Domna Selea gerichtet, zu sprechen.

“Die Zwölfe zum Gruße, edle Herrschaften! Mein Herr, Dom Algerio da Selaque von Culming, Edler des Selkethals, schickt mich mit einer Einladung zu Euch. Es wäre ihm das größte Vergnügen und eine Ehre, würdet Ihr, Euer Wohlgeboren Selea Al’Morsqueta, Euch dazu bereit erklären, ihm heute Abend zur siebten Stunde in der Weinstube Schwarzer Schwan Gesellschaft zu leisten.”

Schweigend musterte Fabiola Answin eingehender. Algerio da Selaque von Culming, Edler von Selkethal. Deswegen kam ihr der Junge bekannt vor. Der Edle hatte ihn nach dem Leichenzug davon abgehalten, in die Gilbornshalle zu drängen. Stellte sich die Frage, wie ausgerechnet sie die Aufmerksamkeit Dom Algerios auf sich gezogen hatte. Es war so voll gewesen. Fabiola erhob sich. Der Hund zu ihren Füßen richtete sich aufmerksam auf. „Die Zwölfe zum Gruße, junger Mann. Richte deinem Herren aus, die Ehre ob dieser unerwarteten Einladung liegt ganz auf meiner Seite. Mit Vergnügen werde ich ihm heute Abend im Schwarzen Schwan Gesellschaft leisten. Welche weiteren Gäste erwartet er?“

Für einen kurzen, kaum merklichen Moment musste Answin ein Grinsen unterdrücken. “Die Einladung gilt ausschließlich Euch, Domna Al’Morsqueta.”

Nachdenklich nickte Fabiola. Warum zum Henker lud sie ein ihr Unbekannter aus dem Nichts zum Abendessen ein? Was wollte er? „Richte Dom Algerio aus, ich werde wie vorgeschlagen zur siebten Stunde zu ihm stoßen.“ Mit einer Geste entließ sie Answin. Gerade als er die Tür erreichte, erkundigte sie sich: „Wie ist dein Name, junger Mann?“

“Mein Name ist Answin, edle Domna.”

„Nun, Answin, folge Duoro in die Küche, er wird dir eine Stärkung für den Weg mitgeben.“ Dann wandte sie sich ab. Der Page war offensichtlich endgültig entlassen.

Kaum hatte sich die Tür hinter dem Jungen geschlossen, drehte sich Fabiola zu Keshlan, der aufhörte, Beschäftigung bei den Büchern zu heucheln. „Ist dein neuster Spatz in der Nähe?“ Der Aranier nickte. „Er soll dem Jungen folgen, vielleicht erfährt er was Hilfreiches.“ „Er ist eine sie, Azîla. Ihr Name ist Ayla.“ Er hielt Fabiolas Blick mit einem spöttischen Schmunzeln stand, bevor er mit einer tiefen, formvollendeten Verbeugung ergänzte: „Und sie wird sich umgehend auf den Weg machen.“

Die Zwillinge sahen dem Freund ihrer kleinen Schwester abfällig nach.

Im Hinterhof[Quelltext bearbeiten]

Ayla der Spatz hockte in einer Ecke des Hinterhofes und leckte sorgfältig den letzten Zuckerguss von ihren Fingern. Immer wieder zuckte ihr Blick unruhig umher. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man sie mit Schlägen und Schimpfen davonjagte. Solche wie sie waren nirgends willkommen, erst recht nicht in diesem Teil Punins.

Es grenzte an ein Wunder, dass die Domna sie für den vermasselten Taschendiebstahl nicht weiter zur Verantwortung gezogen hatte. Dem Fremden mit den freundlichen Augen sei Dank. Er hatte mit Musik in der Stimme gedrängt, sich um Ayla kümmern zu dürfen. Dem Mädchen hochgeholfen, ihr angeboten, mitzukommen, statt sie mit Schlägen davon zu jagen oder den Grünröcken zu überlassen. Hatte ihr ganz leichtes, süßes Gebäck mit Zuckerguss gegeben. Sogar einen Becher verdünnten Wein gebracht. Den sie natürlich nicht angerührt hatte. Jeder in Unter-Punin wusste, dass Kinder, die niemand vermisste, gefügig gemacht wurden, verschwanden. Verkauft an Novadis. Oder schlimmeres. Das würde ihr nicht passieren. Sie war vorsichtig, auf der Hut. Es wurde Zeit, sich zu verdrücken.

„Hat es geschmeckt, kleiner Spatz?“ Sie hatte ihn nicht kommen hören. Ihr Blick zuckte zu ihm. So freundliche Augen. Musik in der Art, wie er sprach. Ayla nickte. „Bist du satt?“ Sie schüttelte den Kopf. Er zog Brot und Obst hervor, ging in die Knie und legte es vor sie. „Hast du gar keinen Durst?“ Sie schüttelte wieder den Kopf. Achselzuckend griff er nach dem Becher und trank einen tiefen Schluck. „Und jetzt?“ Sie steckte die Hand nach dem Becher aus. „Kleiner Spatz, gleich wird ein junger Mann das Haus verlassen. Folge ihm, finde heraus, wohin er geht. Wer er ist. Wem er dient. Was sonst von Interesse ist. Berichte mir. Es soll dein Schaden nicht sein.“ „Wenn ich nicht mag?“ „Dann kannst du gehen. Mit oder ohne Prügel, deine Entscheidung.“

Ayla drückte sich mit aufgerissenen Augen in ihre Ecke, suchte nach einem Fluchtweg.

„Ich werde dir gegen deinen Willen nicht weh tun. Doch was werden deine Freunde denken, wenn du so spät, aber unversehrt zurück kommst?“ Er musterte sie, bevor er achselzuckend aufstand. „Der Junge trägt eine blaue Rose vor silberner Scheibe auf rot als Wappen seiner Herrschaft. Wenn du ihm folgst und zurück kommst, erwartet dich Lohn. Wenn du ihm folgst und dich anders entscheidest, sehen wir uns wohl nicht wieder. Wenn du ihm nicht folgst auch nicht.“ „Welche Informationen?“ „Alle, kleiner Spatz. Und wenn sie dir noch so nebensächlich erscheinen.“ Ayla griff den Becher und leerte ihn. Dann steckte sie das Essen ein und erhob sich. Irgendwo fiel eine Tür ins Schloss. Wie der Blitz schoss sie an dem Fremden vorbei.

In den Straßen Punins, später[Quelltext bearbeiten]

Es dauerte ein bisschen, bis Ayla begriff, dass der Junge sein Spiel mit ihr trieb. Nicht von Anfang an, da war sie sicher. Aber inzwischen führte er sie an der Nase herum. Sie beschloss, den Spieß umzudrehen. Sie war ein Spatz, ihr gehörten die Dächer.

Als der Junge einige Zeit später auf das Tor in der Umfriedung Goldackers zuging, rechnete Ayla damit, dass er abgewiesen werden würde. Die Grünröcke und Wachen der Einwohner ließen niemanden dort hinein, der nicht zu den höchsten Kreisen der Gesellschaft gehörte. Und einer von denen hätte sie nicht bemerkt, die übersahen solche wie sie immer. Anders als der Junge. Es war nicht einfach gewesen, ihn glauben zu machen, dass sie aufgegeben hatte. Aber am Ende hatte er sich seinem Ziel zugewandt. Umso überraschter war das Mädchen, als er ohne größere Anstalten durchgelassen wurde.

Nachdenklich einen ihrer Nägel kauend versuchte sie zu verfolgen, wohin er sich wandte. Sie wollte sich nicht so einfach geschlagen geben, suchte einen Weg, ihm zu folgen. Sie wollte den freundlichen Fremden gerne beweisen, dass sie ihren Lohn wert war.


Im Schatten eines Ziertürmchens auf der Mauer des weitläufigen Parks um einen prunkvollen Palacio hockend sah Ayla wenig später zu, wie der Junge ohne Zögern durch das mit einem goldenen Turm auf Schwarz und Rot geschmückte Portal eingelassen wurde und im Innern des prächtigen Hauses verschwand. Das Wappen des Hauses von Taladur! Hier musste Dom Rafik, der Kanzler, wohnen. Ihre Augen weiteten sich ehrfürchtig.

Einige Zeit beobachtete Ayla den Palacio, hingerissen von so viel unvorstellbarer Pracht. Vorsichtig begann sie, den Park zu erkunden, doch bald siegte ihre Nervosität. Wenn man sie fand, würde es nicht bei einer schmerzenden Schulter bleiben. Am Ende würden sie sie zwingen, ihren Fremden zu verraten. Eilig machte sie sich auf den Rückweg. Vielleicht würde sie ein paar Münzen bekommen. Und warmes Essen. Bei der Prügel war sie unsicher. Auf einen Platz für die Nacht wagte sie lieber nicht zu hoffen.