Chronik.Ereignis1033 Streit ums Taubental 36
Wie Domna Odina und der Mercenario Shafirio von zwei Kellfaller Hirtenbuben aufgefunden wurden. Wie diese sie in ihrem Unterstand aufnahmen. Wie Shafirio die verletzte Domna umsorgte. Wie Gold und Prügel ausgetauscht wurden. Wie schließlich Schwarze Vögel die bukolische Szenerie beendeten.
Baronie Taubental, 4. Travia 1033 BF[Quelltext bearbeiten]
Am Ufer der Brigella (1. Rondrenstunde)[Quelltext bearbeiten]
Dumpf pochte der Schmerz durch Shafirios Glieder, aber er fühlte sich so unendlich müde, dass er nicht einmal die Lider hebe wollte. Und irgendwie lullte ihn dieses Pochen auch ein. ‚Nur noch ein wenig...’, waberte es neblig durch die Gedanken des Araniers. Der Schmerz, die Kälte, die Nässe und der Protest seines geschundenen, aufgeschlagenen und blutenden Leibes waren so unendlich weit fort. Alles erschien ihm so bedeutungslos zu dieser Zeit und so friedlich – nein, er wollte nicht die Augen öffnen oder gar erwachen. ‚Nein!’ Er wollte einfach noch ein wenig weiter dahin gleiten. Es würde schon alles gut werden.
Unweit der Brigella klang leise das Klingeln einzelner Glocken durch die Nacht, welches von jenen Schafen und Lämmern ausging, die sich im Halbdunkel der Nacht, welche ab und an von grellen Lichtblitzen des nahen Gewitters erhellt wurde, verschreckt hin und her bewegten. Allerdings sorgte ein kurzes Knurren oder eines Kläffen der Hunde rasch dafür, dass das Läuten verstummte und die Herde sich dicht an einander drängte. Etwas abseits von den Tieren war eine kleine, windschiefe Kate aus Brettern errichtet. Darin kauerten zwei Hirtenburschen vor einem kleinen Feuer, welches mehr Qualm als Wärme produzierte. Beide hatten sich ihre Umhänge eng um den Leib geschlungen, um der feuchten Kälte der Nacht zu trotzen.
Ein Geräusch ließ den jüngeren der beiden aufhorchen. Da! Da war es wieder! Neugierig erhob sich Jeron und lauschte erneut. Unweit von ihnen rauschte beständig die Brigella. „Hörst du das auch, Lucran?“, fragte er seinen Bruder. „Da draußen is’ was!“
Doch der schlang nur den Umhang noch enger. „Gib Ruh, Jeron! Da is’ nix.“
Aber Jeron schüttelte den Kopf. Zu deutlich wähnte er das immer wiederkehrende Geräusch von zu hören, als wenn etwas Metallenes auf Stein schlüge. Es kam aus Richtung des Flusses. Entschlossen packte er ein brennendes Scheit aus dem Feuer und näherte sich dem Fluss. Wenig später hatte er die Quelle des Geräusches gefunden.
Im steinigen Uferbett der Brigella lagen zwei Gestalten im Wasser und der durch den Regen angeschwollene und wogende Fluss ließ diese zwei auf und ab tanzen auf den Wellen, die ans von Felsbrocken übersäte Ufer schlugen. Als erneut ein greller Lichtblitz von Rondras Zorn die Nacht erhellte, erkannte Jeron, was die Quelle des Klapperns gewesen war. Die eine Gestalt, er glaubte eine Frau zu erkennen, war in eine prächtige metallene Rüstung gewandet und dicht an sie schmiegte sich eine zweite Gestalt. Beide lagen wie leblos in dem kalten Wasser des Gebirgsflusses. Einen Moment lang verhinderte ein Kloß im Hals des vielleicht 15 Lenze zählenden Jerons, dass er nach dem anderen Hirten rief, dann aber fand er seine Stimme wieder: „Lucran! Komm her! Schnell!“
Nur leise und gedämpft, wie durch ein dickes Kissen hindurch, drangen kaum hörbar noch Stimmen an Shafirios Geist heran. ‚Unwichtig!’ befand er und ließ sich weiter auf diesem gemächlich plätschernden nebelverhangenen Strom dahingleiten.
Aufgeregt redeten und gestikulierten die beiden Hirtenburschen am Ufer. Das Wasser war aufgrund des Regens angeschwollen und der sonst munter spritzende Wasserlauf floss schäumend und rauschend an ihnen vorbei. Noch immer regnete es und hin und wieder zuckten Rondras Blitze zornig über den Himmel. Unweit der zwei drängte sich die Herde dicht an dicht. Das Gewitter machte sie nervös, aber das Kläffen und Knurren der Hunde hielt sie noch immer dicht beisammen.
„Lass sie liegen, Jeron!“, rief Lucran. „Die sind sowieso hinüber. Das macht nur Ärger! Fort von hier! Denk’ an Mutters Schafe!“
Der Jüngere wiegte nachdenklich den Kopf. „Nein... das wär’ nicht recht“, erwiderte er dann mit entschlossener Stimme und watete, den Hirtenstecken in der Hand, vorsichtig ein wenig weiter die Böschung hinab. Was er dort sah, verstand er nicht. Da lagen zwei Menschen – eine Frau und ein Mann – dicht gedrängt im eisigen Wasser. Wie Katzen hatten sie sich zusammengerollt. Beide sahen übel zugerichtet aus und ihr Blut färbte das Wasser leicht rötlich. Vorsichtig stieß er mit seinem Stecken den Mann, der sich an der Rücken der gepanzerten Frau drängte, an. Aber keine Reaktion. Nichts... vielleicht hatte sein Bruder doch recht und für die beiden kam jede Hilfe zu spät? Noch einmal versuchte er es. Diesmal legte er etwas mit Kraft in den tastenden Stoß und dieses Mal antwortete ihm ein schmerzerfülltes Stöhnen.
Gellend hell peitschte auf einmal Schmerz durch Shafirios Schultern und riss ihn jäh aus seinem so wohligen Dahintreiben heraus. Niederhöllische Pein durchzuckte wie ein Blitz seine Knochen und fuhr krachend und unbarmherzig in seine Gedanken. Der Aranier riss die Augen auf und schrie laut auf. Schlagartig kehrte seine Besinnung zurück und der tosende Schmerz in Armen, Beine, Schultern und dem Rest des Leibes hielt in mit eisigem Griff davon ab, wieder in die friedliche Besinnungslosigkeit zurück zu fallen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht entwich seinen Lippen ein gar götterlästerlicher Fluch auf Tulamidya, bevor er den Kopf herumriss, um sich seinem Peiniger zuzuwenden. Er wollte grad zu einer neuen Schimpftirade ansetzen, als er erkannte, dass er nicht mehr auf dem Marktplatz von Kellfall war und dieser Bengel nicht der vorherige Feind. „En'najda! En'najda! Hilfe!“, forderte er Jeron mit krächzender Stimme auf.
Einen Augenblick zögerte der Bursche, dann griff er beherzt zu und auch sein Bruder ging ihm nach einem Moment des Abwägens zur Hand.
Wenig später waren der Aranier und die Caballera an Land gezogen.
„Shukran!“, hustete Shafirio auf Tulamidya um sich zu bedanken, während er Wasser spuckte und nach Luft schnappte. „Bei Travia... seid wahrlich bedankt!“ Sein Garethi klang immer noch röchelnd und wies einen deutlichen südländischen Einschlag auf. Der muskulöse Söldner, der ohne Zweifel mit seiner dunklen Haut aus den Ländern des Südens kam, sah die beiden fragend an. „Habt ihr ein Feuer? Wärme, vielleicht gar Leinen zum Verbinden? Ist euer dar...“ – erneut unterbrach er sich als ungewollt Worte seiner Muttersprache in seine Rede einflossen – „euer Haus in der Nähe? Ich will euch gut entlohnen! Helft mir! Für die Ahmad'sunni... arghh... verflucht... die Caballera!!“
Dann bemerkte er, worauf sie blickten: die Fesseln die ihn an die Caballera banden. „Los, schneid'’ uns los! Bei der Göttin... bitte!“, forderte er Jeron, den jüngeren der beiden, auf.
Nach einem fragenden Blick zu seinem Bruder, der noch immer den fremdländischen Söldner argwöhnisch musterte, tat dieser wie geheißen und endlich fielen die Fesseln, die sich bereits in das Fleisch geschnitten hatten. Mit großen Augen betrachtete Jeron weiterhin das ungleiche Paar – sie, unzweifelhaft eine wohlhabende Caballera in beeindruckender Rüstung und ihn, den athletischen, blutverschmierten Tulamiden, der so eben noch an sie gefesselt war und der, kaum aus dem Wasser heraus, Befehle erteilte als wäre er ein Offizier auf einem Schlachtfeld.
„Gold?“, hakte der Ältere nach.
„Ja! Götterverdammt. Nur helft uns! Jetzt!“ Noch waren sichtbar nicht alle Zweifel gewichen, aber die Aussicht auf gutes Gold animierte Lucran dann doch.
So fanden sie sich wenig später in der Hirtenhütte wieder. Sie war winzig, beherbergte weder Stuhl noch Tisch, und das Feuer, das darin flackerte, qualmte fürchterlich, aber die Innenwand war trocken und es war deutlich wärmer als draußen im Regen.
Aus einem versteckten Fach in seiner Kleidung hatte Shafirio dann einen Dukaten hervor gezogen und vor den Hirten auf den Erdboden gelegt. Das hatte endgültig das Eis gebrochen und so konnte er sich rasch daran machen, erst sich selbst rasch ein wenig zu säubern und dann die Wunden der Domna, die vor ihm auf einem Bündel Stroh lag, das den beiden Hirten als Schlafstatt diente.
„Habt ihr Arraq, ich mein', Brannt?“, fragte er Jeron, während er mit einem feuchten Lappen das Blut von der Haut der Caballera wusch und unter anderem eine Platzwunde an der Schläfe freilegte.
Der Angesprochene nickte eifrig und reichte ihm ein irdenes Gefäß.
Shafirio zog den Korken heraus. Kurz roch er daran, verzog angewidert ob des scharfen Branntgeruchs das Gesicht und ließ der Caballera einige Tropfen über ihre Lippen rinnen, was diese umgehend mit einem Stöhnen beantwortete. Dann schüttete auch ein wenig des starken Brannts über die Wunde an der Schläfe und über die zugänglichen Wunden, welche die Ochsenherde geschlagen hatte.
Der Schmerz riss Odina aus ihrer Bewusstlosigkeit und ließ sie schmerzerfüllt aufschreien, als sie die Augen aufschlug. Sie sah ihre Umgebung im ersten Moment verschwommen, konnte aber erkennen, dass sie sich wohl nicht mehr unter freiem Himmel befand. Ebenso war noch etwas verschwunden, aber was? Die Erkenntnis, was fehlte, traf sie wie ein Schlag, die Kampfgeräusche waren weg!
Sie blickte sich mit glasigem Blick um und sah den Tulamiden, der auf sie herab blickte. Woher kannte sie ihn? Er tupfte ihr mit einem Fetzen Stoff im Gesicht herum. Eine Welle des Schmerzes überkam sie.
„Ruht Euch noch etwas aus, Caballera“, forderte der Tulamide sie mit ruhiger Stimme auf, während seine Finger sich routiniert darum bemühten, mit einem Leinentuch, etwas Wasser und Brannt die Wunde zu reinigen. Aus den Augenwinkeln beobachtete er wie sie die Zähne zusammenbiss und den stechenden Schmerz des Tupfens ertrug. „Verzeiht, aber das muss leider sein. Die Wunde muss rein sein, sonst vergeht Ihr schon bald im Fieber.“ Dann fuhr er fort sich um die Verletzung zu kümmern.
Als er nach mehrfacher Begutachtung zu dem Schluss gekommen war, dass die nötige Reinheit erreicht worden war, legte er den inzwischen tiefroten Lappen beiseite, griff nach einem weiteren Leinen und tupfte ihr damit über die Stirn, wo sich feiner Schweiß gebildet hatte. „Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Caballera: Ihr solltet schnellstmöglichen aus Euren feuchten Sachen heraus. Des Weiteren sollten wir die Nacht hier verbringen. Sobald der Morgen graut, sollten wir uns auf den Weg nach Taubental machen. Dort findet sich am ehesten ein angemessener Heilkundiger für Euch und angemessenes Quartier. Ebenso wäre dort sicher ein Bericht über die Ereignisse gefragt.“ Er blickte fragend auf sie herab. „Wenn dies Eure Zustimmung erfährt, dann werde ich mich um alles Nötige kümmern.“ Abwartend höflich ruhte sein Blick auf Odina.
Als diese stöhnend nickte und ein leises ‚Ja...‘ krächzte, nickte er ebenfalls bestätigend und wandte sich dann um zu den beiden Hirten. Einen Augenblick musterte er sie wortlos. „Die Domna friert es“, sprach er schließlich. „Schürt das Feuer kräftig an, auf dass es sie für den Rest der Nacht warm halte. Du!“ Er zeigte auf einen der beiden Hirten. „Hast du noch saubere Kleidung? Die Caballera benötigt trockene Kleidung.“
Lucran runzelte die Stirn. „Mein Herr, es is’ ja nich’ so dass wir nich’ helfen woll’n. Aber... die Schafe... und das Holz...“ Er brachte den Satz nicht zu Ende. Unschwer war in seinen Worten das Verlangen nach weiterem Gold zu hören.
Für einen kurzen Moment musste der Aranier um seine Beherrschung ringen und seine Fäuste ballten sich, so dass die Knöchel hell hervortraten. „Ich bin ganz und gar nicht in der Stimmung, mit dir zu feilschen, Söhnchen. Ich habe gesagt, es soll nicht zu eurem Schaden sein und ihr werdet entlohnt. Darauf habt ihr mein Wort.“ Seine Stimme hatte einen scharfen Ton angenommen. „Überreizt es nicht. Nicht in diesem Augenblick!“ Er funkelte Lucran zornig an, woraufhin dieser sich schnell dazu entschloss, etwaige Verhandlungen aufzuschieben und sich stattdessen umwandte, um das Feuer zu schüren.
Jeron nickte eifrig, als der Blick Shafirios zu ihm zurückkehrte. „Herr... wir haben noch einen dritten Umhang. Der is’ trocken.“ Er zog sich einen schweren Lodenmantel von einem Nagel an der Wand und hielt ihn dem Aranier hin. Der Umhang stank nach Rauch und Schafsfett, doch Shafirio nickte dem Jüngeren zufrieden zu. „Danke, Bursche. Lasst uns nun allein.“
„Was? Wir sollen in den Regen hinaus?“, brachte Lucran empört hervor. „Das ist unsere Hütte!“
Ein kurzer Blick des Araniers ließ ihn verstummen und seinen Bruder in Richtung der Tür schieben.
„Caballera“, sprach Shafirio. „Es ist freilich keine angemessene Kleidung. Aber sie scheint mir sauber und ist mit Sicherheit wärmer als das nasse Unterzeug.“
"Wartet!" Odina sprach die beiden Hirten an, die sich gerade auf dem Weg nach draußen machten. "Ihr könntet mir einen Gef..." Sie verzog kurz das Gesicht, als sie sich aufrichtete. "Gefallen tun! Einer von euch muss nach... wie hieß der Ort gleich... Kefall?“ – sie schaute kurz zu dem Tulamiden – "gehen und nachsehen, was dort passiert ist!" Sie musste kurz pausieren und Atem holen, denn das Reden strengte sie an. "Solltet ihr dort Männer und Frauen mit einem schwarzen Adler – das ist wichtig – vorfinden, dann und nur dann fragt nach einem Dartan di Salsavûr! Bringt ihn hier her! Wenn keiner von diesen dort ist, kommt zurück und erzählt mir, was ihr gesehen habt!"
Odina ließ sich wieder auf ihr Bett sinken und wandte sich dann wieder an den Tulamiden. Die beiden Hirten beachtete sie nicht weiter, da sie erwartete, dass diese ihrer Anweisung Folge leisten würden. Sie begann sich auszuziehen, was aber alleine nicht möglich war, wegen der Verletzungen. "Helft mir bitte, Signor!" Sie sah Shafirio an. Auch wenn ihre Worte als eine Bitte formuliert waren, klangen und waren sie doch eher ein Befehl.
Der Blick Shafirios ruhte ebenfalls auf den beiden Hirten als die Caballera sprach. Da Shafirio Lucran nicht vollends über den Weg traute, wandte er sich erneut an Jeron. „Du hast die Caballera gehört. Geh nach Kellfall und sieh, ob du die Schwarzen Adler und ihren Anführer Dartan di Salsavûr zu finden vermagst. Sprich nur mit den Schwarzen Adlern oder mit dem Condottiere. Verstanden?“
„Ja, Herr.“ Der jüngere Hirte nickte mit Kopf zur Bestätigung und zog seinen Umhang fester um die Schultern und stieß die Tür der Kate auf, um in die kalte Nacht zu treten.
Lucran blickte erneut etwas missbilligend drein, aber als der Blick des nassen, blutverschmierten Südländers ihn direkt traf, präsentierte er ein falsches Lächeln. „Hole noch Holz, damit wir das Feuer weiter kräftig schüren können“, herrschte ihn Shafirio an.
Lucran fügte sich und folgte seinem Bruder nach draußen.
Als beide dann endgültig verschwunden waren, richtete der Aranier seine Aufmerksamkeit wieder auf Odina di Salsavûr. „Caballera, verzeiht die Verzögerung.“ Vorsichtig half er ihr, sich aufzurichten und die Riemen und Verschlüsse ihrer Rüstung zu öffnen. Unzweifelhaft machte er dies nicht zum ersten Mal, denn sein Vorgehen war routiniert und obgleich sein Blick meist auf die Domna selbst gerichtet war, fanden seine Finger zielstrebig die rechten Stellen, um sie erst aus ihrer Panzerung und dann aus ihrem Unterzeug zu befreien. „Caballera, nicht Signor. Mein Name ist einfach Shafirio.“ Er gab sich dabei Mühe, die Domna nicht durch einen ungeschickten oder gar unanständigen Blick in eine noch unangenehmere Lage zu bringen.
Die Horasierin nahm Shafirios Kommentar zur Bezeichnung 'Signor' mit einem Schnaufen zur Kenntnis. Ob es vor Schmerz oder aus einem anderen Grund war, vermochte er nicht zu sagen. "Habt Dank für die Hilfe", sagte sie dann, nachdem sie sich in den Lodenmantel des Hirten gehüllt hatte. "Wir sollten hier schnellstmöglich verschwinden und uns eine sicherere Unterkunft suchen. Ich traue diesem Hirtenpack nicht. Wisst ihr, wie weit wir weg von Kellfall sind?"
Shafirio schüttelte den Kopf. “Nein, das weiß ich leider nicht.“ Kritisch beäugte er die Caballera, die kaum einen Schmerzenslaut von sich gegeben hatte, während er sie nicht ganz schmerzfrei aus ihrer Rüstung heraus geholt hatte. Es war einfach schwierig mit den hohen Herrschaften: Obgleich die Domna verwundet worden war, vom Pferd in einen Fluss gestürzt und zerschunden an das Ufer der Lagerstatt zweier Hirten in unglücklicher Lage gefesselt angeschwemmt worden war und nun in den einfachen Lumpen jener Schafhirten vor ihm mit nassem Haar vor ihm stand, strahlte eine jede Faser ihres Körpers diesen Odem aus, der den Adel ständig zu umgeben schien. Niemand bei Verstand würde ihr das Hirtenweib abnehmen, aber es musste fürs erste genügen.
„Eine sichere Unterkunft? Hmm...“, brummte er nachdenklich, während er begann sich wenigstens seiner nassen Stiefel, Socken und des nassen Lederwamses zu entledigen. Am liebsten hätte er auch die durchnässten ledernen Beinkleider abgelegt, aber das war wohl kaum schicklich und obendrein gab es nichts anderes Trockenes mehr zum Anziehen. So seufzte er nur leise und behielt die Hose und das nasse Hemd an. Dann ging er barfuß in die Hocke vor dem Feuer und warf ein paar Scheite nach und stocherte mit dem Eisen in den auflodernden Flammen herum. „Euch drängt es noch in der Nacht weiter zu reisen, Caballera – nicht wahr?“ Er wandte den Kopf und sah fragend zu ihr herauf.
Odina nickte.
„Draußen geht aber ein scheußliches Wetter, wir wissen nicht genau, wo wir sind und der Pfad nach Taubental ist uns auch unbekannt. Da wollt Ihr doch hin, richtig?“ Der Blick aus den stahlblauen Augen des Araniers ruhte auf der Caballera. „Wenn Ihr gestattet... mein Vorschlag wäre, auf jeden Fall noch auf die Rückkehr des Hirten zu warten. Bis nach Kellfall kann es nicht weit sein, denn auch wenn der Fluss viel Wasser führt – so weit kann er uns in unserer Lage nicht abgetrieben haben. Wenn sich die schwarzen Adler dort befinden, dann brechen wir sofort dorthin auf. Andernfalls schlage ich vor, den Knaben als Führer anzuwerben und uns von diesem den schnellsten Weg ins Taubental weisen zu lassen. Vermutlich kennt er auch Wege, auf denen die Gefahr, bemerkt zu werden nicht so groß ist. Unter diesen Umständen wäre es unglücklich, erneut diesem verlausten einfältigen Sohns eines räudigen Khunchomer Straßenköters zu begegnen.“ Kurz mischte sich in seinen ansonsten sehr beherrschten Tonfall eine überraschend zorniger Klang.
"Hatte dieser räudige Thronräuber nicht etwas von einer Burg bei Kellfall gesagt, die von den Vivar gehalten wird?" Odina schaute den Tulamiden fragend an. "Wenn ja, wäre es dort..." – sie machte eine Pause und verzog schmerzhaft das Gesicht, als sie sich wieder zurück sinken ließ – "dorthin, nach Eurer Aussage, deutlich kürzer oder nicht? Wie weit ist Taubental von Kellfall entfernt?" Sie machte eine kurze Pause und schaute Shafirio wieder fragend an, nur um dann selbst weiter zu reden. "Es ist, glaube ich, sicherer, nach Kellfall und zu der Burg zurückzukehren, als nach Taubental zu reisen und das auch noch zu Fuß! In der Burg würden wir außerdem Pferde und angemessenere Kleidung als diese hier bekommen."
Der Blick der Ritterin hatte sich verfinstert und ließ nicht viel Spielraum für anders lautende Widerworte. "Auf den Knaben zu warten ist aber eine gute Idee. Aber wir sollten uns schon aufbruchbereit machen. Im Dunkeln zu reisen ist deutlich sicherer als im Hellen!"
Shafirio nickte nach einer Weile zustimmend. „Ich weiß nicht genau, wie weit es von Kellfall nach Taubental ist. Aber das lässt sich auf jeden Fall herausfinden – der eine der beiden Hütehunde wird das wissen.“ Er zuckte mit den Schultern und wandte sich gen Tür. „Ich sehe mal nach, was dieser Kerl treibt und versuche herauszufinden, wie weit es zur Burg ist.“ Damit öffnete er die Tür. Ein eiskalter Windstoß fuhr in die Kate der Hirten und ließ das Feuer aufflackern.
Als er heraustrat, fand er Lucran unter dem Vordach der Kate, wo das Holz gelagert war. Der Jüngling stand mit dem Rücken zu ihm und hieb mit einem Handbeil in der Luft herum.
„Sohn eines Esels!“, rief Shafirio ihn an.
Lucran zuckte zusammen und fuhr herum. Seine Augen funkelten verschlagen.
„Holz spaltet man auf einem Block, nicht in der Luft. Lass das Beil besser sinken und verscheuche jeden anderen Gedanken.“ Shafirio sprach mit ruhiger, kühler Stimme, aber er blieb aufmerksam und alarmiert. In den Augen des Hirten glitzerten Gier und Hass. „Ein entflohener Verbrecher und Wickelkopf hat einem echten Almadaner gar nichts zu befehlen!“
Der Aranier rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. „Ich bin weder noch. Und du solltest das Beil nun wirklich fallen lassen.“
Der Hirte funkelte ihn immer noch böse an und senkte die Hand mit dem Beil, nur sie dann plötzlich wieder hoch zu reißen und damit einen Satz nach vorn zu machen. Das niedersausende Beil hätte den Söldner beinahe übel erwischt.
Nur dank seiner geübten Reflexe gelang es dem Kämpfer, dem Schlimmsten ausweichen und so prallte der Hieb des Beils nur abgefälscht mit dem flachem Blatt auf seinen Oberschenkel. Die Antwort für diese Attacke folgte umgehend. Der erste gnadenlos wuchtige Schlag donnerte dem Hirten in den Magen, die umgehend folgende Gerade der Linken donnerte hart wie ein Vorschlaghammer seitlich auf seinen Kiefer. Es knackte laut. Keuchend, Blut und Zähne spuckend ging Lucran zu Boden.
„Ibn al kalb! Ibn sharmuta! Chinzir!“, fauchte der Söldner und ließ den Worten noch einen Tritt folgen. „Das war dumm!“ Er beugte sich hinunter und griff nach dem kleinen, aber scharfen Beil. Dann packte er mit der Linken den Hirten am Kragen und riss ihn wieder hoch. „Los! In die Hütte. Und lass solchen Unfug!“
Die Tür der Kate flog auf und Shafirio stieß den Hirten hinein. Lucrans Lippen waren aufgeplatzt und aus einem Mundwinkel rann Blut. „Der Narr hat mich mit dem Beil begrüßt“, kommentierte Shafirio trocken.
Odina schnaufte nur, als sie die beiden sah. Sie schüttelte den Kopf, als sie Shafirios Worte hörte. Sie zog eine Augenbraue nach oben. "Was hast du dir davon erhofft? Eine Belohnung von irgendwem?"
Lucran schwieg auf die Frage der Caballera und blickte stattdessen einfach finster drein, was im Angesicht seines ramponierten Gesichtes eher weniger überzeugend wirkte.
Der Söldner indes legte das Beil beiseite, bevor er sich wieder dem Hirten zuwandte und ihn anstieß. „He, die Caballera hat dich was gefragt!“ Mit einer gewissen Anerkennung für den sprichwörtlichen almadanischen Stolz und einem Kopfschütteln nahm der Südländer zur Kenntnis, dass dieser einfache Bursche ihn, statt ihm zu antworten, verächtlich anblickte und vor die Füße spuckte.
„Bei Levthans Hörnern, ich lass mir von einem entflohenen Verbrecher und Sandfresser nichts sagen!“
Der ‚vermeintliche‘ Sandfresser schaute fragend zu Odina ob dieser Reaktion und grinste leicht amüsiert. „Nur damit du es weißt – ich bin kein Ben Novad und Verbrecher, dafür solltest du dich zumindest bei der Caballera entschuldigen.“ Er deutete mit der Hand auf eine Stelle am Boden neben einen Pfosten, der das Dach der einfachen Behausung trug. „Setz dich da hin!“, forderte Shafirio Lucran auf.
Nach kurzem Zögern folgte Lucran den Anweisungen dann doch, wozu gewiss auch das kurze Anheben der geballten Faust beitrug.
„Gut, geht doch. Wir haben Fragen und wir erwarten Antworten. Verstanden?“ Shafirio betrachtete abwartend den Hirtenburschen und innerlich gestand er sich ein, dass er ihn ja auch ein wenig verstehen konnte. Einen Vertrauen erweckenden Eindruck mochten sie beide, als sein Bruder sie aus dem Fluss gefischt hatte, wohl kaum geboten haben und dass Südländer in Almada vielerorts einen schweren Stand hatten, wusste er nur zu gut. Er ließ sich in die Hocke herab und blickte den Burschen mit kühlem Blick an.
„Also gut“, hob er an und seine Augen fixierten Lucran, der sich hingesetzt hatte und sich mit dem Rücken an den Pfosten lehnte. Der Aranier legte demonstrativ die geballten Fäuste auf seinen Knien ab und fuhr fort. „Wie weit ist es bis Kellfall? Wie heißt die Burg bei Kellfall und wie gelangt man dorthin? Wie weit ist es von hier ins Taubental? Wie weit von Kellfall?“
Der Stolz in dem almadanischen Burschen hielt seinen Widerstand noch aufrecht und er schwieg weiter widerspenstig. Allerdings brauchte es nicht mehr viel, um die verbliebene Tapferkeit des Hirten zu brechen – ein weiteres handfestes Argument genügte und er kauerte sich dichter an den groben Holzposten und begann zu reden.
„Sitzen bleiben!“, befahl Shafirio und erhob sich, als er die Antworten auf seine Fragen erhalten hatte. „Zwei Meilen bis Kellfall. In der Dunkelheit dürfte der kleine Hirte eine Weile brauchen“, resümierte er nachdenklich. „Möglicherweise haben sich die Adler auf diese Burg Chellara zurückgezogen.“ Er sah fragend zu Domna Odina. „Habt ihr noch Fragen? Ansonsten bleibt uns nur, uns noch etwas aufzuwärmen und bei der Rückkehr des Kerls aufzubrechen.“ Er warf Lucran noch einen Blick zu und ging dann zu der Caballera herüber, um sich am Feuer wieder in die Hocke hinab zu lassen und sich ebenfalls etwas zu wärmen. Er wandte den Kopf zur Seite und sah zu der jungen Horasierin herüber. „Verzeiht, Caballera. Selbstverständlich nur, wenn Ihr weiterhin meine Anwesenheit wünscht.“
Odina nickte nur. Sie hatte während der Befragung Lucrans geschwiegen und nur ab und an genickt oder den Kopf geschüttelt, wenn Shafirio sie angeschaut hatte.
Sie war nicht wirklich zum Reden aufgelegt, da ihre Wunden schmerzten und sie dem Tulamiden wohl nicht wirklich erzählen musste, was er zu tun hatte um den Hirten zum Sprechen zu bringen. „Dann warten wir jetzt und hoffen, dass der Bursche sich beeilt und dass die Adler noch in der Nähe sind“, sagte sie mehr zu sich selbst, als zu Shafirio.
Nach über einem Stundenglas war das Stampfen von beschlagenen Hufen vor der Hütte zu hören, das sich rasch näherte. Mit dem lauter werdenden Hufgetrappel kamen noch weitere Geräusche, wie das Schlagen von Stahl auf Stahl hinzu. Es war unverkennbar, dass sich eine größere Gruppe gepanzerter Reiter näherte.
In der Kate lauschten Odina und die beiden Männer auf. Die junge Signora war wie versteinert, als sie den Klang hörte. Waren es Freunde oder Feinde, die da kamen? Hatten sie eine Möglichkeit, einer Gefangennahme zu entgehen? Diese Fragen schossen ihr durch den Kopf, während sie den Tulamiden anschaute. Ein kurzer Blick zu dem geprügelten Hirten genügte um zusehen, dass dieser noch verschreckter war als sie.
Vor der Hütte hörte man, dass die Reiter anhielten. Eine tiefe Stimme, gab kurze Befehle, die dafür sorgten, dass wieder schneller Hufschlag zu hören war, der sich in mehrere Richtungen entfernte.
Kurz darauf ging die Tür der Hütte auf und ein o-beinig laufender, leicht blasser und verängstigter Jeron trat ein. Hinter ihm erschien eine Gestalt, die in ihrer Rüstung die Gesamtheit der kleinen Tür ausfüllte und sich tief bücken musste, um einzutreten. Der Krieger, es war unverkennbar, dass es sich um einen solchen handelte, der eintrat, hatte seinen Helm abgenommen und musterte die drei Personen in der Hütte skeptisch. Im Licht der Flammen wurde die breite Narbe auf seiner linken Wange sichtbar.
Der skeptische Blick im Gesicht des Ankömmlings verschwand und ein freundliches Lächeln erschien dort. „Da ist man so fern der Heimat und trifft dennoch auf ein Familienmitglied. Es ist schön dich zu sehen, Odina, auch wenn es unter anderem Umständen deutlich angenehmer gewesen wäre, sich wieder zu treffen.“
Von Odina fiel sichtlich alle Anspannung ab, als die Stimme des Ritters, um einen solchen handelte es sich, hörte und in ihrem Gesicht erschien ebenfalls ein Lächeln, was aber schnell wieder verschwand, als sie versuchte aufzustehen. „Bin ich froh, dass du es bist, Dartan!“
Der angesprochene Condottiere trat auf das Strohlager zu und umarmte seine Base vorsichtig. „Rondra sei Dank, du lebst! Dann wollen wir dich mal nach Chellara bringen und danach diesem Bastard zeigen, aus was für einem Holz meine Jungs und Mädels sind!“ Dartans Gesicht wurde grimmig, während er sprach. Er kniete nieder und griff unter ihre Beine und Schultern, um sie hochzuheben.
„Bitte, Dartan“, sagte Odina, während sie sich an ihm festhielt, „dieser... Mann hier soll uns begleiten. Er war auch Gefangener meines Peinigers. Und nun hat er meine Wunden notdürftig verbunden. Ich bin ihm zu –“ Weiter kam sie nicht, weil der Schmerz ihre Schulter so heftig durchfuhr, dass sie die Zähne auf einander schlagen musste.
Der Condottiere musterte den Tulamiden kurz von oben bis unten, nickte dann kurz und trug seine Base aus der Hütte.
Shafirios Anspannung fiel ebenfalls ab, als er erkannte dass es dem Hirtenknaben geglückt war, die Schwarzen Adler ausfindig zu machen und ihren Anführer Dartan d’Alsennin-Salsavûr von Dûrenstein herzuführen. Der Söldner konnte sich noch ein wenig an ihre erste Begegnung erinnern, wie aber war es bei dem Condottiere? Er war sich nicht sicher, was dies bedeutete und welche möglichen Konsequenzen ein Wiederkennen haben mochte.
Als er, Stiefel und Wams in der Hand, hinter Dartan di Salsavûr aus der Hirtenkate trat, stellte er mit Erstaunen fest, dass es aufgehört hatte zu regnen. Die Erde schmatzte feucht unter seinen nackten Füßen, und die Luft hatte jenen nassen Duft aufgenommen, mit dem der Wettergott die Frommen und Beständigen nach jedem Regen belohnte.
Irgendwo in der Dunkelheit blökten die Schafe. Aufmerksam sah Shafirio um sich. Zwei behelmte Söldner drängten sich an ihm vorbei in die Hütte, um die Rüstungsteile der Signora einzusammeln. Andere saßen, Fackeln in der Hand, auf ihren Rössern und betrachteten ihn schweigend. Shafirio zeigte ihnen die leeren Hände zum Zeichen, dass er unbewaffnet war.
Da entdeckte er den schwarzen Vogel. Er saß auf dem Ast einer knorrigen Eiche, welche neben der Kate aus dem Boden wuchs, und starrte Shafirio stumm an. Zunächst dachte der Aranier, das Tier müsse ein Adler sein und die Söldner hätten es als ihren Glücksbringer mitgebracht. Doch dann erkannte er, dass es sich um einen schwarzen Raben handelte. Das Tier fixierte ihn auf unheimliche und zugleich vertraute Weise mit seinen jettschwarzen Knopfaugen.
Als eine Söldnerin Shafirio die Hand bot, um ihn auf ihr Pferd zu ziehen, achtete er ihrer daher gar nicht. Erst als sie rief „He, du! Steig auf! Ich hab’ nicht bis Sankt Gilborn Zeit!“, ergriff er ihre Hand. Als er sich wieder zu dem Raben umblickte, war dieser bereits aufgeflogen.
|