Chronik.Ereignis1033 Feldzug Epilog 05
Grafschaft Ragath, 17. Firun 1033 BF[Quelltext bearbeiten]
Auf der Reichsstraße nach Ragath und in Ragath[Quelltext bearbeiten]
17. Firun, nachmittags[Quelltext bearbeiten]
Autor: von Scheffelstein
"Ihr hättet das nicht tun müssen", sagte Richeza von Scheffelstein y da Vanya, als sie anderntags auf der tiefverschneiten Reichsstraße nach Norden ritten. "Das mit der Magierin."
Gendahar von Streitzig schaute amüsiert zu ihr herüber. "Nein, hätte ich nicht", sagte er. "Aber ich habe einen Ruf zu verlieren. Stellt Euch vor, der Yaquirblick hätte geschrieben: Schönste Dame Almadas im Ehrenduell erschlagen, bester Fechter des Landes schaut tatenlos zu."
"Dom Hernán hat mich nicht erschlagen, wie Ihr seht." Richeza warf ihm einen unwilligen Blick zu und fragte sich, ob er sich über sie lustig machte.
"Oh, Ihr habt natürlich recht", sagte er, den Blick auf die vor ihnen liegende Straße gerichtet. "Ich war ungenau. Wahrscheinlich hätten sie geschrieben: Ragatische Furie verblutet nach Ehrenduell in den Armen von Almadas bekanntestem Herzensbrecher."
Richeza runzelte die Stirn noch weiter. Entweder er machte sich über sie lustig oder er war genauso arrogant und von sich selbst überzeugt, wie man ihm nachsagte.
Er sah sie wieder an, ernst, nur die Augenbrauen ein wenig gehoben. "Wisst Ihr, Domna Richeza, der Teil mit dem Verbluten ist derjenige, der mir an der Geschichte nicht gefällt."
Sie schnaubte. Er seufzte. "Ihr hattet in der Tat viel Blut verloren, konntet Euch doch auf der kurzen Strecke vom Kloster zum Gasthaus kaum auf dem Ross halten, wart verletzt, und es war wahrlich nicht das beste Wetter zum Reisen." Er machte eine ausschweifende Geste über die im fahlen Sonnenlicht weiß glitzernden Felder und Weiden, die Windmühlen, die wie erfrorene Riesen auf den Hügeln standen, mit langen Eiszapfen an den Flügeln.
Ja, es hatte den ganzen Nachmittag und Abend und sogar die ganze Nacht hindurch geschneit. Und dennoch ...
"Ihr kanntet nicht zufällig jemanden in der Nähe, der der arkanen Künste mächtig ist. Ihr hattet die Magierin schon vorher in das Gasthaus bestellt."
"Sicher ist sicher", gab er mit einem beiläufigen Neigen des Kopfes zu.
Richeza machte ein finsteres Gesicht. Also hatte er damit gerechnet, dass sie verwundet würde, schwer genug, um nicht einfach zurück nach Ragath reiten zu können! Sie ballte die Faust um die Zügel. Die Faust, die noch gestern ein Trümmerhaufen gewesen war. Die Knochen waren verheilt, der Schnitt an ihrem Arm verschwunden, die Schmerzen ebenso. Alles, was sie noch merkte, war eine gewisse Müdigkeit durch den Blutverlust.
"Danke", sagte sie leise. "Das war ... freundlich."
"Freundlich!" Er lachte und warf ihr erneut einen amüsierten Blick zu. "Freundlich also, ja?"
"Ja, ich meine ..." Sie verstummte, und eine Weile ritten sie schweigend durch die erstarrte Landschaft, vorbei an knorrigen Olivenbäumen und zugefrorenen Seen. "Damals, in Selaque ... Wenn Ihr nicht ins Vanyadâl zurückgekehrt wärt, dann wäre ich jetzt vermutlich tot. Die Base der Elenterin hätte mich erschlagen und meinen Vetter und den jungen de Vargas gleich dazu."
"Na, da haben wir ja Glück, dass ich gerade zur rechten Zeit am rechten Ort war", sagte er ernst.
Sie sah ihn an. Seine Augen wanderten über ihr Gesicht. "Warum?", fragte sie. "Warum seid Ihr zurückgekehrt?"
"Vielleicht um genau das zu verhindern: Dass Ihr erschlagen werdet." Er hob die Hände in einer ergebenen Geste, als er ihren misstrauischen Blick bemerkte. "Was wollt Ihr denn hören, Domna Richeza? Dass ich es mir nie verziehen hätte, wenn eine so liebreizende Dame wie Ihr getötet worden wäre? Dass es mir leid tat, Euch in der ... Obhut ... des Aranjuezers zurückgelassen zu haben? Oder würdet Ihr mir eher Glauben schenken, wenn ich sagte, ich sei zurückgekehrt, um mir das Castillo da Vanya unter den Nagel zu reißen, jetzt, da es ohne Herrin war?" Er lachte über ihren Gesichtsausdruck. "Richeza, das glaubt Ihr doch wohl selber nicht! Was sollte ich wohl mit einem Castillo im ferkinaüberrannten Bosquirtal anfangen?"
"Was ..." Sie sah auf ihre Hände und strich dem Fuchs, den ihr Großonkel ihr geliehen hatte, da ihr eigenes Pferd auf dem besagten Castillo verendet war, ein paar Schneeflocken aus der Mähne. "Habt Ihr Euch deshalb als mein Sekundant angeboten? Weil Euch leid tat, mich als Gefangene des Aranjuezers zurückgelassen zu haben?"
Er zuckte mit den Schultern. "Vielleicht."
Richeza dachte an das zurückliegende Duell. Der Sieg, der ihr sonst so wichtig war, schmeckte schal, schien bedeutungslos. Hernán von Aranjuez hatte sich ihrer Forderung gestellt und dadurch bewiesen, dass er sie als Person von Stand achtete und sich den Vorwurf einer demütigenden Behandlung nicht gefallen lassen musste. Und dennoch hatte er sich noch immer nicht gemüßigt gefühlt, mit ihr zu sprechen, ihre Gefangennahme zu erklären. Mit keinem Wort. Ja, auch wenn er die Forderung angenommen, sich zum Ehrenduell gestellt hatte, hätte sie sich gedemütigt gefühlt, wenn sie verloren hätte. Ihr verdammter Stolz! Reichte es nicht, zu kämpfen, musste sie sich denn stets beweisen, dass sie unantastbar war, sich selbst gegen jeden verteidigen konnte? Der Ausgang des Duells aber war glücklich gewesen, das musste sie zugeben. Und in den Bergen hatte sie sich so gar nicht zu verteidigen gewusst! Drei Gefangennahmen in nur einem Mond, das war demütigend! Erst durch einen grünen Jungen, dann durch einen zahnlosen Greis und zuletzt durch den Söldnerbaron, dem sie gerade zu vertrauen begonnen hatte.
Der Söldnerbaron, dem sie vertraut hatte. Eine feine Gänsehaut kroch über ihren Rücken, und die Haare an ihren Armen stellten sich auf. Söldnern war nicht zu trauen, wie oft wollte sie diese Lektion noch erhalten, ehe sie sie lernte? Sie schob die Gedanken beiseite. Wahrlich, es war kein guter Sommer gewesen! So vieles hatte sich ereignet, so viel Unerfreuliches: Ihr Lehen von Ferkinas geplündert, Kornhammer von den Wilden zerstört, der Familienbesitz der da Vanyas von der fetten Elenterin geraubt, das Castillo da Vanya vom Blitzschlag geschädigt, ihre Tante beinahe von einem Dämon zerrissen und nur durch ein Wunder noch am Leben, ihr Vetter Moritatio tot, der Gemahl ihrer Tante verschollen, die Gemahlin ihres verstorbenen Onkels von Harpyien zerfetzt, und das alles nur, weil Fenia, diese Närrin, ihren Sohn zur denkbar ungünstigsten Zeit allein in die Berge geführt hatte. Praiodor. Immerhin hatten sie Praiodor gefunden. Auch wenn er ihr fremd geworden war, und das, nachdem sie drei Jahre ihres Lebens geopfert hatte, um ihn vor dem Tod zu bewahren. Praiodor ...
"Wo ist Praiodor jetzt?", fragte sie laut. "Wie geht es ihm?"
Gendahar von Streitzig wirkte abwesend. Im ersten Moment glaubte sie, er habe ihre Frage nicht vernommen. "Seid unbesorgt, Domna Richeza", sagte er dann. "Praiodor ist wohlauf. Ich habe ihn selbst nach Culming gebracht zu seinem Onkel, Fenias Bruder. Dom Stordan wird sich um den Jungen kümmern, bis er alt genug ist, von einem Magnaten oder einer Magnatin als Knappe angenommen zu werden. Es geht ihm gut. Er trauert um seine Mutter, natürlich, aber nicht zu sehr. Er ist wissbegierig und lernt schnell, und Stordan wird schon dafür sorgen, dass er seine Kränklichkeit überwindet und ein richtiger Mann aus ihm wird." Der Thangolforster zwinkerte Richeza zu.
Sie nickte nur und seufzte leise. Die Zeit nahm weiter ihren Lauf, und wenn es Praiodor gut ging – nun, das war es schließlich, was sie gewollt hatte, oder nicht? Wieder verfielen sie in Schweigen, hingen ihren Gedanken nach, während die Pferde über die weiße Straße dahin trabten.
Es war nicht viel los auf der Reichsstraße und auch auf den Feldern und Höfen zu ihren Seiten nicht. Zweimal kamen ihnen Bauern entgegen, einmal ein Fuhrwerk, das Fässer geladen hatte, und einmal eine Kutsche mit verhangenen Fenstern. Von hinten überholte sie ein Reiter auf einem schwarzen Ross. Sein flatternder schwarzer Umhang mit dem geflügelten goldenen 'B' wies ihn als Beilunker Botenreiter aus. Grußlos eilte er vorüber, die Hufe des Rappen wirbelten Schnee auf.
Zwei weitere Reiter kamen ihnen entgegen, junge Männer in der schwarzen Tracht der kaiserlichen Hofjunker, die stolz das Wappen ihres Banners auf der Brust trugen, das sich füllende Madamal über dem steigenden, silbernen Ross. Sie prahlten lauthals über ihre Bettgeschichten und übertrafen sich gegenseitig mit Spottnamen für irgendwelche Kameraden und unliebsame Ausbilder. Sie schienen dem Wein ein wenig zu viel zugesprochen zu haben und bemerkten die ihnen entgegenkommenden Reiter erst kurz bevor die Landedle und der Thangolforster Vogt auf ihrer Höhe waren.
Schlagartig verstummten die jungen Männer, doch statt zu grüßen, wie es die Etikette geboten hätte, glotzten sie erst den Streitzig an, dann Richeza, sahen noch einmal zurück zu Dom Gendahar, der sich belustigt an den Caldabreser tippte, und schon waren sie bereits an den beiden vorbei gezogen. Richeza hörte ihr Getuschel hinter sich und glaubte, ihre Blicke in ihrem Rücken zu spüren, während sie sich allmählich voneinander entfernten.
Natürlich, man würde reden! Ganz Punin würde reden, das ganze Königreich, noch ehe der Mond vorbei war. Habt Ihr schon gehört? Gendahar von Streitzig hat der Ragatischen Furie im Duell sekundiert! – Sekundiert? Oder sich für sie geschlagen? Und das würden noch die harmlosesten Gerüchte sein, da war sie sich sicher. Ja, vielleicht hatte der Streitzig recht und auch die Schreiberlinge des Yaquirblick würden sich – wieder einmal – das Maul zerreißen. Mit der Wahrheit nahmen diese Canaillen es ja leider nicht so genau. War es das, was er gemeint hatte, als er sagte, er habe einen Ruf zu verlieren?
Sie sah ihn von der Seite an, aber er schien in Gedanken versunken, hatte den Blick auf die fernen Türme Ragaths gerichtet, die in den im Licht der untergehenden Sonne diesigen rotgelben Himmel ragten.
Es dämmerte, als sie das Puniner Tor der Grafenstadt passierten und zum Burgberg hinaufritten, nicht auf der gewundenen Straße, die zum Castillo Ragath führte, sondern auf der steil ansteigenden zu den Palazzos der Stadtadligen. Vor dem Anwesen ihres Großonkels stiegen sie ab, und während Richeza das Tor öffnete, hängte der Thangolforster die Zügel seines weißen Hengstes über einen leeren Fackelhalter, der aus der Mauer ragte.
"Werdet Ihr noch heute ins Yaquirtal zurückreiten?", fragte die Landedle, als ein Bursche herbeieilte, um ihr das Pferd abzunehmen.
"Nein", sagte er und wies zur Burg hinüber, "ich werde die Nacht bei meiner Schwester verbringen."
Einige Lidschläge lang herrschte Schweigen, während sie ihn musterte und er gedankenverloren über die Dächer der Stadt hinweg nach Süden blickte.
"Danke, Dom Gendahar", sagte sie schließlich leise, "für alles, was Ihr für mich getan habt. Ich ... bin Euch etwas schuldig. Nicht nur um meinetwillen, auch wegen meines Vetters, Praiodor."
Er sah sie an, wieder ganz im Hier und Jetzt.
"Wenn es irgendetwas gibt, was ich tun kann", sprach sie ernst, "um diese Schuld zu begleichen, so lasst es mich wissen."
Ein feines Lächeln begann seine Mundwinkel zu umspielen, das breiter wurde und breiter, dann hob er zweimal herausfordernd die Augenbrauen und grinste sie an. "Einen Kuss?"
Sie öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Ein Anflug von Ärger huschte über ihr Gesicht, dann aber schürzte sie die Lippen und hob ihrerseits kokett die Brauen. "Ihr habt ganz recht, Dom Gendahar", sagte sie spitz, "das Leben meines Vetters ist mir teuer. Ein hoher Preis von daher nicht zu viel verlangt." Sprach's, reckte sich auf die Zehenspitzen, wobei sie sich kurz mit der Linken an seinem Arm abstützte, und küsste ihn – wenn auch flüchtig – auf den Mund.
Doch als sie sich auf die Füße zurückfallen ließ, legte er ihr sacht die Hand in den Nacken, ehe sie zurücktreten konnte. Mit dem Daumen strich er eine Strähne von ihrer Wange, fuhr ihr Jochbein nach, bis zu ihrem Ohr.
"Das nennt Ihr einen Kuss, Domna?", fragte er leise. "Meint Ihr, ich wüsste ein scheues Veilchen nicht von einer stolzen Rose zu unterscheiden? Oder wollt Ihr mich glauben machen, Ihr hättet noch nie einem Mann einen Kuss geschenkt, der diese Bezeichnung verdient? Was würde wohl die stolze Domna Richeza sagen, wollte ich ihr das hier" – er küsste sie ebenso flüchtig – "als hohen Preis verkaufen?"
Richeza öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber er neigte sich vor und verschloss ihr die Lippen mit den seinen. Im ersten Moment zuckte sie zurück, doch seine Hand in ihrem Nacken hielt sie fest, mit sanftem Druck, und so erwiderte sie zögernd den Kuss. Erst, als er ihre Lippen öffnete und mit der Zunge ihren Mund zu erkunden begann, wich sie zurück, mit klopfendem Herzen und nicht nur vor Kälte brennenden Wangen.
"Ich ...", begann sie, räusperte sich und setzte erneut die kokette Miene auf, jedoch weniger überzeugend als zuvor. "Mir scheint, Dom Gendahar, als hättet Ihr Euren Preis nun nicht nur einmal, sondern gar ein zweites, nein drittes Mal erhalten. Das wiederum lässt Euch in meiner Schuld zurück."
Er lachte, betrachtete sie noch einen Moment und griff dann nach den Zügeln des Hengstes. "In der Schuld einer Dame wie Euch zu stehen, ist mir ein Vergnügen, Domna Richeza."
"Einer Dame-wie-mir?", fragte Richeza gedehnt, doch er antwortete nicht, schwang sich aufs Pferd und wendete es. Vor ihr blieb er stehen und beugte sich aus dem Sattel ein wenig zu ihr herab. Sein Gesicht war ernst, aber in seinen blauen Augen blitzte es.
"Sollte ich je versäumen, diese Schuld zu begleichen, Domna Richeza", sprach er, "so wisst Ihr, wo Ihr mich findet, um meinen Lohn zurückzufordern."
Er richtete sich auf, hob huldvoll die Linke an den Hut, schnalzte mit der Zunge und trieb dem Hengst die Hacken in die Flanken. Ohne sich noch einmal umzublicken, lenkte er das Ross die schneebedeckte Straße hinunter.
Als sie keinen halben Wasserlauf später zufällig am offenen Fenster der Dachkammer stand, die sie im Haus ihres Großonkels bewohnte, meinte sie, einen Reiter auf einem weißen Pferd durch das Burgtor reiten zu sehen. Aber natürlich war es viel zu dunkel, um sicher zu sein, denn das Tor wurde nur spärlich von Fackeln erhellt und war zu weit weg, als dass man die Farbe eines Rosses oder gar das Gesicht eines Mannes hätte erkennen können.
Richeza blickte zu den fernen Gipfeln des Raschtulswalls hinüber, an dessen Hängen sie zu Hause war. Frei war das Land von den Ferkinas, der Kaiser selbst hatte die Barbaren bezwungen, ein Bündnis mit ihnen geschlossen und einige von ihnen als seine Leibgarde mit an den Hof genommen. Die Sterne waren über dem Gebirge aufgegangen, kündeten vom Anbruch einer neuen Zeit. Einer neuen Zeit für Almada. Einer neuen Zeit – auch für sie? Wie ein schwerer Tropfen geronnenen Blutes hing der volle rote Mond über den Bergen. Ob das ein gutes Zeichen war? Oder ein böses Omen? Richeza schloss das Fenster, schloss die Winterluft aus und schlang sich fröstelnd die Arme um die Schultern. Plötzlich war ihr kalt.
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