Chronik.Ereignis1032 Alte Freunde, alte Feinde 06
Capitale Punin, 29. Travia 1032 BF (Gilbornstag)[Quelltext bearbeiten]
Im Flusshafen (am frühen Morgen)[Quelltext bearbeiten]
Autor: SteveT
Massacia erwachte mit dumpf dröhnenden Kopfschmerzen. Sie hatte keine Vorstellung, wie lange sie ohnmächtig gewesen war, aber ihr gesamter Schädel schmerzte, als ob eine Ladung Hylailer Feuer inmitten ihres Kopfes explodiert wäre. Erst nach einiger Zeit wurde ihr bewusst, dass die Schmerzen offenbar von einer kolossalen Beule oder Wunde am Hinterkopf ausgehen mussten und sie rollte sich stöhnend auf die Seite, worauf tatsächlich eine minimale Linderung eintrat.
Blinzelnd öffnete sie die Augen. Sie lag auf einem schmutzigen Steinfußboden, der an vielen Stellen mit Sägespänen bedeckt war. Um sie herum standen Holzkisten und Fässer, offenbar befand sie sich in einem Kontor oder Lagerraum. Mit Schrecken stellte sie fest, dass ihre Handgelenke mit einem groben Strick hinter dem Rücken zusammengebunden waren. Auch ihre Beine waren gefesselt. Schlagartig war sie hellwach. Wo befand sie sich hier und wie war sie hierher gekommen? Schemenhaft kehrte die Erinnerung zurück. Filippo! Ihr geliebter Filippo! Sie hatten sich vor dem Tor der Eisengärten getroffen, aber dann brach die Erinnerung jäh ab - jemand musste sie niedergeschlagen haben! Der Raum war nicht das Arsenal, auch wenn ihr einige der herumstehenden Kisten und Fässer von dort bekannt vorkamen. Sie trugen das Schlüsselwappen Punins mit Brandzeichen eingebrannt.
Massacia versuchte sich bemerkbar zu machen, denn von irgendwoher waren Stimmen zu hören. Aber auch ihr Mund war mit einem Streifen stickenden Leinentuchs zugebunden worden. Sie schnupperte. Neben dem Stofffetzen roch sie noch etwas anderes - den Geruch von Brackwasser, wie er in den warmen Monden überall in der Nähe des Yaquirs in der Luft hing. Möglicherweise befand sie sich im Flusshafenzehntel, wenn sie überhaupt noch in Punin war, es kam ihr vor, als ob von draußen ab und an das Geschrei von Möwen und das markante Quietschen des großen Hafenkrans von Punin zu hören waren.
Halb verdeckt durch eines der Fässer mit dem Arsenal-Zeichen sah sie fünf Männer nahe des Ausgangs des großen Raumes beisammen stehen. Zwei davon trugen eine Augenklappe, aber einer auch den grünen Wappenrock der Garde Punins - ihrer Einheit - und ein weiterer war - bei allen guten Göttern, ja er war es! - Filippo, ihr Filippo! Sie musste sich bemerkbar machen, dann würden er und der Gardist, den sie im Moment nicht erkannte, ihr sofort zur Hilfe eilen.
"Mmmmippooo....Mmmmippoooo...", brummte sie durch den Knebel hindurch.
Die fünf Männer wandten augenblicklich die Köpfe in ihre Richtung.
"Sieh einer an, unsere Schlafmütze ist erwacht!", grinste Vesijo de Fuente hämisch.
"Soll ich sie gleich wieder ins Reich der Träume schicken?" frug Constanzo, der seine feine Hofjunker-Kleidung gegen den Waffenrock Massacias getauscht hatte.
"Nichts da, Jungchen! Du schlägst bestimmt zu wie ein Mädchen! Ich übernehme das!", hielt ihn Tego Colonna am Arm fest und zog einen Streitkolben aus einem der Fässer, um dessen Stiel ein paar Mal wie einen Knüppel prüfend in seine Handfläche klatschen zu lassen. Bedrohlich kam er auf Massacia zu.
Diese schloss sofort wieder die Augen und legte sich ganz still hin, als ob sie wieder in Ohnmacht gefallen wäre.
Die Tür des angemieteten Lagerhauses öffnete sich und von draußen vom Uferkai trat eine von Colonnas Söldnerinnen ein, gefolgt von einem ganzen Trupp abgerissener Gestalten aus der Unterstadt.
"Da wären wir! Jeder nimmt sich nur eine Klinge!", öffnete die Söldnerin die herumstehenden Truhen und Fässer und die Lumpenträger zogen sich mit boshaft glitzernden Augen und vorfreudigem Grinsen begeistert Raufedegen, Säbel und Schwerter heraus.
"Da liegen Tücher!", deutete Vesijo de Fuente auf einen hohen Stapel schmutziger Stoffballen. "Wickelt die Waffen darin ein! Ich will keinen sehen, der mit offener Klinge zum Gilbornslauf kommt! Ihr alle wisst, was ihr zu tun habt? Zur Praiosstunde auf dem Theaterplatz! Verteilt euch in der Menge quer über den ganzen Platz! Ich will keine zwei von euch beisammenstehen sehen! Wenn das Rennen vorbei ist, muss auch der Umsturz geglückt sein. Wenn ihr mich anstatt Sfandini neben dem Sieger auf der Loggia des Palacio di Mayor seht, wisst ihr, dass alles gut gegangen ist - dann beginnt eure Arbeit!"
"Dann holen wir uns das zurück, was uns die Pfeffersäcke jahrelang gestohlen haben!", grinste einer der schmutzstarrenden Männer aus fast zahnlosem Mund.
"So ist es!", nickte Dom Vesijo. "Heute Mittag ist ihre Herrschaft ein für allemal beendet! Unter mir als Tribun wird sich einiges ändern, darauf habt ihr mein Wort..."
"Lang lebe der Tribun!", brüllten die Elenden.
"Scht, scht..", beschwichtigte sie der Amhallasside. "Noch bin ich es nicht! Bis heute Mittag bewahrt jeder von euch absolutes Stillschweigen oder mein Strafgericht wird über ihn kommen! Heute Abend werden wir genug Grund haben, ausgelassen zu sein und zu feiern! Und jetzt los! Jeder geht seinem gewohnten Tagwerk nach!"
"Aber Herr - heute ist doch Feiertag!", blickten ihn die Unterstädter verwirrt an.
"Dann macht eben das, was ihr sonst auch am Gilbornstag zu tun pflegt. Nicht einmal eure eigene Sippe darf eine Veränderung an euch bemerken!"
Nachdem der Mob mit den in Lumpen eingewickelten Klingen unter dem Arm abgezogen war, meldete sich Balbiano di Abrantes, der Fünfte im Bunde, zu Wort: "Ob das klug war? Auf eine Rotte derart verzweifelter Halunken und Taugenichtse zu setzen? Die werden uns mehr schaden als nützen!"
"Ich setze nicht auf sie!", schüttelte Vesijo den Kopf. "An den wirklich entscheidenden Punkten werden Eure und Colonnas Mercenarios zuschlagen. Diese Schmutzfinke sind nur dazu da, die Patrizier beschäftigt zu halten. Wer die eigene Familia und den eigenen Palacio verteidigen muss, der hat keine Zeit dafür, sich um Geschehnisse im Rathaus zu scheren. Und jetzt kommt, ich erwarte noch einen wichtigen Gast, der für uns sehr nützlich sein wird!"
Draußen an einem der vier Hafenkais Punins schritt Hafenmeister Federigo Valbassi zitternd und rotnasig die Reihe der sanft im glitzernden Hafenwasser dümpelnden Schiffe ab. Er sah sich verstohlen nach allen Seiten um und zog eine Phiole mit würzigem Valposbrand aus der Rocktasche, von dem er einen tiefen Schluck nahm. Ah, das tat gut! Der vertraute strenge Geschmack beruhigte augenblicklich seine Nerven und linderte auch das Händezittern, das ihm seit einiger Zeit unter anderem beim Schreiben schwer zu schaffen machte.
Wenn es wirklich stimmte, dass die Taladuris seinen reichen Vetter und Gönner Abdul Assiref entführt hatten und nun ein horrendes Lösegeld forderten, so musste er alles für dessen Freikommen tun, denn ohne Abduls Protektion waren seine Tage als Hafenmeister schnell gezählt. Wenn nur nicht auch noch die Skorpione gestern abend verloren hätten! Es waren wirklich schlimme Zeiten!
Von Süden her näherte sich ein schlanker Flusssegler mit dem Adlerbanner des Horasreiches am Hauptmast. Valbassi kannte den Kapitän flüchtig, er lief Punin mehrmals im Jahr an. Taue flogen über das Wasser, die Kaiburschen verknoteten das Schiff mit routinierten Handgriffen an den Pollern, das sich daraufhin selbstständig näher an das Kai heranschob. Valbassi wartete, bis das Trittbrett hinüber geschoben worden war und kurze Zeit später kam der liebfeldische Kapitän, gefolgt von einem vornehm gekleideten Passagier, an Land spaziert.
"Praios zum Gruße! Ihr bringt gutes Wetter zum Gilbornstag mit! Was habt Ihr geladen, Capitán?", reichte ihm der Hafenmeister zur Begrüßung die Hand.
"Seid gegrüßt! Ausschließlich Tuche, Herr Hafenmeister! Dreifach gewirkten Silberbrokat aus Pertakis und außerdem 16 Ballen Goldfelser Linnen! Hier sind die Papiere..." Er wandte sich um und deutete auf seinen Passagier. "Außerdem hatte ich die Ehre, diesen Edelmann hier transportieren zu dürfen, der gebürtig aus Eurer schönen Stadt stammt. Sein Name ist..."
"Hola! Hafenmeister!", legte sich in diesem Moment eine Hand von hinten auf Valbassis Schulter. Hinter ihm stand ein blonder Edelmann von vielleicht 20 Götterläufen, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet. Er wurde von einem Stadtgardist begleitet. "Befehl des Decimo Criminale! Wir haben diesen Mann hier unverzüglich zum Palacio di Mayor zu eskortieren! Er soll vernommen werden!"
Der Hafenmeister starrte den jugendlichen Edelmann und den kaum älteren Gardisten in seiner Begleitung überrascht an, dann den vornehm in Cape, Caldabreser und Schnallenschuhe gekleideten Passagier, der eben vom Trittbrett an Land trat. "Eine Vernehmung? Wieso? Was hat er ausgefressen?"
"Das hat man uns selbstverständlich nicht mitgeteilt!", zischte ihm Filippo nahe an seinem Ohr zu. "Aber wenn ihn das Decimo vom Schiff weg verhaften lässt, könnt Ihr Euch sicher sein, dass sein Vergehen von allergrößter Tragweite sein muss! Wenn Ihr darauf besteht, kann ich den Räten des Decimos natürlich mitteilen, dass sie uns das nächste Mal extra eine schriftliche Begründung ihres Verdachts für unseren treusorgenden Hafenmeister mitgeben!"
"Oh, nein, nein!", wehrte Valbassi ab. "Was die hohen Herren entscheiden, wird schon seine Richtigkeit haben. Ich bin der Letzte, der das jemals in Frage stellen würde. Richtet ihnen vielmehr meine besten Wünsche und Empfehlungen aus!"
"Das werde ich!", nickte Filippo kurz angebunden und wandte sich dann direkt an den Passagier. "Vorwärts, mein Herr! Folgt mir! Ihr werdet bereits erwartet!"
Der Angesprochene setzte eine sorgenvolle Miene auf und murmelte etwas wie "Das dachte ich mir bereits". Dann folgte er dem jungen Edelmann, selbst gefolgt von dem Stadtbüttel, und setzte erstmals seit fast 19 Jahren wieder einen Fuß in die Stadt, aus der man ihn einst so schmachvoll verbannt hatte. "Endlich wieder zu Hause! Es hat sich baulich einiges verändert, wie ich sehe!", begutachtete er die neuen Kontore an der Hafenpromenade, an denen Namen wie Assiref, Veracis oder Pichelstein prangten. Er schüttelte den Kopf über den Hafenmeister und begann zu lachen, sobald sie die Hafenmauer in Richtung der Innenstadt passiert hatten. "Was für ein Trottel! Ihr habt Eure Rolle gut gespielt! Wie heißt Ihr, mein Junge?"
"Filippo di Lacara, Sohn des Dom Felipe und Hofjunker in Diensten Seiner Majestät. Das dort ist mein Cumpan Constanzo von Brindâl."
"Donato Galandi der Jüngere", stellte sich der Ankömmling vor. "Bis zu meiner Verbannung durch das von Euch gerade eben angesprochene Decimo Criminale war ich zur Regierungszeit meines treuen Freundes Rachan Sfurcha erster Ratsherr der Stadt und Leiter der Tuchmacher- und Wollweber-Gilde. Inzwischen hat sich mein sauberer Bruder Feron all diese Ämter und Titel angeeignet, die mich einst schmückten, und sein missratener Sprössling Gonzago haust in dem Palast, den ich mir einst als mein Heim und Refugium errichten ließ - so viel konnte ich auch fern der Heimat in meinem horasischen Exil in Erfahrung bringen. Er, Assiref, Albizzi und all die anderen, die damals an meinem Sturz mitgewirkt haben, leben wie die Maden im Speck in dem Reichtum, den sie uns stahlen! Ihr könnt Euch vorstellen, wie ich mich freue, heute den Spieß umzudrehen und sie fallen zu sehen - just am höchsten Feiertag, den Punin kennt! Ich bin mir sicher, der heilige Gilborn selbst schaut heute mit Wohlgefallen auf uns herab!"
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