Chronik.Ereignis1043 Selkethaler Pferderennen zu Ehren der schönen Göttin 1043 BF 22
Edlengut Selkethal, 22. Rahja 1043 BF, am Morgen
Autoren: Jott und Von Scheffelstein
Ta’iro lief gedankenversunken neben dem Pferd der schönen Baronsgemahlin her.
Sein Pflock. Es war wirklich sein Pflock gewesen, der sie hatte stolpern lassen. Er selbst hatte ihn angespitzt, vor nicht einmal 10 Tagen. Die Kerbe für die Schlinge hineingeschnitten. DIe Schlinge angebracht und mit seinen Kindern die Fallen gelegt. Aber doch unweit von ihren Wagen. Und sie hatten sie auch wieder weggenommen und in die Wagen gebracht. Wie nur hatte einer seiner Pflöcke den Weg hierher gefunden, mitten auf dem Übungsplatz? Und wieso war es nicht er selbst gewesen, der sich verletzt hatte? Wieso nicht Algerio?
Ta’iro betrachtete Domna Richezas nahezu makelloses Profil. Wieso hatte ausgerechnet sie sich verletzt? An einem Pflock, der nicht hätte da sein sollen…
Sein Blick blieb an der Narbe hängen, die sich, einer feinen Tränenspur gleich, von ihrem Auge über ihre Wange zog. Ta’iro lächelte. Sogar ihre Makel waren schön. Was war nur der Plan des Weltenwebers für sie? Welche Rolle sollte sie spielen? Es gab einen Grund aus dem sie hier war. Sie mochte das Rennen dafür halten, doch hatten die Götter jemandem wir ihr gewiss eine Rolle in einem größeren Plan zugedacht.
Als Farfanya ihm von Ihrer Vorfahrin erzählt hatte, da hatte er, vermessen wie er nun einmal war, den Grund für ihre Anwesenheit noch in sich selbst gesehen. Geglaubt, dass sein Herr ihm durch sie Antworten auf Fragen zuteil werden lassen wollte, die er sich schon so lange gestellt hatte.
War dies zu vermessen gewesen? Oder nur nicht weitblickend genug? Nun, nachdem ihm sein Herr einen vagen Einblick in die Zukunft gewährt hatte, war es doch viel wahrscheinlicher, dass sein Grund ihre Schritte hierher zu lenken, in Farfanyas Schicksal lag. Doch waren Farfanyas Schicksal und sein eigenes so eng verwoben…
Ta’iro seuftze. Wie könnte ein Mensch je das unüberschaubare Fadennetz seines Herrn verstehen…
Sie erreichten das Ende der Wiese. Hier fiel das Gelände etwa anderthalb Schritt ab. An die Böschung schloss sich zur Selke hin ein mit alten Weiden bestandener Streifen Wiesenfläche an, der wohl zu Regenzeiten überschwemmt wäre. Doch jetzt im Hochsommer begnügte sich die Selke mit ihrem schmalen Flussbett. Aber der Boden dort unten war stellenweise sehr weich, so dass Ta’iro der Baronsgemahlin vorschlug: “Lasst mich vorgehen, Eure Hochgeboren, damit ich sehen kann, ob der Untergrund für Euer Pferd fest genug ist. Mein Sohn steckte flussaufwärts vor einigen Tagen plötzlich bis zum Knie im Schlamm.” Er lächelte. “Nicht dass es Eurem edlen Ross ähnlich geht und wir uns noch eines weiteren Knöchels annehmen müssen.”
Die Domna erwiderte nichts, erhob jedoch auch keinen Einspruch und ließ ihn vorgehen.
Während er vorausging, stets auf gute Passierbarkeit für die reitende Dame achtend, ließ Ta’iro seinen Blick über die gegenüberliegende Uferseite wandern. Auch dort folgte dem Ufer ein flacher Streifen mit alten Weiden. Dahinter schlossen sich jedoch gleich die Hänge der Berge an, die auf dieser Seite das Tal begrenzten.
Ta’iro suchte nach verräterischen Zeichen, von wo sie beobachtet wurden, denn dass die Capitana sie beobachten ließ, war sicher. Vielleicht war sie inzwischen sogar selbst hier, denn sie erwartete seine Antworten mit Sicherheit angespannt. Und ganz Amazetti, war Geduld nie ihre Stärke gewesen. Doch konnte er niemanden entdecken.
Als sie eine Stelle erreichten, an der eine umgestürzte Weide ihre drei Stämme über das Wasser bis zum anderen Ufer streckte, wandte er sich wieder zur Baronsgemahlin. Von hier aus ließen sich weite Teile des Hanges einsehen. Und so würden sie zwar vielleicht nicht unbeobachtet, aber doch zumindest unbelauscht bleiben.
“Diese Stelle scheint mir geeignet, Hochgeboren.” Er blickte zum Ufer, dann zu ihr zurück.
Sie wies mit dem Kopf zu einem größeren flachen Felsen am Ufer. "Ich werde mich dorthin setzen." Sprach's und trieb ihr Pferd auf den Felsen zu. Dann ließ sie sich aus dem Sattel gleiten, humpelte über den Felsen, ließ sich darauf nieder, zog den Stiefel und den Strumpf aus und hielt den rechten Fuß ins Wasser des Flusses.
Ta’iro blickte ihr kurz nach. Dann zog auch er sich die Stiefel aus und balancierte, nachdem er sich die Hosen aufgekrempelt hatte, behände über den Weidenstamm. In der Mitte setzte er sich nieder und ließ die Beine ins Wasser baumeln.
Nach einigen Augenblicken sah sie sich um, ehe ihr Blick zu Ta'iro ging. "Ich hoffe sehr für Euch, dass das kein ausgeklügeltes Spiel war. Also, was soll das jetzt? Was wollt Ihr?"
"Ich?" Ta’iro betrachtete sie einen Moment nachdenklich. “Ich, Hochgeboren, möchte Euch fürs Erste unversehrt sehen. Aber ich fürchte, meine Wünsche sind hier nicht von Belang.” Er lächelte. “Wird es besser?”
Sie betrachtete ihn eingehend, mit leicht zusammengekniffenen Augen. "Findet Ihr das nicht eigenartig? Ein Holzpflock im Boden, mitten auf einem Kampfplatz, der nicht so aussieht, als steckte er schon Jahre in der Erde, keine Spur der Verwitterung. Ein Übungskampf mit stumpfer Waffe, bei der der Hausherr zufällig an der richtigen Stelle stürzt und der Kampf genauso lange dauert, bis eine der besten Reiterinnen des anstehenden Rennens sich verletzt. Sofort bietet Ihr an, mich zu tragen, und seltsamerweise sind plötzlich alle verschwunden, nachdem Ihr mich zum Fluss begleitet habt. Also: Was wollt Ihr wirklich? Oder handelt Ihr nur im Auftrag Seiner Wohlgeboren?"
“Ihr scheint mir großen Einfluss zuzutrauen, Eure Hochgeboren, wenn ich es schaffe, nicht nur Dom Algerio, sondern auch gleich noch Euren Onkel so in meine Pläne einzubinden, dass sie sich beide meinen Wünschen fügen und uns hier allein lassen!” Der Zahori ließ sich von der Weide ins Wasser hinab und watete zum Uferrand. Zwei Schritte von Domna Richeza entfernt setzte er sich ihr zugewandt auf den Uferrand.
“Hochgeboren, Dom Algerio lädt jeden seiner Gäste zu seinen Übungen. Jeden, der eine Waffe führen kann. Er ist immer versucht sich gegen neue Gegner zu probieren, um daraus zu lernen. Und er verwendet stets stumpfe Waffen. Dass der Kampf bis zu Eurer Verletzung dauerte…”, Ta’iro zuckte mit den Schultern. “Für einen Übungskampf war er nicht ungewöhnlich lang. Auch wenn ein weniger ehrgeiziger Fechter ihn vielleicht bereits nach Eurem harten Treffer abgebrochen hätte.”
Sein Blick ging zu ihrem Fuß. “Und einer Verletzten Hilfe anzubieten, und sie, falls nötig, dafür auch zu stützen oder zu tragen, ist für mich selbstverständlich. Der Fluss war die nahe gelegenenste Möglichkeit Euren Fuß zu kühlen. Doch ich muss gestehen, ich bin verwundert, dass Ihr nicht stattdessen lieber zur Hacienda geritten seid, um ihn dort zu kühlen, nachdem Euch Euer Onkel das Pferd gebracht hatte. Ich nehme an, dass Ihr hier herausfinden wolltet, was das Ziel dieses vermeintlich ausgeklügelten Spieles ist?”
“Aber auch wenn ich diese Euch verwundernden Punkte keineswegs so überraschend finde wie Ihr, habt ihr mit einem Recht, Hochgeboren, die Sache mit dem Pflock ist eigenartig! Sogar mehr als das, denn der Pflock im Boden war… mein eigener.” Ta’iro blickte Richeza fest in die Augen. “Doch schwöre ich Euch beim Leben meiner Kinder, Domna, dass ich nicht weiß, wie er dorthin gekommen ist! Ihr mögt Dom Algerio verdächtigen, aber ich glaube nicht, dass er geschickt genug wäre. Als er stürzte, hielt er immerhin in beiden Händen eine Waffe. Als ich meine Säbel aufhob, hätte ich es vielleicht tun können. Doch weiß ich mit Sicherheit, dass ich es nicht war.”
Für einen Augenblick betrachtete Ta’iro nachdenklich die Weide, dann blickte er zu ihr zurück. “Was ich bis zu diesem Morgen von Euch wollte, waren Antworten auf Fragen, die mein Leben mit bestimmt haben. Vielleicht könnt Ihr sie mir geben, vielleicht nicht. Doch werde ich Euch diese Fragen erst stellen, wenn Ihr mich nicht mehr anseht, als könne mein einziger Beweggrund, für alles was ich tue, sein, Euch Übles zu wollen.” Der Blick des Zahori ging zurück zur Weide. “Also vielleicht nie…”
Einen Moment schwieg Ta’iro. “Auch wenn Ihr mir das nicht glauben werdet und ich nicht weiß, wie ich Euch überzeugen könnte: Nichts des Geschehenen ist Teil unseres Planes, Hochgeboren.” Er zögerte kurz. War es dieses Gespräch, das der Weltenwanderer gewollt hatte? Sollte er ihr offenbaren, dass ihr eine Rolle in seinem Plan zukommen würde?
“Ihr glaubt nicht an Zufall und ich ebensowenig. Doch wo Ihr eine mögliche Verschwörung seht, die Euch am Gewinn der Rennen hindern soll, da sehe ich das Wirken des Schicksalswebers. Und ich denke, dass die Rolle, die er Euch zugedacht hat, über die hinausgeht, die Ihr bisher für Euch seht.”
Richeza, die ihn schweigend und mit leicht zusammengekniffenen Augen gemustert hatte, hob eine Augenbraue. "Ach, wirklich? Was ist denn Eurer Meinung nach meine Rolle in welchem Possenstück auch immer?" Ihre Stimme klang ungehalten und ein wenig spöttisch, aber er hatte den Eindruck, dass sie sich mehr über ihre Verletzung ärgerte als über ihn. "Und wie könnte ich Euch Antwort geben auf die Fragen Eures Lebens?" Ein wenig Misstrauen klang nun in ihren Worten an.
“Die Fäden sidi Aveshas verbinden uns alle miteinander, Hochgeboren. Wie es ihm gefiel, unser beider Fäden zu verbinden, wird die Zukunft zeigen. Doch macht ihr bisheriger Verlauf Euch zum womöglich einzigen Menschen, der mir zumindest auf einige meiner wichtigsten Fragen antworten kann. Falls überhaupt.” Ta’iros Blick wanderte über ihr Gesicht. “Aber heute würdet Ihr es nicht, denn noch glaubt Ihr nicht an meine Aufrichtigkeit.” Er lächelte. “Vielleicht eines Tages.”
"Das überlasst nur meiner Entscheidung!", erklärte die Domna, weiterhin ungehalten.
“Was Eure Rolle im Plan des Meisters des Schicksals angeht…”, er blickte ernst zu ihr, “...und ich denke keinem Sterblichen steht es zu, das Wirken des Weltenwebers als Possenstück anzusehen…ich weiß es nicht. Und auch wenn ich es durch Aveshas Gaben vielleicht ergründen könnte… ich will es nicht wissen, bevor es geschieht. Denn vom Wissen um die Zukunft kann großer Kummer ausgehen und ich trage bereits einen solchen Schatten auf dem Herzen.” Er seufzte, “doch que sera, sera.”
Eine Weile blickte Ta’iro schweigend auf das Wasser, bevor er mit seinem Blick wieder zu Domna Richeza zurückkehrte. “Ich weiß, dass Ihr es am liebsten sofort ablehnen würdet, doch darf ich mir Eure Verletzung ansehen? Vielleicht kann ich sie heilen und Ihr so die Rolle ausfüllen, die Ihr meint, als Eure erkannt zu haben.” Er lächelte. “Oder die, die es wirklich ist. Und bevor Ihr unterstellt, dass ich dies mit Hintergedanken anbiete: Ich erwarte keine Dankbarkeit, denn das, was Euch zu Schaden kommen ließ, entstammte meiner Hand und was Euch heilen würde, entstammt einzig dem Wohlwollen meines Herrn. Ihr wäret mir also nichts schuldig. Und sollte mich jemand fragen… das kühlende Nass der Selke hat vollauf gereicht.”
Erneut runzelte Richeza die Stirn. "Ihr redet sehr viel an der Frage vorbei", stellte sie fest. "Was Ihr fragen wollt, unterstellt Ihr mir, ohnehin nicht beantworten zu wollen, und was mein Schicksal wäre, über das Ihr Ahnungen zu haben andeutetet, wollt Ihr mir nicht sagen."
“Was Euer Schicksal ist, kann ich Euch nicht sagen, denn ich weiß es nicht. Und die Dinge, die ich weiß und die mich vermuten lassen, dass es einen wichtigeren Grund für Eure Anwesenheit hier gibt, als die Rennen, die kann ich Euch nicht sagen, denn mich bindet ein Eid. Ihr mögt weiter auf Antworten bestehen, doch werde ich meine Seele und damit auch meine Weihe nicht gefährden, für etwas das ohnehin geschehen wird.“
Das Gesicht der Domna verfinsterte sich noch weiter. “Euch bindet ein Eid, mir den vermeintlichen Grund für meine Anwesenheit zu verschweigen? Was soll das nun wieder bedeuten?”
“Avesha hat mir in seiner… Gnade einen winzig kleinen Teil seines Fadenwerks entwirrt. Doch hat er mir gleichzeitig in seiner Weitsicht, durch einen heiligen Schwur, den ich vorab leistete, auferlegt, über diesen Schicksalsteil Stillschweigen zu wahren.”
Und auch wenn es der Wille Aveshas gewesen sein mochte, Ta’iro verfluchte sich ein weiteres Mal, sich Contessinas Forderung nach seinem Schweigen gebeugt zu haben.
“Doch habe ich in diesem Fadenwerk nichts von Eurem Schicksal gesehen. Bislang könntet Ihr also Recht haben und Eure Rolle beschränkt sich nur auf die Teilnahme. Vielleicht gibt es auch darüber hinaus wichtige Gründe, die jedoch nicht unmittelbar mit dem Teil des vor mir entwirrten Fadenwerkes zusammenhägen, sondern Teil ganz anderer Schicksalsmuster werden. Ich weiß nicht, weshalb Ihr hier seid! Ich verschweige Euch also nicht den Grund, ich mutmaße oder hoffe nur nicht!”
Es war dem Gesicht der Domna nur zu deutlich anzusehen, dass sie mit seinen wenig erhellenden Worten nichts anzufangen wusste.
“Und ich hätte Euch gegenüber auch nicht erwähnt, dass ich mehr in Eurem Hiersein vermute, wenn Ihr Dom Algerio und mir nicht unterstellt hättet, mit Euch heute Morgen, aus welchen Gründen auch immer, ein falsches Spiel getrieben zu haben.”
"Warum erwähntet Ihr es überhaupt, wenn Ihr doch keine Worte darüber verlieren wollt? Was soll mir das dann anderes sein als Geschwätz?", fragte Domna Richeza, sichtlich missgestimmt.
"Zu dem Geschwätz, Domna, habt Ihr mich gebracht, als Ihr es nicht auf dem beruhen lassen wolltet, was ich Euch frei zu sagen vermag. Aber auch wenn Euch meine Vermutung, es könnte ein größerer Sinn hinter alldem stecken, anfänglich ebenso abwegig schien, wie mir Eure Unterstellung, fragtet Ihr weiter. Ich hingegen wollte Euch von Anfang an mit Taten beweisen, dass meine Absicht redlich ist.” Er deutete auf ihren Fuß.
Das Misstrauen wich nur langsam aus Richezas Gesicht. "Also gut", meinte sie dann zögernd. "Wenn Ihr meint, dass das hilft …"
Ta’iro nickte. “Das wird es …, wenn es in Aveshas Plan passt. Und der Schaden nicht zu groß ist.” Er stand auf, trat zu ihr und kniete sich vor sie. “Ich werde Euch anfassen müssen.” Sein Blick ging zu ihrer Waffe und er grinste. “Überlebe ich das?”
Richeza hob eine Augenbraue, dann kräuselte sie die Lippen zu einem leichten Lächeln. “Ich weiß, nicht, was Ihr über mich gehört habt, aber nicht alle Gerüchte entsprechen der Wahrheit.”
“Das beruhigt mich sehr! … Obwohl”, Ta’iro ließ den Blick über die knorrigen Bäume und die grünen Ufer schweifen, “an diesem malerischen Ort zu sterben, beim Versuch, eine holde Maid von ihrer Pein zu befreien …, vielleicht wäre das gar kein so schlechtes Ende!” Er lächelte schelmisch, dann richtete er seinen Blick auf Richezas verletzten Fuß.
"Holde Maid, ph!" Richeza schüttelte den Kopf.
“Ich werde Euren Fuß erst abtasten und etwas bewegen, damit ich weiß, ob ich es überhaupt zu versuchen brauche. Ist die Verletzung zu schlimm, dann kann ich Euch nicht helfen. Dann bräuchte es schon eine Dienerin der Ewigjungen.” Der Zahori hielt ihr seine offenen Hände entgegen.
Richeza nickte und zog ihren Fuß aus dem Wasser. Um den Knöchel herum war er, trotz der Kühlung, ein wenig dick und leicht blau angelaufen.
Ta’iro betrachtete ihn kurz von allen Seiten, konnte jedoch keine offene Verletzung erkennen. So legte er seine Finger unter ihre Fußsohle und fuhr mit den Daumen behutsam die Knochen ihres Fußes nach. Doch auch hier spürte er hin bis zum Fußgelenk keine Unebenheiten, so dass er schließlich seine linke Hand unter ihren Fuß legte und mit der Rechten zunächst vorsichtig den Knöchel betastete. Mitleidig lächelte er sie an, als er begann, den Fuß zu bewegen und ihren Schmerz sah. “Verzeiht!”
“Es scheint keine größeren Brüche zu geben. Ich denke ich kann Euch helfen.” Ta’iro umfasste seine Silberflöte und flehte den Weltenweber still an, ihn nicht im Stich zu lassen. Dann legte er sanft seine warmen Hände um Richezas vom Wasser kühlen Knöchel. Er schloss die Augen und wechselte für sein Gebet ins Tulamidya: “O, sidi Avesha, Herrin Peraine und ihr anderen Herrscher Alverans, schenkt dieser Sterblichen von der Lebenskraft, für die die uranfängliche Sumu gestorben ist. Denn dieser Leib ist geschlagen mit Bitterkeit und Schmerzen und bedarf der Heilung in Eurem Namen.”
Während Ta’iro das Gebet sprach, spürte er, wie ihn die Kraft seines Herrn ihn durchströmte und sein Willen durch seine Hände Gestalt annahm. Fast vermeinte er, ihren Schicksalsfaden in seinen Fingern zu fühlen und so hielt er ihre Fessel einige Herzschläge länger umfasst, in denen er dem flüchtigen Gefühl nachspürte. Dann öffnete er die Augen, und als er Richezas Knöchel aus seinem Griff entließ, waren Schwellung und Färbung vergangen.
Richeza betrachtete den Fuß und bewegte ihn leicht hin und her. "Hm. Es scheint besser zu sein. Nun ja. Danke." Sie sah ihn an "Bitterkeit und Schmerzen, hm?"
“Ihr sprecht also Tulamidya.” Ta’iro lächelte. “Missfielen Euch meine Worte? Sie haben Euch immerhin Linderung verschafft.”
Richeza betrachtete den Zahori. "Nun, danke dafür", wiederholte sie, ohne auf seine Frage einzugehen.
“Jederzeit gern, Hochgeboren. Ich selbst hätte die Worte möglicherweise anders gewählt, doch sind sie uns vorgegeben. Bei unseren Gebeten an Avesha sind wir freier, so wie es dem Wesen unseres Herrn entspricht. Doch wenn wir auch die Gnade der anderen erbitten…” Ta’iro zuckte mit den Schultern und blickte zum klaren Himmel hinauf. Zwischen den Bäumen entdeckte er wieder die beiden Greifvögel, die ihre Bahnen zogen. Was immer das bedeuten mochte. Der Zahori lächelte. Es gab wohl keinen zweiten Geweihten des ewigen Wanderers, der so schlecht darin war, seine Zeichen zu deuten. Aber es war ein Zeichen, das konnte er deutlich spüren. Einen Moment beobachtete er sie, dann blickte er wieder zu Richeza. Kurz zögerte er, betrachtete ihr wunderschönes Antlitz. Dann stellte er die Frage, die ihn seit Jahren beschäftigt hatte: “Glaubt Ihr, Eure Großmutter war glücklich mit dem Leben, das sie gewählt hat?”
“Was?”, fragte Richeza entgeistert. “Wer? Meine Großmutter?” Das Misstrauen und ein gewisser Unwillen kehrten auf ihre Gesicht zurück, als sie den Zahori musterte. “Aus welcher Sippe stammt Ihr?”
Auch aus Ta’iros Gesicht verschwand bei ihrer Frage das Lächeln. “Früher einmal Zhulhamor. Aber das ist lange Zeit her.”
“Seid Ihr ein Ausgestoßener?”, fragte Richeza. “Einer Sippe gehört man ein Leben lang an!”
“Danke, Hochgeboren, dass Ihr mir die Lebensweise meines Volkes erklärt!” Zum ersten Mal klang auch in Ta’iros Stimme Hohn mit. Einen Augenblick verharrten seine schwarzen Augen auf dem Gesicht der schönen Domna, die ihm mit einem Wort mehr Schmerz zugefügt hatte, als sie es mit ihrer Waffe je vermocht hätte. Dann wandte er den Blick ab.
“Ausgestoßen.” In all den Jahren hatte er es nie ausgesprochen. Aber nun, dass er es tat, klang es so traurig, wie es sich anfühlte. “Ich wäre es vielleicht, wäre ich geblieben oder später je zu ihnen zurückgekehrt. Doch wieso zu denen zurückkehren, die dich bereits verraten haben?”
Ta’iro drehte gedankenverloren einen der bronzenen Armreifen um seinem Handgelenk.
“Avesha lenkte meine Schritte anders. Und so bin ich Geweihter, bin Mhanah einer eigenen Sippe … ein Leben endet, ein anderes beginnt.” Er lächelte sie traurig an, und blickte dann wieder auf seine Hände. “Que sera…”
Richeza betrachtete den Zahori. In ihrem Gesicht arbeitete es. "Ob meine Großmutter glücklich war?", fragte sie und fügte nach einem Zögern hinzu: "Ich kann mich nur vage an ihr Glück erinnern. Der Tod meines Vaters brach ihr das Herz. Es gab viele düstere Stunden in ihrem Leben. Und als meine Tante starb …, wollte sie nicht mehr leben. Das sagt wohl schon einiges, oder? Aber ob es das war, was sie selbst wählte oder ihr Schicksal …" Die Domna zuckte mit den Schultern.
Ta’iro blickte sie erstaunt an. “Ihr … Ihr antwortet mir wirklich!” Sichtlich dankbar ergriff er unbedacht ihre Hand und drückte sie kurz. “Danke!” Fast ein wenig erschrocken wirkend, zog er die Hand zurück. “Verzeiht meine Übermütigkeit!” Für einen Augenblick schaute er zu Boden, dann blickte er zu Richeza zurück und lächelte mit einem begeisterten Funkeln in seinen Augen. “Richeza Caldivan! ... Ohne Euch damit beleidigen zu wollen, Eure Großmutter war wohl die interessanteste mir bekannte Frau … Neben meiner Urahnin Zhulhamin Bheramisuni natürlich! Ich habe in meinem Leben viel über sie nachgedacht …, wie es für sie gewesen sein muss, die Grenze zwischen Eurer und unserer Welt zu überqueren. Ob sie je zurück wollte. Was Ihr erzähltet, klingt schrecklich! Ich hätte ihr anderes gewünscht! Doch ihre Kinder zu verlieren und mit ihnen ihren Lebenswillen …, das ist ein Schicksal, das sie auch in ihrer Sippe hätte treffen können. Habt Ihr ihre Sippe kennengelernt? Haben sie sie, nachdem sie sich für Euren Großvater entscheiden hatte, noch als Teil von ihnen angesehen?”
Richeza musterte den Zahori, weiterhin mit einer Mischung aus Belustigung und Skepsis. Sie zuckte mit den Schultern. "Das weiß ich nicht. Ich hatte mit ihnen nichts zu tun. Sie hat nicht darüber gesprochen." Kurz sah es so aus, als wollte sie noch etwas hinzufügen, doch stattdessen schloss sie den Mund, strich den Fuß an ihrem Hosenbein trocken und zog sich Strumpf und Stiefel an.
Ta’iro beobachtete ihr Tun. “Wart Ihr nie versucht sie kennenzulernen? Hätte ich je herausgefunden, welchen Namen meine Mutter einst trug… ich glaube ich hätte es versucht.”
"Ich habe nicht einmal meine Mutter kennengelernt", stellte Richeza fest. Sie hatte ihren Stiefel angezogen und stand auf. "Außerdem sind es Zahoris. Man kann ihnen nicht trauen, und sie haben keine Ehre." Sie sah zu ihm herab. "Jedenfalls - den meisten nicht." Sie verzog den Mund mit geschürzten Lippen. Dann hielt sie ihm die Hand hin.
Ta’iro ergriff Richezas Hand und stand auf. Vor ihr stehend, blickte er auf sie, die sie einen Kopf kleiner war, hinab. “Domna, trauen wir Euch, könnt Ihr uns trauen! Und das, wie sonst niemandem! Und Ehre?” Der Zahori lächelte spöttisch. “Die gibt es. Unter uns. Doch wieso sollten wir uns gegenüber denen, die uns jegliche Rechte absprechen, um das Gedanken machen, was sie Ehre nennen? Wo wir sie ja ihnen gegenüber nicht einmal verteidigen dürften. Glaubt mir, wenn Ihr am Ende des Tages von der harten Arbeit auf den Feldern eines reichen Gutsherrn zurückkehrt, in den Taschen ein paar Kreuzer und dann Eure kleinen Schwestern weinend findet, weil dieser edle Mann, voll der von Euch so hoch gewerteten Ehre, beschlossen hat, dass er Eure Pferde haben will … und Ihr dankbar sein könnt, dass er Euren Schwestern nicht noch ganz anderes genommen hat … dann wisst Ihr, dass Ehre, die man jemanden zugesteht, weil er als das geboren wurde, was er ist, nichts bedeutet!”
Die Domna starrte den Zahori an, und in ihrem Blick lag eine kalte Wut, beinahe schon ein Hass, der ihren Mund und ihre Stirn, wenn auch nur leicht, verzerrte und doch spürbar von ihr abstrahlte. “Wir sollten zurückgehen”, sagte sie, wandte sich ihrem Ross zu und zog sich in den Sattel.
Als Ta’iro ihre plötzliche Reaktion sah, spannten sich unwillkürlich seine Muskeln, bereit auszuweichen. Und erst als sie sich wegdrehte, entspannte er sich wieder. Galt ihre Wut ihm? Hatte er sie mit seinen Worten beleidigt? Doch dann hätte sie sicherlich zur Waffe gegriffen oder zumindest ihre Hand gegen ihn erhoben. Und sollte sie ihn selbst dafür als nicht würdig genug erachten, dann hätte sie ihn wohl einfach stehen lassen.
Schnell zog sich der Zahori die Stiefel an, während sie auf ihr Pferd stieg.
‘Wir sollten zurückgehen.’ Solange es ein Wir gab, lag ihre Wut wohl nicht daran, dass er ihre abschätzigen Worte nicht einfach hingenommen hatte und sie seine Sicht als Beleidigung empfand. Ta’iro betrachtete sie aus den Augenwinkeln.
Das Gebet war anscheinend doch passend gewesen. Bitterkeit und Schmerz. Ohne sie gäbe es diese Wut nicht. Er selbst hatte sie früher oft gespürt und oft genug hatte sie ihn fast bis an den Strick gebracht. Hatte eine von ihr geliebte Person die von ihm angedeuteten Dinge erleben müssen, die so vielen seines Volkes nicht erspart geblieben waren? Oder gar sie selbst? War es das, was dazu geführt hatte, dass für sie Misstrauen, Reizbarkeit und Spott näher zu liegen schienen, als ein Lächeln?
Er trat an sie heran. “So Ihr je ein offenes Ohr wünscht, dazu verschwiegene Lippen und eine scharfe Klinge, die Ihr nicht selbst zu führen braucht, werde ich für Euch da sein, Domna!” Ohne eine Reaktion abzuwarten ging er voraus und suchte einen geeigneten Weg zur Wiese.
Auf der Wiese angekommen, wartete Ta’iro bis Richeza auf ihrem Ross die Böschung erklommen hatte, dann fiel er neben ihr in Schritt. So viele Fragen hatte er noch zu ihrer Ahnin. Auch die würde sie zumeist wohl nicht beantworten können. Doch scheute er sich nun, sie zu stellen, denn auch wenn keine der Fragen zu ihrer Großmutter sie so außer Fassung gebracht hatte, wie es seine letzten Worte gänzlich gegen seinen Willen vermocht hatten, war jede Antwort bisher eine von Verlust bestimmte. Doch welches Thema würde sie den Schmerz, den er in ihr wachgerufen hatte, vergessen lassen?
“Wollt Ihr meinen neuen Lamento sehen?”
"Was?" Er schien die Domna aus ihren Gedanken zu holen. Sie starrte ihn - noch immer düster - an. "Ihr wollt für mich tanzen?" Sie kniff ein wenig die Augen zusammen. Die wortlose Musterung dauerte an. "Ich warne Euch, ich weiß um die Künste eines Hazaqi!" Weitere Herzschläge des Schweigens. "Warum?", fragte sie dann.
Ta’iro lachte. “Warum? Wahrscheinlich prahle ich einfach gerne. Und es gefällt mir, wenn Ihr mich nicht nur mit Argwohn, sondern immerhin mit argwöhnischem Interesse betrachtet. Außerdem glaube ich, dass Euch der Tanz gefallen könnte! Und seid unbesorgt, ich werde Euch nur den Anfang zeigen, so dass er noch keine Wirkung entfaltet. Wenn Ihr darauf besteht, dann lasse ich jegliche Magie, doch dann fehlt die Musik und er ist nur halb so beeindruckend.”
Richeza betrachtete den Zahori weiterhin, aber das Misstrauen in ihrem Blick wich tatsächlich einer gewissen, verhaltenen Belustigung. "Also gut. Wenn Ihr darauf besteht."
Ta’iro lächelte. Das Thema war anscheinend gut gewählt gewesen. “Ich weiß nicht, ob es mir gut bekäme, Euch gegenüber auf etwas zu bestehen, Hochgeboren … aber ja, es würde mich sehr freuen! Doch momentan bin ich zu übermüdet, um der Herausforderung, die der Tanz noch für mich ist, gewachsen zu sein. Und durch Eure Heilung auch zu unruhig. Aber in den nächsten Tagen wird es sicherlich noch eine passende Gelegenheit geben.”
Der Zahori blickte zum Dorf, das sie fast erreicht hatten, dann zum Wald hinter dem Fluss. So gern er die schöne Domna weiter begleiten wollte, der Ruf seines Herrn, den er seit ihrer Heilung noch lauter hörte, zog ihn fort in eine andere Richtung. Er würde die Capitana aufsuchen und ihr berichten. Und dann weitergehen ins Unbekannte.
“Wenn Ihr mich entschuldigt, Hochgeboren, dann werde ich Euch nun den Rest des Weges allein gehen lassen. Doch erlaubt mir noch eine letzte Frage: Welcher Lamento gefällt Euch am besten?”
"Die Wahl des Tanzes sagt viel über den Tänzer aus. Also wählt gut!" Damit ließ Richeza ihr Pferd antraben.
Damit hatte sie wohl recht. Lächelnd rief er ihr hinterher: “Und was fürchtet Ihr, würde Eure Wahl mir über Euch verraten, schönste Domna, dass Ihr mir die Antwort schuldig bleibt?”
Eine Weile blickte er ihr noch immer lächelnd hinterher, dann drehte er sich um und ging die Ode an die Sonne vor sich hin summend los, Aveshas Willen folgend.
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