Chronik.Ereignis1036 Besuch im Vanyadâl 35
Kaiserlich Selaque, 12. Tsa 1036 BF
Auf der Straße zwischen Selaque und Schrotenstein, vormittags
Autor: Lindholz
Wieder einmal geriet die Kolonne ins Stocken. Mit einem Seufzen schlang Amaros den Mantel enger um sich und lenkte Azucar neben den vordersten Wagen. Erfreulicherweise hatte er sein Ross in den Stallungen der Reichsvögtin aufgefunden und wieder in Besitz genommen. Mit dem edlen Tier hätte er schon längst Schrotenstein erreichen können, doch es widerstrebte ihm, in diesen Landen wieder alleine zu reisen. Die Wagen, begleitet von acht Männern und Frauen im Dienste der Praioskirche, würde kein götterfürchtiger Mittelreicher angreifen - dessen war er sich gewiss. Und so fühlte auch er sich wesentlich geschützter. Dieser Schutz mochte ihn Tage kosten, aber nicht sein Leben. Ein Blick nach hinten verriet dem jungen Zauberer, wie sehr sich die edlen Tempelritter damit abquälten, einen der schwer mit den Gütern der da Vanyas beladenen Wagen aus einem Schlammloch zu befreien, in das die linke Seite abgedriftet war. Der vorderste der Wagen bereitete dem kleinen Trupp deutlich weniger Probleme - trotz des nicht unerheblichen Gewichts seines unfreiwilligen Passagiers.
"Noch etwas Geduld, Euer Hochgeboren, ich bin sicher, auf die Mannen seiner Eminenz wird auch in diesem Fall verlass sein und ihr werdet Ragath sicher erreichen", erklärte Amaros von Lindholz als das feiste Gesicht der Reichsvögtin sichtbar wurde, "Ich hoffe, Ihr seid der beschwerlichen Reise und meiner Anwesenheit noch nicht überdrüssig."
"Spart Euch Eure höhnischen Worte. Der Fürst der Götter wird eines Tages über Euer verdorbenes Blut richten und im Angesicht seiner Wahrheit wird Eure verräterische Zunge verdorren wie ein Blatt im Herbst." Praiosmin von Elenta hatte ihren Hochmut schnell wieder gefunden, nachdem sie dem gestrengen Blick des Großinquisitors entkommen war.
"Wie Ihr meint, Euer Hochgeboren", gab Amaros zurück, "Doch ich frage mich, ob Ihr ein milderes Urteil zu erwarten habt; in dieser Welt wie in der nächsten."
Die blitzenden Schweinsäuglein verschwanden wieder hinter den dicken Vorhängen des Gefährts und dem jungen Adligen blieb nichts als schweigend abzuwarten, wenn er nicht mit einem Faltenwurf zu reden gedachte.
Autor: SteveT
"Pssst! Colonello! Ich glaube, sie kommen!"
Boronello von Kupfertann, der Hofjunker der zur Zeit Wachdienst hatte, winkte Filippo di Lacara zu, er möge zu seinem verdeckten Aussichtspunkt kommen, von dem aus man mehrere Meilen des Briesacher Höhenweges einsehen konnte - einer gewundenen Passstraße zwischen dem gleichnamigen Ort am Schwarzen See in Schrotenstein und dem Kaisergut Selaque, die die meiste Zeit über den Kamm der Hügelkuppen der Ausläufer des Raschtulswalls führte.
Der ehemalige Commandante des kaiserlichen Banners der Hofjunker, der dieses auch heute noch - oder vielmehr gerade jetzt - befehligte, da es offiziell unehrenhaft aufgelöst worden war und viele seiner ehemaligen Mitglieder nunmehr in kaiserlicher Ungnade standen, lief gebückt zu seinem Gefolgsmann hinüber und spähte mit ihm durch die Zweige des Dickichts, das sie komplett verbarg. Tatsächlich näherte sich aus der Richtung in die Boronello zeigte eine kleine Kolonne aus vier Reisewagen, jeder davon von zwei Rössern gezogen. Zwei Personen ritten dem Wagenzug voraus, eine weitere Person - diese mit einer bannerbewehrten Lanze bewaffnet - folgte ihm hintendrein.
"Juanito!", winkte Filippo di Lacara auch seinen Vetter zu sich, damit er die Wagenkolonne ebenfalls in Augenschein nehmen konnte. "Wie dein Cumpan prophezeit hat ... es scheinen nur wenige Wachen zu sein", grinste Filippo vorfreudig.
"Hm, ich glaube auf jedem Kutschbock hockt neben dem Kutscher ein Goldfass in Eisen", bremste Juanito ein wenig seine Vorfreude.
"Und ist der eine der Reiter, der vorneweg reitet, nicht möglicherweise ein Magus? Sein Stecken sieht so merkwürdig aus", argwöhnte Boronello.
"Ein Magus bei einem Wagenzug der Heiligen Suprema ... wo hat man sowas schon gehört?", lachte ihn Azzato von San Owilmar aus, der ebenfalls dazugekommen war.
"Vieles ist sehr seltsam dieser Tage!", entgegnete Boronello ernst.
"Wir werden sie uns direkt unter uns greifen!", entschied Colonello Filippo und deutete mit einem Kopfnicken auf das Wegstück, das unter ihnen lag. Azzato musste zugeben, dass die Stelle für einen Hinterhalt perfekt gewählt war. Auch wenn die Hofjunker früher bei den gemeinen Gardisten den Ruf eines "Gecken-Regiments" genossen hatten, das vor allem Repräsentationszwecken diente und in das man nur mit äußerst blauem Blut aufgenommen werden konnte, schienen doch so einige mit militärischer Bildung darunter zu sein. Sie konnten versteckt aus einem Tannenwäldchen, zwanzig Schritt über der Straße, hangabwärts angreifen, während es direkt hinter beziehungsweise jenseits der Straße vierzig Schritt steil bergab ging. Keiner der Wagen konnte also auf der Flucht die Straße verlassen.
"Bereitet unsere hübschen Schneebretter vor, die wir wie einen Firunschlag in sie hinein donnern lassen werden!", befahl Filippo seinen Leuten.
"Was? Seid Ihr verrückt?", fragte Azzato entsetzt, dem dieser Teil des Plans ganz neu war. "Schneebretter könnten die Wagen den Abhang hinunter reißen! Denkt daran, dass ich meine Herrin befreien will - ich will nicht ihre Überreste drunten im Tal aufsammeln."
"Genau das ist aber mein Plan!", grinste der Colonello. "Die Wachen stürzen ja mit ab! Mich interessieren nur die Schätze auf den Wagen. Deine Herrin wollte uns fangen und hängen lassen! Wenn sie den Wagensturz und Überschlag überlebt, dann bringe sie besser schnell in Sicherheit, ehe sie meinen Leuten und mir in die Hände fällt! Die Schätze interessieren uns mehr - aber wenn ich die bosquirische Jungfer in die Finger kriege, dann ergeht es ihr schlecht, Compadre!"
Azzato blickte entsetzt zu Juanito, aber der zuckte nur mit den Achseln und nickte dabei zu den Worten seines Vetters: "Wir haben alle einen Eid geschworen. Einjeder für das Banner - das Banner für einjeden. Du weißt ..."
Einen kurzen Moment dachte Azzato daran, die Sache auffliegen zu lassen und zum Beispiel Lärm zu machen, ehe die Wagen heran waren. Aber letztendlich waren die Wachen der Suprema, die seine Herrin zu ihrem sicher verhängnisvollen Prozess eskortierten, noch mehr seine Feinde als diese Gesetzlosen und Vogelfreien. Vielleicht ging die Sache ja gut aus, sollten sie sich die Schätze der verfluchten Da Vanyas holen. Er selbst würde von Domna Praiosmin für ihre Befreiung reich belohnt werden, wenn man erst wieder diese Pfaffen aus Albacim hinaus gejagt hatte.
Azzato zog sein Rapier und ging neben Juanito in Position. Auch alle anderen der verfehmten Hofjunker verteilten sich an die Stellen im Wald, die ihnen der Colonello zugewiesen hatte. Aus viel Schnee, Steinen und Schlamm hatten sie tatsächlich mannshohe Kugeln geformt, die wohl Firunschlägen gleich, den Hang hinunter gerollt werden sollten. Dom Filippo hob seine behandschuhte Linke als Zeichen, noch zu warten, bis die Wagen wirklich fast direkt unter ihnen waren. Azzato hoffte, irgendetwas von Domna Praiosmin zu erblicken, um wenigstens zu wissen, welchem der schweren Planwagen er sich zuwenden sollte. Er sah nichts von ihr, wohl aber jemand anderes, den er beim Näherkommen erkannte - der eine Bursche, der dem Zug vorausritt, war das nicht tatsächlich jener naseweise Magus aus dem Yaquirtal, den seine Herrin wohlweislich eingekerkert hatte? Wieso aber sollte ausgerechnet die Inquisition einen Zauberer befreit haben?
Ehe er den Gedanken zu Ende führen konnte, senkte der Colonello ruckartig seine Hand und die ersten beiden Schneebretter krachten hangabwärts, den Kutschen entgegen.
Autor: Lindholz
Der Hang war unter der Schneeschicht, die ihn bedeckte, bewachsen, doch das Strauchwerk konnte das Gemisch aus Geröll und Schnee nicht aufhalten. Die schmalen Zweige und mickrigen Stämmchen gaben unter der herabrasenden Masse nach oder wurden gar mitgerissen und setzten so weitere Erde und Schnee frei. Als die ersten Warnrufe erschallten und Amaros von Lindholz den Kopf den Hang hinauf wandt, hatte sich der Einflussbereich der Schneebretter schon enorm verbreitert. Mit voller Wucht traf die Naturgewalt die ersten beiden Wagen der Kolonne und riss den hinteren der beiden, ohne an Fahrt zu verlieren, den Abhang hinab. Die Laute der in Panik geratenden Pferde klangen schrill und vermischten sich mit den Schreien der Menschen. Der Kutscher versuchte noch, mit einem beherzten Sprung zu entkommen, doch er konnte auf den in Bewegung befindlichen Boden keinerleich Halt finden und wurde ebenso von der Tiefe verschluckt. Auch um die Kutsche der Reichsvögtin war es kaum besser bestellt: Langsam aber stetig wurde das Gefährt zur Seite gedrückt und befand sich bereits in einer gefährlichen Schräglage. Die kräftigen Zugtiere stemmten sich gegen ihr Schicksal, mehr der Panik als der Peitsche des Fuhrmannes folgend, und brachten das Gespann schließlich in ein fragiles Gleichgewicht, das jedoch durch jede noch so kleine Bewegung des Untergrundes zerstört zu werden drohte.
Der Magier nahm sich aber nicht die Zeit, den Ausgang dieses Schicksalskampfes abzuwarten. Er trieb sein Pferd an, dem Einflussbereich der Schneemasse zu entkommen und hätten ihm nicht die Rufe der Kirchenkrieger und sein Instinkt schon darauf hingewiesen, so bestätigten ihm spätestens seine Augen, dass dieser Zwischenfall kein Werk der grimmigen Laune Firuns war: Dort oben bewegten sich Menschen - nein, keie Menschen - gottloses Gesindel! Was war nur mit den Bewohnern dieser Lande geschehen, das sie nur die Sprache der Faust zu sprechen schienen und darüber gar die Gebote der Zwölfe vergaßen? Amaros konnte später darüber philosophieren! 'Ich werde hier nicht sterben!', schwor er sich und hieb Azucar die Sporen in die Flanken. Mochten sie ihn feige nennen, doch lieber versuchte er, Hilfe zu finden, statt hier in falschem Heldenmut sein Leben zu lassen. Irgendwo in Schrotenstein musste es doch noch rechtgläubige Frauen und Männer geben!
Autor: SteveT
"Attencion!", rief der Hofjunker Girolamo von Valposruh, der die Lawine buchstäblich ins Rollen gebracht hatte. "Einer will Reißaus nehmen!" Er deutete auf den entfleuchenden Amaros von Lindholz.
Einer der Hofjunker nahm seinen Bogen vom Rücken, zog einen Pfeil aus dem Köcher und zielte auf den Fliehenden, aber Azzato von San Owilmar fiel ihm in den Arm. "Lasst ihn reiten! Umso besser für uns, denn ich erkenne den Kerl! Er ist ein Zauberer, den meine Herrin wegen Schwarzhexerei eingekerkert hatte. Warum man sie wie eine Gefangene in einen Wagen pfercht, der Zauberer aber frei einen Wagenzug der Suprema anführen darf, weiß nur der Ober-Pfaffe allein..."
"DRAUF!", brüllte Filippo di Lacara, der ihm gar nicht zugehört hatte, weil er seinen Männern voran den Abhang hinunter stürmte. "Schnappt euch das Gold und alles, was euch sonst von Wert erscheint! Keine Gnade mit denen, die euch aufhalten wollen!"
Dom Azzato und Juanito di Dubiana beeilten sich, ihm zu folgen.
"Ein Hinterhalt!", schrie der Kutscher von Domna Praiosmins Kalesche, die - von einer großen Schneekugel getroffen - mit anderthalb Rädern über dem steilen Abgrund hing. Der Kutscher sprang auf der anderen Seite vom Kutschbock herunter, direkt vor die Füße von Azzato und Juanito, die schneller, als ihnen lieb war, den Abhang herab geschlittert kamen. "Was wird das, ihr Briganten-Pack? Ihr wisst wohl nicht, dass ich einen Passagier für den Großinquisitor höchstpersönlich fahre? An eurer Stelle würd ich ganz schnell ..."
"Halt's Maul!", unterbrach ihn Azzato und rammte dem gurgelnd rückwärts taumelnden Mann seinen Linkhand bis zum Heft in den Hals. Dummerweise prallte der dumme Tropf dabei gegen die Kutsche, die sich noch weiter über den Abhang neigte. Die beiden vorgespannten großen Kaltblut-Rösser wieherten panisch, eines stieg auf die Hinterbeine.
"Hau die Geschirrseile der Pferde durch!", rief Juanito di Dubiana seinem Cumpadre zu, der den grässlich verletzten Kutscher grob am Wams von dem Wagen wegzerrte und ihm mit einem Rapierstich den Rest gab.
"Schützt die Wagen!", brüllte der Ordensritter Ucurio von Ragath, der für gewöhnlich die Leibgarde Seiner Eminenz Amando Laconda da Vanyas befehligte.
Dummerweise war er hier an diesem Ort der einzige Ritter des Bannstrahlordens. Die anderen Wachen waren lediglich ungeweihte Laien-Waffenknechte der Suprema oder sogar nur Büttel von Burg Albacim, die der Großinquisitor zur Bewachung des Zuges abkommandiert hatte. Entsprechend dumm stellten sie sich auch im Kampfe an, während die Angreifer trotz ihrer langen Haare und Bärte und ihres zerlumpten Äußeren allesamt erfahrene Fechter zu sein schienen.
"Holla, ihr da! Zu mir!", rief Dom Azzato drei jungen Maiden und Burschen im grünen Waffenrock Selaques am Ende des Wagenzuges zu. "Helft mir, Eure Herrin zu erretten!"
"Dom Azzato?", rief eine von ihnen erleichtert, froh im Kampfgetümmel ein vertrautes Gesicht zu entdecken. Vielleicht mussten sie hier doch nicht alle sterben, sondern es gab irgendwie einen Ausweg.
"Kämpft! Verteidigt die Wagen, ihr Elenden!", brüllte Ucurio von Ragath mit der Stimme, die befiehlt, der sich hoch zu Ross von zwei Seiten durch Filippo di Lacara und einen weiteren Hofjunker bedrängt sah. Ein anderer warf ihm ganz unritterlich aus kürzester Entfernung einen Ball aus Schnee, Eis und Stein ins Gesicht, und der kurze Moment der Unachtsamkeit genügte Filippo di Lacara, um dem Gerüsteten sein Rapier durch die ungepanzerte Armbeuge in den Leib zu stechen.
Gierig riss er die Tür der zweiten Chaise auf, während seine Gefolgsleute auf den vom Pferd stürzenden Ordensritter einstachen, bis er sich nicht mehr rührte und den Schnee um sich herum blutrot färbte. Im Inneren der Chaise fand Filippo mehrere Truhen und kleinere Schatullen vor. Vorfreudig grinsend riss er die erste davon auf - aber was war das? Sie enthielt Bücher, nichts als zehn oder zwölf ledergebundene Bücher in einer Sprache, die er nicht kannte. Er öffnete wütend die nächste Truhe - darin war zumindest ein güldenes Weihrauchpendel und ein Gürtel in der gleichen Farbe mit diesen Sphärenkugeln daran, wie sie die Praiospfaffen trugen. Vielleicht von Wert - aber wie sollte er so etwas in einem der Dörfer der Umgebung zu Geld machen?
Filippo di Lacara konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. "Orksch! Was ist das für ein wertloser Scheißdreck, den die transportieren, als wären es die Kleinodien des Almadanerkönigs?" Der dritte Wagen enthielt nur Möbelstücke und zwei große Gemälde, die eine Gruppe dummglotzender Personen zeigte, die ihm völlig unbekannt waren - vermutlich war dies diese unselige Da-Vanya-Sippe, von denen Juanitos Cumpadre gesprochen hatte. Wütend stach er mit dem Rapier ein paar Mal in die Gesichter der abgebildeten Personen - wenn sie für ihn keine verwertbaren Schätze zu bieten hatten, dann sollten sie selbst an ihrem Plunder auch keine Freude mehr haben.
"Colonello!", rief ihn Radamel di Siguenza zu sich, der sich den vierten und letzten Wagen vorgenommen hatte. "Seht Euch das an!" Er schleppte eine güldene Monstranz, das Bildnis eines hockenden Greifens, so groß, dass der Großteil von Radamels Oberkörper dahinter verschwand. Und das alles offenbar aus purem Gold! Filippo di Lacara pfiff anerkennend durch die Zähne: "Nicht gerade unauffällig das Ding. Aber von dem Gold allein könnten wir alle ein Jahr lang in den besten Gasthäusern des Horasreichs leben! Jemand soll dir tragen helfen, das Vieh nehmen wir auf alle Fälle mit!"
Autor: SteveT
Etwa eine Meile weiter östlich näherte sich eine geschwinde Reiterin auf dem Briesacher Höhenweg, die aus der entgegengesetzten Richtung kam, aus der des namensgebenden Dorfes in Schrotenstein. Rifada da Vanya mühte sich, ihre Fassung wiederzufinden, die ihr mit der Nachricht vom Tod ihrer Tochter und Erbin abhanden gekommen war. Aber es gelang ihr nicht.
Trotz ihres aufgewühlten Zustandes war sie allerdings nicht benebelt genug, um nicht zu bemerken, dass sie verfolgt wurde. Irgendwer folgte schon kurz nach ihrem Aufbruch aus Norderwacht ihrer Spur mit einem Abstand von ein bis zwei Meilen. Wann immer sich der Höhenweg auf einen der namensgebenden Hügel von teilweise beträchtlicher Höhe hinauf schwang, konnte sie von oben auf der Hügelkuppe ihren Verfolger oder ihre Verfolgerin im schneeweißen Talgrund sehen. Ob es ein von den Harmamunds gedungener Mörder war? Es war ihr im Moment einerlei - sie gehörte rondraseidank nicht zu den Hänflingen, denen schon ein einzelner Gegner Sorge bereiten musste. Erst musste sie Praiosmin in die Finger kriegen! Sie hoffte, dass sie Amandos Nachricht an Lucrann richtig deutete und dass man sie auf diesem Weg zum Hoftag gen Ragath schaffte.
"Nur das Blut kann sühnen, was das Blut verbrach!", rezitierte sie im Geist die uralte Losung, die sie wie jede gute Almadanerin schon mit der Muttermilch aufgesogen hatte.
Es war zwar schon ein paar Jahre her, seit sie diesen Weg das letzte Mal genutzt hatte, aber wenn sie ihr Orientierungssinn nicht betrog, dann war sie bereits wieder im heimatlichen Selaque. Mit einem Male bemerkte sie, dass sie nicht nur verfolgt wurde, es kam ihr auch ein einsamer Reiter entgegen, der dafür, dass der kurvenreiche Pfad vereist und rutschig war und oftmals an steilen Abhängen entlangführte, viel zu schnell unterwegs war. Rifada zog ihr Bastardschwert und verstellte ihm mit ihrem Pferd den Weg. Umso näher er kam, umso mehr kam ihr etwas an ihm bekannt vor. War das nicht ... ja, das war doch dieser Yaquirtaler Magus von Stand, der mit einer Nachricht für Richeza auf ihrem Castillo aufgetaucht war, als diese ganze neuerliche Malaise ihren Anfang genommen hatte. "Ihr, Dom ...?" Sein Name war ihr entfallen, da sie damals nicht damit gerechnet hatte, ihn noch ein weiteres Mal zu treffen. "Was sucht Ihr noch immer hier in unserem Landstrich? Und vor allem: Habt Ihr sonst noch jemanden gesichtet? Vielleicht einen größeren Zug auf dem Weg vom Markt Selaque hierher?"
Autor: Lindholz
"Domna Rifada, welch Glück, dass ich Euch treffe!", rief Amaros von Lindholz der adligen Reckin zu und brachte sein Roß zum Stehen, welches mehr als dankbar ob dieses Umstands zu sein schien. "Der Wagenzug, von dem ihr sprecht, ist keine Meile von hier in einen Hinterhalt geraten. Wegelagerer, keine Barbaren aus den Bergen, doch mit ebensowenig Respekt vor der Kirche. Ich bin auf dem Weg, um in Schrotenstein Bericht zu erstatten und Hilfe zu ersuchen."
Autor: von Scheffelstein
Der Wind hatte zugenommen und blies Abelardo Mansarez von Leuendâl direkt ins Gesicht. Obwohl er sich ein Wolltuch um Nase, Mund und Hals geschlungen hatte, stachen feine Eiskristalle in seine Haut, die vom verharschten Boden aufstoben. Trotz der Kälte rann der Schweiß dem alten Kämpen den Nacken hinunter. Die Vanyadâlerin war beinahe ohne Pause geritten, und selbst, als sie gerastet hatte, hatte er sie nicht eingeholt, da er die Spur verloren hatte und erst im Morgengrauen auf ihr Lager gestoßen war. Er selbst hatte kaum geschlafen, nur einmal war er im Sattel eingenickt und erwacht, als er vom Pferd zu rutschen begann. Die Müdigkeit brannte ihm in den alten Knochen, aber er hatte nicht aufgeben wollen, zu wichtig erschien es ihm, die Fehde nicht auf die Grafschaft übergreifen zu lassen, ja, selbst: die nächste Bluttat möglicherweise ganz zu verhindern.
Keuchend hielt Abelardo einen Moment inne und beschirmte die Augen mit der Linken. Da, weiter oben auf dem verschneiten Weg, sah er die Junkerin. Sie hatte ihr Pferd angehalten und sprach mit einem Reiter. Abelardo trotzte der Erschöpfung und trieb sein Ross erneut zur Eile an.
Autor: von Scheffelstein
Die kleine, alte Frau straffte sich ein wenig und klopfte mit zwei runzligen Fingern ihrer unversehrten Hand auf die Sessellehne.
"Nein", sagte sie mit einer ungewohnten Schärfe. "Das ist gänzlich inakzeptabel. Ihr sprecht nicht nur mit der Tochter einer Fürstin, sondern auch mit der Schwester eines der höchsten Würdenträger der Heiligen Reichskirche. Ich werde mich nicht von irgendwelchen Ordenskriegern nach Punin schleifen lassen, als sei ich eine rustikale Brigantin oder entstammte einem verfehmten Geschlecht!"
Rote Flecken zeichneten sich auf den Wangen der Wildenfester Junkerin ab, die nicht nur der Wärme in der Kemenate zuzuschreiben waren.
"Was glaubt Domna Morena, wohin ich wohl flüchten sollte, wenn sie mich aus ihrer Obhut" – sie spie das Wort nun beinahe aus – "entließe? Wenn sie die Stirn hat, eine Klage vor dem Hoch- oder Reichsgericht gegen ein Mitglied unserer Familia zu erheben, dann werde ich dort erscheinen und meine Aussage treffen, dessen seid gewiss!"
Sie schüttelte energisch den Kopf. "Einstweilen rate ich ihr, mich und auch meine Großnichte bei Anbruch des morgigen Tages ziehen zu lassen. Was glaubt Ihr wohl, wie meine Nichte reagieren wird, wenn ihr zu Ohren kommt, man habe mich oder Domna Richeza wie gemeine Verbrecherinnen abführen lassen? Eine solche Impertinenz wider die Ehre unserer Familia wird sie in höchstem Maße erzürnen." Belisetha da Vanya umklammerte die Sessellehne für einen Moment, ehe sie ihren gichtigen Zeigefinger in Hernáns Richtung schüttelte. "Und das mit Recht, junger Dom Hernán, und das mit ganzem Recht." Sie ächzte und ließ sich in den Sessel zurücksinken. "Wenn diese unerfreuliche Angelegenheit ein gutes Ende nehmen soll, dann muss jemand alsbald mit Rifada sprechen. Jemand, der einen guten Einfluss auf sie nehmen kann. Und das bin entweder ich oder es ist mein Bruder. Niemand sonst vermag sie davon abzuhalten, Domna Morena wie einem Huhn ans Genick zu gehen, und das wird sie andernfalls, dessen seid ebenfalls gewiss."
Die dunklen Augen wanderten über Hernáns Gesicht. "Und was Praiosmin von Elenta angeht …" Sie verfiel in Schweigen und schüttelte mehrmals den Kopf. "Begeht keine Dummheiten, Dom Hernán", sagte sie dann. "Wenn Ihr in Sorge um die Grafschaft seid, dann begeht keine Dummheiten." Düster schüttelte sie erneut den Kopf.
Autor: SteveT
Nachdenklich ließ Rifada da Vanya ihr neues Ragathsqueller Pferd, das ihr ihr Vetter Talfan dankenswerterweise im Austausch gegen ihr vorheriges aus den Besitzungen des niedergebrannten Klosters zur Verfügung gestellt hatte, auf dem teils morastigen, teils hart gefrorenen Karrenweg gen Kornhammer traben. So war wenigstens das Tier frisch und ausgeruht – sie selbst war es nach nur kurzer Nachtruhe auf Burg Ragathsquell absolut nicht.
Natürlich waren sie nicht im Streit auseinander gegangen, dafür kannten Talfan und sie sich zu lange, und jeder wusste, was er am anderen hatte. Nichtsdestotrotz hätte sie sich von ihrem Vetter ersten Grades etwas mehr Engagement und Wagemut erhofft – aber Talfan war auf seine alten Tage noch mehr ein Zauderer und Paragraphenreiter geworden, als er es ohnehin schon immer gewesen war.
Als ob sich Amando als einer der Hochgeweihten der Heiligen Reichskirche zu einer so derischen und - in seinen Augen - kleingeistigen Handlung wie der Aussprache und dem Schwur einer Blutfehde hinreißen ließe. Er glaubte ja selbst noch an das Gute in der Dämonenbuhle Praiosmin - da glaubte er daran sicher sogar noch mehr beim niederträchtigen Harmamund-Geschmeiß, denn der falsche 'Fürst' Gwain und er waren alte Bekannte.
Und über Talfans anderen Vorschlag - mit der Bekanntgabe der Fehde bis nach dem kaiserlichen Hoftag zu warten - konnte Rifada erst recht nur den Kopf schütteln. Was ging sie der kaiserliche Hoftag an? Sie hatte mit dem jungen Ding auf dem Kaiserthron nicht das Allergeringste zu schaffen, und auch deren missratenem Bruder hatte sie damals nur unter Zwang und als reines Lippenbekenntnis den Treueeid geleistet. Diese flachsblonden Auswärtigen sollten gefälligst droben in Haferyaquirien unter sich bleiben und sich besser niemals in Almada blicken lassen, wo die Nobleza kein auswärtiges Hineinreden schätzte.
Rifada erhoffte sich von ihrem Schwagervater Hesindian mehr Unterstützung. Er versuchte zwar ebenfalls immer lange die Dinge mit müßigen Worten zu regeln - aber wenn es sein musste, dann konnte Hesindian auch ein Mann der Tat sein. Und was könnte ihn mehr mobilisieren, als die Nachricht von der grausamen und unwürdigen Ausmordung seiner Enkelin, seines Augensterns?
Die Vanyadâlerin war sich nicht sicher, wie sie ihm diese Kunde überhaupt überbringen sollte, ohne dass den armen alten Mann der Schlag traf. Wie alt war ihr Schwagervater mittlerweile? Sie musste sich eingestehen, es nicht genau zu wissen.
Der Weg wurde durch den Schneefall der letzten Tage stetig schlechter, umso weiter sie nach Königlich Kornhammer hineinkam und an Höhenschritt gewann. Die Hänge des Raschtulswalls, die man im Ragatischen Kessel nur als schroffe Silhouette am rahjawärtigen Horizont gesehen hatte, schienen nun zum Greifen nah und auch die steilen Hügel, die ihre Vorhut bildeten, hatten es teilweise schon gehörig in sich. Endlich - nach stundenlangem Ritt ohne einer Menschenseele begegnet zu sein - kamen ihr nun zwei bewaffnete Reiter entgegen, Frau und Mann, deren ihr unbekanntes Wappen zu einem der hiesigen Caballerogeschlechter gehören könnte.
"Die Zwölfe zum Gruße!" hielt sie Rifada mit ausgestreckter Hand auf. "Ist das hier der Weg zum Castillo Scheffelstein?"
Autor: von Scheffelstein
Die Reiter hatten Rifada den Weg gewiesen, ihr aber zugleich deutlich gemacht, dass es trotz der nahe scheinenden Berge noch ein guter Tagesritt bis zum Ort Kornhammer war, zumal bei den Witterungsverhältnissen und der hereinbrechenden Dunkelheit.
Rifada war zunächst weitergeritten – die Angelegenheit duldete keinen Aufschub! –, doch schließlich war der Karrenweg in der Dunkelheit kaum noch auszumachen gewesen, und in den Schneeverwehungen war sie kaum noch voran gekommen.
Die Nacht hatte sie in einem absonderlichen kleinen Ort verbracht, auf einem Hof, der von einer resoluten Vierzigjährigen und einem Greis bewohnt wurde, die ihr Heim stolz Gasthaus nannten und ihm sogar einen Namen gegeben hatten: "Wandervogel". Immerhin, eines hatte man den beiden lassen müssen: Das Mahl, das sie Rifada aufgetischt hatten, hätte vielleicht sogar ihren verfressenen Vetter zufrieden gestellt.
Früh war Rifada wieder aufgebrochen und hatte mittags die Garnison Tolaks Turm passiert und noch vor dem Dunkelwerden den Ort Kornhammer erreicht, dem man noch immer die Verwüstungen ansah, welche die Bergwilden vor drei Jahren verursacht hatten.
Jetzt stand Rifada im Rittersaal des Palacios der Burg Scheffelstein unter dem Porträt der lang verstorbenen Gemahlin des greisen Vogtes, der anderen Großmutter von Rifadas Nichte Richeza Aldonaza von Scheffelstein, und wartete auf das Erscheinen des alten Hesindian.
Endlich öffnete sich die Tür des Saales, und Hesindian von Kornhammer-Scheffelstein trat ein, groß und noch immer aufrecht, aber seit Jahren schon auf einen Stock gestützt. Haar und Rohalsbart des Alten waren weiß, die Wangen eingefallen, das hoch geschlossene blaue Wams ein wenig zu weit über dem schwindenden Körper, aber der Blick der blauen Augen war klar und wach und die dünne Haut des Greises schimmerte rosig. Von den schweren Krankheiten, die ihn vor – wann? zehn? – Jahren heimgesucht hatten, war Dom Hesindian nichts anzumerken.
Lächelnd schritt Hesindian auf seine Besucherin zu, klemmte den Stock kurz unter dem Arm ein, um der Frau beide Hände auf deren muskelbepackte Schultern zu legen und ihr links und rechts einen Kuss auf die Wangen zu drücken.
"Meine liebe Rifada, wie lange ist es her, seit ich Euch hier willkommen heißen durfte?"
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Autor: SteveT
"Der Fürst?", fragte Rifada irritiert und runzelte die Stirn. "Aber der sogenannte 'Fürst' - der nicht mein Fürst ist - gehört doch selber zu dieser Hunderasse! Ihr wollt also einen Harmamund bitten, dass seine Sippschaft unsere beiden Gefangenen herausrückt? Aber das ergibt doch überhaupt keinen Sinn und ist zudem vollkommen unwürdig und ehrlos! Und den sogenannten 'Grafen' - ich nehme an, Ihr sprecht von dem zugereisten Tobrier, der sich auf unserem Thron breit gemacht hat? - solltet Ihr erst recht nicht um irgendetwas bitten, sonst glaubt er noch, er trüge seinen Kronreif rechtmäßig, was nicht der Fall ist. Wenn Angehörige der eigenen Familia als Faustpfand in die Hände von Feinden geraten, so muss man diese entweder heraushauen, mit List und Tücke befreien, wie Ihr es zuerst vorgeschlagen habt, oder aber ..." Rifadas Gesicht hellte sich auf, als hätte sie gerade einen genialen Einfall gehabt, "... oder aber man nimmt selbst jemanden aus der Sippe der Feinde als Geisel, um diese dann gegen unsere Blutsverwandten auszutauschen!"
Die Vanyadâlerin ließ ihre rechte Faust in die offene linke Hand klatschen. "Ha! Das ist es! Und ich weiß auch schon, wen ich mir von dem Pack greifen werde! Als ich vor Burg Harmamund auf der Lauer lag, verließ eine schwarzverhangene Kalesche das Gemäuer in Richtung La Dimenzia - darin der spindeldürre Bruder Morenas, diese Trauerkrähe Amando! Ich ließ ihn da noch passieren, da ich ja die Burg im Auge behalten musste. Aber wenn es mir gelingt, ihn aufzustöbern und gefangen zu nehmen, so wird Morena gezwungen sein, Belisetha und - so die Zwölfe wollen - auch Richeza gegen ihn einzutauschen. Zeigt sie sich aber verstockt, halte ich ihren Bruder im tiefsten Verlies von Castillo da Vanya bei Wasser und Brot gefangen, nötigenfalls bis er verfault. Wenn sie das selbst nicht kümmert - was mich keineswegs wundern würde - so wird ihr doch Gwain als Soberan befehlen, nachzugeben und unsere Gefangenen freizugeben. So haben wir wenigstens unser Gesicht gewahrt und dem Harmamund-Geschmeiß gezeigt, dass wir nicht vor ihnen im Staube kriechen! Den sogenannten 'Grafen' aber halten wir aus inner-almadanischen Sachen schön ganz heraus, denn die gehen ihn als Auswärtigen überhaupt nichts an! Ihr selbst könnt ruhig zum Hoftag reisen - gebt Euch dort nur ganz unwissend in Bezug auf diese ganze Angelegenheit und gebt auf Euch Acht, dass man nicht auch Euch nach dem Leben oder Eurer Freiheit trachtet. Es genügt, wenn Ihr mir zwei bis drei Eurer besten Kriegerinnen mitgebt und um alles Weitere kümmere ich mich schon. Zur Not gehen auch fünf oder sechs Männer."
Autor: von Scheffelstein
Der alte Cronvogt seufzte innerlich. Diese verfluchte almadanische Ehrversessenheit hatte ihn und sein Haus schon manches Mal in Schwierigkeiten gebracht. Nicht etwa, weil er genauso heißblütig wie rachsüchtig wäre wie viele seiner Landsleute. Nein, vielmehr, weil seine Angehörigen - und allen voran seine Enkeltochter Richeza – so wenig vom Wort und so viel vom Blute jener auf ihrer Degenspitze hielten, die sie mit Wort oder Tat geschmäht hatten.
War es Feigheit, wie jene Hitzköpfe sagten, wenn man den Frieden höher schätze als ein Ehrenhändel? Nein, Hesindian hatte sich nie einem Duell entzogen, das an ihn herangetragen worden war. Hatte er nicht sogar einst mit Rifadas Mutter die Klingen gekreuzt, bis sie beide vor Erschöpfung kaum noch die Waffen hatten halten können, nur weil sein Sohn Domna Leonidas Tochter geliebt hatte und diese ihn? Hesindian hatte den Kampf nie gefürchtet, ebenso wenig wie den Tod. Er war ein hervorragender Kämpfer gewesen, als er noch jung gewesen war, aber so recht hatte er nie einsehen wollen, was erstrebenswert daran sein sollte, in einem Ehrduell verwundet oder gar getötet zu werden, wenn man sein Leben auch der Liebe widmen konnte und der Schönheit, die man tagtäglich in den kleinen Dingen fand.
Der wahre Grund jedoch, warum er eine friedliche Lösung dem Kampfe immer vorgezogen hatte, war, dass eine Bluttat stets weitere nach sich zog. Und mehr als einen Tod konnte man selbst nicht sterben. Außer, man liebte. Dann aber war der Tod kein schneller, schmerzloser, sondern ein langer, qualvoller. Denn mit jedem geliebtem Menschen wurde ein Teil der eigenen Seele getötet und das Göttervertrauen ein weiteres Mal auf eine Probe gestellt.
Abermals seufzte der alte Mann im Stillen, als er das finster entschlossene Gesicht der Junkerin betrachtete. Nichts würde sie von ihrem Plan abbringen, so viel war gewiss. Dass schon manches almadanische Adelshaus durch eine Reihe anfangs harmloser wider andere Familias gerichteter Taten zugrunde gegangen war, bekümmerte die Kriegerin wenig und sie darauf hinzuweisen, war verschwendete Zeit und Mühe.
"Also gut", seufzte er schließlich, diesmal hörbar. "Ich werde Euch drei meiner Leute als Bedeckung mitgeben. Als Schutz vor Räubern, Bergbarbaren und wilden Tieren. Schließlich weiß jeder, wie gefährlich es im Winter im Osten Almadas sein kann. Zudem sollt Ihr Stiefel, Mantel, Harnisch und Wegzehrung erhalten, sobald Ihr aufbrecht. Gerne dürft Ihr Vesper mit mir halten und die Nacht hier verbringen, wenn Ihr das wünscht. Ihr seht müde aus, wenn mir das zu sagen erlaubt ist."
Er lächelte leicht und dachte nicht zum ersten Mal an diesem Abend an Domna Rifadas Mutter, die nicht einmal ganz so alt geworden war, wie Rifada jetzt war. Ihr Ziel, den Marmorthron zurückzuerobern, hatte sie nie erreicht. Und so voller Hass und Groll und Zorn war sie gewesen, dass er bezweifelte, dass sie in ihrem Leben Glück empfunden hatte, das nicht aus dem Leid ihrer Feinde erwachsen war. Das Leben nahm einem Vieles: Macht, Besitz, Gesundheit, Freunde und Geliebte. Aber allein die Götter wussten, warum manche Menschen beim Anblick der Scherben nur die Risse sahen und Hass empfanden, während jene, die sich der Liebe verschrieben hatten, in jeder Scherbe ein neues Ganzes erblickten.
Autor: SteveT
In der Mark Ragathsquell, am Ufer der Harma:
Zur selben Zeit. viele viele Dutzend Meilen weiter nördlich, Der junge Eslam Inglessio von Ragathsquell, der Viertgeborene und älteste Sohn des Junkers aus dem ehemaligen Fürstengeschlecht, sah gelangweilt zu, wie zwei Eigenhörige seiner Familia mit Spaten und Spitzhacke ein Loch in die fingerdicke Eisschicht hackten, die das normalerweise schnell fließende Flüsschen Harma bedeckte - die Grenze zwischen der Dominie seines Vaters Talfan und der der verstorbenen Stierfürstin Aldea von Harmamund, der vor einigen Götterläufen ihre auch nicht viel freundlichere Tochter Morena nachgefolgt war. Eslam Inglessio spuckte seinen Kautabak aus und begutachtete stirnrunzelnd wie der dicke Garobaldo - seines Zeichens zweiter Leibkoch seines Vaters mit überaus passendem Namen - einen Regenwurm aus einer kleinen Kiste mit Erde klaubte und ihn angeekelt auf einen zum Haken gebogenen dünnen Draht spießte. "Ob das bei dieser Kälte etwas bringt?", fragte er den Koch skeptisch. "Die Fische sind doch alle längst erfroren oder rechtzeitig den Fluss und dann den Yaquir runter bis in die Südpforte oder ins Yaquirtal geschwommen. Nur ein kompletter Volllidiot von Fisch würde während der Tristeza in diesem efferdverlassenen Eisbad bleiben!" "Das sehe ich ganz genauso!", nickte Garobaldo und gab den beiden hörigen Knechten ein Zeichen, dass das geklopfte Loch im Eis längst groß genug war. Er warf den Haken mit dem zappelnden Wurm befestigt an einer dünnen Schnur in das Eisloch und ging in die Hocke, um besser durch das trübe Eis schauen zu können. "Euer werter Vater ist aber der Überzeugung, dass die Silberflitzen auch während der Tristeza unter dem Eis am Grund der Harma leben. Und da er ebensolche - gedünstet auf Schalotten und Kürbispüree - Ihrer Majestät der Kaiserin höchstselbst während des kaiserlichen Hoftages zu Ragath servieren will und wir bis dahin noch an der genauen Rezeptur feilen müssen, brauchen wir eben auch bei diesem Firunswetter frische Silberflitzen." "Dann seht zu, welche zu fangen!", befahl ihm Eslam Inglessio buchstäblich von oben herab, denn er saß auf dem Rücken seines Apfelschimmels, um den er den Vater lange angebettelt hatte und den er zu seinem siebzehnten Tsafest endlich erhalten hatte. Er glaubte, dass er das Lieblingskind von Talfan von Ragathsquell war und so gab er sich Mühe, alles stets zu dessen vollsten Zufriedenheit zu erledigen, denn irgendwann einmal sollte all dies Land hier ihm gehören - und nicht irgendeiner seiner zahlreichen Schwestern. Er wollte sein Ross gerade über die schmale Holzbrücke gehen lassen, die hier über die Harma führte, um sich das Ganze auch einmal vom Harmamunder Ufer aus zu betrachten - doch die Frau unter den zwei Hörigen hielt ihn zurück. "Nicht, edler Domnito! Die Brücke ist bloß für Menschen gemacht! Sie wird einstürzen unter dem Gewicht Eures Pferdes!" Eslam Inglessio sah sie ungläubig an. Wer baute so einen schwächlichen Murks? Andererseits ... besonders stabil sah sie wirklich nicht aus. Er blieb also am eigenen Ufer und ließ sein Pferd dort auf und ab stolzieren, als er auf einmal am anderen Ufer aus dem Waldstück in etwa hundert Schritt Entfernung eine größere Anzahl Reiter näherkommen sah, der eine noch größere Anzahl marschierender Fußsoldaten folgte.
"Wer oder was zum Namenlosen ist das jetzt?", rief er. Der Koch zog vor Schreck schnell seinen Angelhaken aus dem Wasser, die beiden Hörigen bewaffneten sich wieder mit Spaten und Spitzhacke. Die Ankömmlinge waren durchweg bewaffnet und gerüstet – Eslams älteste Schwester Tsaya hatte schon darüber gesprochen, dass es möglicherweise eine große Blutfehde geben werde in Ragatien und Bosquirien, nachdem unlängst das irgendwie mit ihnen verwandte Mannweib Rifada da Vanya zur Unterredung beim Vater gewesen war. Eslam Inglessio konnte kaum erwarten, dass es tatsächlich soweit kam, um sich im Kampf seine ersten Sporen zu verdienen. Vor allem nachdem er gehört hatte, dass es dann gegen die Harmamunds ginge, denen er nur zu gerne einiges von ihrem Land abknöpfen würde, um die eigenen Latifundias zu erweitern.
Eslam Inglessio zog sein Rapier - eine bronzeverzierte Waffe aus der Schmiede der Gebrüder Sfazzio - und wartete am Brückenkopf, bis die Reiter heran waren, deren offensichtlicher Anführer auch ein junger Bursche zu sein schien, nur wenige Götterläufe älter als er selbst. "HALT!", gebot er ihnen gebieterisch. "Ab hier beginnt unser Land, und es wäre mir neu, dass wir einen Kriegshaufen angefordert haben. Was ist Euer Begehr?"
"Befehl des Grafen, Junge!", gab Servando Cronbiegler unwirsch zurück, dem aber der herablassende Tonfall, die Garderobe und vor allem das Pferd des jungen braunhaarigen Burschen verrieten, dass er von Stand sein musste - bei solchen Magnatensöhnen hieß es für ihn als Bürgerlichen immer vorsichtig zu sein. "Wir wollen nach Quazzano und die Karte weißt dies als den kürzesten Weg aus! Also lasst uns unseres Weges ziehen - alles andere braucht Euch nicht zu interessieren!" "Ich rate Euch dennoch: Kommt keinen Schritt näher!", gab Eslam Inglesso unbeeindruckt eine letzte Warnung zurück. "Pfft!", schnaufte Servando höhnisch - kaum trocken hinter den Ohren, aber einem gräflichen Detachement den Durchzug verwehren wollen. "Vorwärts! Weiter!", drehte er sich zu den Gardisten des ihm anvertrauten Aufgebots um und ritt dann selbst auf die Holzbrücke. Die ersten zwei weiteren Gardereiter folgten ihm dichtauf - der junge Caballero aus höchstem Ragather Großbürgerhause hatte fast das Ragathsqueller Ufer erreicht, als die Brücke plötzlich mit lautem Krachen und Knarzen unter den drei Rössern und Reitern nachgab und sie allesamt ins eiskalte Wasser stürzten, die Eisdecke des Flusses zerschlagend. "HAHAHAHAHA!", lachte Eslam, und auch die beiden Hörigen, die mit dem Finger auf die drei Gestürzten deuteten und sich prustend auf die Schenkel schlugen. Nur der Koch Garobaldo reichte dem pudelnass ans Ufer schwimmenden Servando eine helfende Hand, um ihn ans Ufer zu ziehen. "Und dabei habe ich Euch noch gewarnt!", schmunzelte der junge Ragathsqueller. Plötzlich aber wurde ihm der Ernst der Lage bewusst, da einer der gestürzten Geleitreiter offenbar unter sein panisch strampelndes Pferd geraten war. Er trieb blutend und besinnungslos im Wasser. Inglessio schnippste nach den beiden Eingehörigen. "Rapido! Rein mit euch! Zieht den Soldat aus dem Wasser!" Die Hörigen gehorchten mit furchtsamen Blick. Einer von ihnen stieg ins eiskalte Wasser, sich am vorgereckten Spaten des Anderen festhaltend, und zog den ohnmächtigen Gardisten, der mit dem Gesicht nach unten getrieben war, am Wappenrock zum Ufer, wo ihn der Koch, Servando Cronbiegler und auch der hastig vom Pferd gestiegene Domnito mit vereinten Kräften hoch ans steile Ufer zerrten. "Der Mann braucht einen Heiler, und Ihr selbst und der andere müsst aus den nassen Sachen raus!", stellte Eslam Inglessio fest und hielt Servando die ausgestreckte Rechte zum Handschlag hin. "Ich schlage vor, Ihr begleitet uns nach Ragathsquell - es sind nur zwei Meilen! Eure Leute können ja so lange dort drüben rasten."
Autor: SteveT
Rifadas vormals finstere Miene hatte sich während des Vorschlags ihres Gastgebers immer weiter aufgehellt, und als Boraccio D'Altea schließlich endete, hob auch sie ihren Weinpokal und hielt ihn diesem zum Anstoßen entgegen, um ihren Pakt mit einem gemeinsamen Herunterstürzen des verbliebenen Weins zu besiegeln, wie es gute, alte, almadanische Sitte war.
"Wahrlich, Ihr seid ein Mann nach meinem Geschmack!", rief sie begeistert aus, nur um dann noch schnell "äh ... also, ich meine: in kriegerischer Hinsicht!" hinterher zu schieben. Er konnte ja nicht wissen, dass sie ihrem eigenen Geschlecht den Vorzug gab, und Männer bildeten sich bei derlei Ausrufen gerne schnell etwas ein.
"Ich nehme Euer Angebot gerne an! Ich muss zugeben, dass Eure Bedenken hinsichtlich des Hoftages wohl berechtigt sind. Morena dort in unsere Gewalt zu bekommen, wird sich schwierig gestalten. Trotzdem solltet Ihr die Woche vor dem Hoftag nutzen, wenn alle Straßen des Königreichs ohnehin voll von Kriegsvolk sein werden, um Euer Terzio hier aus Caldaia hinunter ins Bosquirtal marschieren zu lassen. Es kann auf meiner eigenen Burg im Vanyadâl in Kaiserlich Selaque und auch auf Burg Schrotenstein am Schwarzen See einquartiert werden. Wenn wir Albacim belagern müssen, dann könnte Euer zwergischer Sappeur-Meister in der Tat von Nutzen sein, denn die Feste ist eine harte Nuss, die schwer zu knacken ist. Ich verfolge aber einen anderen Plan, um dort einzudringen und mit Praiosmin abzurechnen. Es muss einen geheimen Zugang zur Burg oder zumindest zum darunter liegenden Markt Selaque geben, der mit dem Torre di Alba in Zusammenhang steht. Einem hohen Spähturm auf dem Gipfel des Berges, an dessen Hang Selaque liegt. Wie genau dieser Zugang beschaffen ist, werden wir erst dort herausfinden, denn Praiosmins Familia - die schon während ihrer Kindheit unsere Feinde waren - hüten dieses Geheimnis natürlich gut."
Sie überlegte kurz und sah zum Fenster in die stockdunkle Nacht hinaus. "Die Abrechnung mit Praiosmin muss aber bis nach dem Hoftag warten. Erst einmal hat die Befreiung von Richeza und Belisetha Priorität. Wenn wir also nicht an Morena selbst herankommen, schlage ich vor, dass wir uns stattdessen ihren Bruder als Faustpfand greifen, um diesen gegen meine Angehörigen einzutauschen. Ich sage Euch eins gleich vorneweg, damit Ihr keine Skrupel bekommt, wenn es Zeit zum Zuschlagen ist: Es handelt sich bei ihm um einen Fraternello - er ist ein Geweihter des Schwarzen Cumpans. Aber keine Sorge - er ist kein wirklicher Mann der Kirche, dessen Entführung uns der Herr Boron krumm nehmen wird, sondern er empfing die Weihen nur aus machtpolitischen oder dynastischen Gründen - vermutlich weil ihn die verfluchte Aldea von Harmamund als ungeeignet für ihr Erbe ansah. Aber er ist in Wahrheit nicht gläubiger als Ihr oder ich und wird uns nicht mit Gebeten zum Schweigsamen einschläfern können oder dergleichen. Wir packen ihn uns einfach in dem Kloster, das er besetzt hat, ohne vom Raben von Punin dort eingesetzt worden zu sein und geben ihn dann wieder im Tausch gegen Richeza und Belisetha heraus. Dies aber muss schon jetzt bald passieren, da Richezas Zustand erwähntermaßen nicht der Beste ist. Zwei Männer von Vogt Hesindian von Kornhammer haben mich zu diesem Behufe schon hierher auf Euer Castillo begleitet. Wenn Ihr selbst mich noch mit zwei, drei kampferprobten Getreuen begleitet, so können wir schon morgen früh zurück nach Ragathsquell reiten und losschlagen!"
Autor: SteveT
Im Weiler Grioli nahe Quazzano:
"Haha! Das ist ein Frosch!", triumphierte die alte Mutina, als sie sich zu den gefärbten Pelura-Kugeln im Schnee hinabbeugte, um sie genau in Augenschein zu nehmen. "Der schlägt deinen Igel!", rief sie zum kaum jüngeren Poggio hinüber, dessen Kugeln sie in hübscher Formation beiseite gerollt hatte.
"Freu dich nicht zu früh, mein Täubchen - ich habe ja auch noch einen Wurf !", holte sie der 82jährige Ottaciano auf den Boden der Realität zurück und warf seine letzte verbliebene grüne Kugel einmal demonstrativ in die Luft, um sie mit der Eleganz eines alten Könners wieder aufzufangen. Die jüngeren eigenhörigen Bewohner des Weilers Grioli, die den Ragathsquellern und Harmamunds gleichermaßen Frondienst schuldeten, schüttelten nur den Kopf, wenn sie die drei Dorfältesten bei ihrem Pelura-Spiel bei dieser Hundskälte auf dem verschneiten Dorfplatz beobachteten. Aber die drei Alten pflegten diese Tradition schon seit 40 Götterläufen an ausnahmslos jedem Praiostag, und es gab schlichtweg kein Wetter, das sie davon abhalten konnte. Ottaciano wollte eben mit großer Geste zu seinem letzten und möglicherweise alles entscheidenden Wurf ansetzen, als plötzlich von Südosten her Hufgetrappel zu hören war und kurz darauf zehn bewaffnete Reiter auf dem Dorfplatz in der Mitte der einzigen Straße Griolis erschienen. Harmamund-Schergen, wie ihr Wappen schon verriet. Der Anführer, ein in Domna Morenas Gunst stehender hochnäsiger Stadtmensch aus Ragath, war den drei Alten leider gut bekannt.
"Ihr da!", blaffte Giordan Cronbiegler die drei an. "Vorhin sind Soldaten, angeführt vom jungen von Ragathsquell, hinüber nach Quazzano gezogen. Sind sie schon wieder herausgekommen und hier durchgezogen? Antwortet wahrhaftig, oder es wird für euch schlimme Konsequenzen haben!"
"Soldaten?", fragte Poggio mit extra zur Schau gestellter Ahnungslosigkeit. "Also, ich habe keine gesehen! Da muss ich wohl gerade mein Boronsstündchen gehalten haben."
"Ich habe heute Vormittag die Peluras poliert", hob auch Mutina ahnungslos die Achseln. Sie hatte die Bewaffneten des kleinen Ragathsquellers vom Küchenfenster aus wohl gesehen. Aber der war ein guter Junge, und sie hoffte, dass er diesen hochtrabenden Patrizierspross hier bald mal auf sein tatsächliches kleines Maß zurückstutzte.
Als auch Ottaciano auf den fragenden Blick Giordans hin nur ratlos den Kopf schüttelte, winkte dieser unwirsch in ihre Richtung ab: "Euch soll bald Gevatter Boron holen, faules Drecksgesindel! Geht wieder an die Arbeit anstatt hier müßige Spielchen zu spielen!"
Er ritt verärgert zum Ortsausgang, von wo aus man die hübsche Schlossburg Quazzano inmitten der verschneiten Felder aufragen sah. Etwas mehr Deckung wäre gut gewesen. Man konnte zwar von hier aus sehr gut erkennen, wer das Castillo verließ und um wie viele Personen es sich handelte. Aber man würde diese dann erst recht dicht an Grioli herankommen lassen müssen, um sie anzugreifen, da man selbst umgekehrt ja auch schon aus über einer Meile Entfernung auf den baum- und strauchlosen Feldern gesehen werden konnte. Es hieß also erst einmal abzuwarten, was sich auf Quazzano tat ...
Autor: SteveT Als er sich aus seiner gebeugten Haltung über die Karte der Kloster-Latufundias wieder erhob, vernahm Amando Almadarich ein ganz leises scharrendes Geräusch hinter sich, als ob die Türe zu seiner Kammer sacht geöffnet wurde. Tatsächlich öffnete sich die Eichentür langsam und herein trat aus der totalen Dunkelheit des Korridors just jene Person, über die er gerade eben noch nachgesonnen hatte.
"Ihr!", rief er überrascht aus. "Ihr habt Nerven, meine Tochter, noch einmal dieses Haus unseres Schweigenden Herrns zu betreten, nachdem man Euch dessen Brandschatzung bezichtigt!"
"Mich?", zischte Rifada böse und deutete mit ungläubigem Blick auf die eigene Brust, während sie ganz in die kerzenbeschienene Studierstube eintrat und die Türe wieder hinter sich schloss. "Eure Schwester, diese machtlüsterne Ketzerstochter, ist die Verursacherin all dieses Übels! Das wisst Ihr so gut wie ich! Ich habe selbst gesehen, wie ein Hexer mit unheiligen Wesen diese geweihte Stätte angriff. Und Eure Schwester war davor und danach erstaunlich oft zugegen. Es gefiel ihr nicht, dass Abt Marbodano ein Vertrauter unserer Familia war - lieber wollte sie eine ergebene Mirhamionette wie Euch in diesem Amt sehen! Aber diese Rechnung hat sie ohne mich gemacht!"
"Versündigt Euch nicht weiter mit solche Lügen, Domna Rifada!", schaute nun der hagere Boroni ungläubig. "Meine Schwester ist eine ehrbare Frau! Sie würde in ihrem Leben niemals mit ..."
Ehe er den Satz vollenden konnte, schoss plötzlich Rifadas Faust zu einer geraden Rechten nach vorne, die Amando so knallhart am Kinn traf, dass er mit glasig verdrehten Augen eine Pirouette auf der Stelle drehte und dann mit dem Oberkörper auf seinen Schreibpult stürzte, von dem er benommen zu Boden rutschte.
"Für einen Boronsbruder redet Ihr viel zu viel - auch wenn Ihr kein echter seid!", schüttelte Rifada missmutig den Kopf und zog ungerührt den leeren Kornsack aus ihrer Wamstasche. Sie zog ihn dem Harmamund-Sohn über den Kopf und band ihm mit einem ebenfalls mitgebrachten Strick die Hände auf den Rücken.
Die Türe öffnete sich wieder einen Spalt, und der Scheffelsteiner Capitan Abelardo lugte herein, der mit seinem Waffenknecht draußen links und rechts der Tür gewartet hatte: "Alles in Ordnung, Domna?"
"Ja - selbstverständlich!", zuckte Rifada mit den Achseln, hob den gefesselten Fraternello ächzend an und warf ihn sich wie einen leblosen Sack Getreide über die Schulter. "Haltet die Türen auf! Das Klappergestell kann ich allein tragen!"
Die beiden Scheffelsteiner tauschten mit verkniffenem Grinsen einen Blick, dann begleiteten sie - einer vorneweg, einer hinterher laufend - die Vanyadâlerin, und ihre schwere Last aus dem Kloster nach draußen in die Nacht.
Mark Ragathsquell, 9. Tsa 1036 BF
Kloster La Dimenzia, abends
Autor: SteveT
Das Silberlicht des Madamals erleuchtete die mondhelle Nacht, die - reflektiert durch die nahezu geschlossene Schneedecke ringsumher - noch heller als gewöhnliche Vollmondnächte wirkte. Außer dem kurzen Schrei einer vorbeifliegenden Eule störte nichts die absolute nächtliche Stille auf dem Grund des von einer hohen Mauer umfriedeten Klosters der Heiligen Noiona in der gräflichen Gemarkung Ragathsquell. Auch die Schritte der über einem Dutzend Rösser und Maultiere, die sich dem Kloster im Dunkel der Nacht von Nordwesten her näherten, wurden beinahe vollkommen vom fesselhohen Schnee geschluckt und gedämpft.
Das vorderste Ross blies schnaubend eine Atemwolke aus seinen Nüstern in die frostklare Nacht, als es von seiner Reiterin direkt vor der Klostermauer gezügelt wurde.
"Da wären wir! La Dimenzia!", klärte sie flüsternd einige der ihr nachfolgenden Begleiter auf und verwendete dabei den Namen für das altehrwürdige Klsoter, der sich im Volksmund dafür eingebürgert hatte, auch wenn die borongeweihten Priester diese Bezeichnung nicht schätzten.
"Haltet einmal mein Pferd gut fest!", bestimmte Rifada da Vanya und drückte dem auf dem Ross neben ihr im Sattel sitzenden Burgcapitan Abelardo aus Scheffelstein die Zügel ihres eigenen Pferdes in die Hand. Rifada stemmte sich daraufhin balancierend im Sattel hoch, stellte die Füße auf diesen und richtete sich schließlich wackelig auf dem Pferderücken stehend zu ihrer vollen Größe auf. Boraccio D'Altea, der hünenhafte Cronvogt zu Khahirios, der sie mit seinen Männern und Frauen von seiner Burg aus hierher begleitet hatte, verfolgte ihre artistische Einlage mit verdutzt-skeptischem Blick.
So aber konnte Rifada über die annähernd drei Schritt hohe Mauer hinwegsehen. Das Hauptgebäude des Klosters war nur noch eine schwarzverkohlte Ruine. Der Schneefall der letzten Tage hatte auch die letzten Brandnester des flammenden Infernos gelöscht und zugedeckt, dessen unfreiwillige Zeugen Richeza, Belisetha und sie vor einigen Tagen geworden waren. Im Wirtschaftsgebäude aber brannte in einigen Kammern noch Kamin- oder Fackellicht. Offenbar hatten sich noch nicht alle Klosterbewohner selig träumend in die Arme ihres schwarzen Herrn begeben, obwohl inzwischen etwa die Stunde vor Mitternacht angebrochen sein sollte.
"Scheinbar ist der eine oder andere noch wach!", ließ Rifada ihre kopfstarke Begleitung wispernd wissen. "Da ich Euch nicht tiefer als unbedingt notwendig in diese Fehde hineinziehen will," wandte sie sich danach, noch immer flüsternd, an Dom Boraccio, nachdem sie schnörkellos vom Pferderücken hinab in den Schnee gehopst war, "schlage ich vor, dass Ihr mit Euren Leuten hier draußen auf uns wartet und die Umgebung im Auge behaltet, falls sich irgendjemand von außerhalb nähern sollte, der uns in die Quere kommen könnte. Ihr beide dagegen", sie wandte sich an Dom Abelardo und an den Waffenknecht ihres Schwagervaters Hesindian, "begleitet mich nach innen, wenn ich jetzt unseren Freund Amando Almaderich heraushole - ob es ihm gefällt oder nicht." Sie kramte etwas aus ihrer Satteltasche hervor, was wie ein leerer Mehlsack aussah. Hatte sie deswegen heute früh bei den Windmühlen von Wilsemund haltmachen wollen und war im Inneren von einer der Windmühlen verschwunden?
"Da stecke ich unsere Boronskrähe hinein und ziehe ihm den Sack dicht über den Kopf. Solange Ihr also Acht gebt, dass er Euch nicht an Eurer Stimme erkennt, könnt Ihr ganz unbesorgt sein, dass die Harmamunds von Eurer Beteiligung an dieser schönen Geiselnahme erfahren ..."
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Autor: von Scheffelstein
Efferdane riss erschrocken die Augen auf, als die Klinge des Mannes ihr bedrohlich nahe kam. Langsam ließ sie den Arm sinken und machte einen Schritt zurück. Doch dann legte sich ein entschlossener Zug um ihre Lippen. Sie hob den Arm nur ein wenig seitwärts, bis das brennende Scheit über dem Stroh schwebte, auf dem die Kranke lag.
"Nur zu!", sagte sie grimmig. "Tötet mich, und wir werden alle hier verbrennen!"
"EFFERDANE, NEIN!"
Erstmals wandte die junge Ragathsquellerin den Blick von dem bedrohlichen Mann vor ihr. Rohaja von Ragathsquell schob sich an dem Hünen vorbei in den Raum. "Lasst sie in Ruhe, das ist meine Schwester!", rief sie dem Mann zu.
"Rohaja …?!" Efferdane hob das brennende Scheit wieder an, diesmal aber, um es rasch von dem Stroh fort zu bewegen, ehe noch Glut herunter tropfte und ein Unglück verursachte.
"Das ist Boraccio D'Altea, der Cronvogt von Khahirios. Und das da …" Rohaja machte eine unbestimmte Bewegung in Richtung der Tür, wo, verdeckt durch den breiten Rücken des Einäugigen, eine weitere Person eingetreten zu sein schien. "Das ist Hernán von Aranjuez, der Junker von Aranjuez, den kennst du wohl. Ach und … äh … Baron von Dubios", fügte sie rasch hinzu. "Sie sind hier, um uns zu helfen, Eslamino zu finden."
Efferdane sah von ihrer Schwester zu dem Einäugigen und an diesem vorbei zur Tür. Dann trat sie zögernd beiseite und steckte das Scheit zurück in den Kamin, ehe die leckenden Flammen ihre Hand erreichten.
Nachdem die Lage sich wieder entspannt hatte senkte Boraccio seine
Klinge und steckte die Waffe wieder weg. Er schien ein wenig peinlich
berührt zu sein und murmelte etwas in seinen Bart, das man als
"Entschuldigt bitte" interpretieren mochte.
Mit eher bedachteren Schritten näherte er sich der liegenden Frau und betrachtete sie aufmerksam.
Autor: von Scheffelstein
Die Frau auf dem Lager lag in einer wenig bequem scheinenden Haltung auf dem Rücken, die Beine seitlich angewinkelt, eine raue Wolldecke bis zu den Schultern hochgezogen. Sie trug Hemd, Wams und Hosen, die ihr samt und sonders zu groß waren. Eine Hand lag auf der Decke, die andere in der Kuhle zwischen ihren Schlüsselbeinen, die Finger halb unter dem Hemd verborgen. An der rechten Hand trug sie einen Ring, der vor kurzem offenbar noch an einem anderen Finger gesteckt hatte, dort, wo eine schwärende Wunde zu sehen war. Beide Handgelenke wiesen kaum verheilte Schürfwunden auf. Auch an Wangen und Nase hatte sie rotblaue Frostwunden, quer über den Hals lief ein verschorfter Kratzer, lang, glattrandig; und schräg darüber, bis zum Kinn hinauf, dunkelblaue Flecken, regelmäßig, übersät von zahlreichen winzigen Blutpunkten. Die aufgesprungenen, blutverkrusteten Lippen hatte die Frau leicht geöffnet, ihre Augen ebenso, doch immer wieder flatterten die Lider zu, als wären sie zu schwer oder die Frau zu müde oder schwach, die Augen ganz zu öffnen. Ihr schwarzes Haar klebte in der schweißnassen Stirn.
"Wir haben sie vor Sonnenaufgang hier im Dorf gefunden, nicht weit von der Taberna, im Schnee", erklärte Efferdane zögernd, als müsse sie sich für den Zustand der Fremden rechtfertigen. "Sie hatte Fieber und war halb erfroren, aber ich denke, es geht ihr schon besser, Dom … Boraccio."
Die Augen der Frau schlugen erneut auf, drei Herzschläge lang begegnete ihr Blick dem des Araceners, dann fielen die Lider wieder zu.
"Irgendwo hier in der Nähe treibt sich ein Mann oder … irgendwer mit einer Stiermaske herum. Vielleicht hat er …", begann Efferdane erneut und verstummte dann, als sie den Blick des Hünen sah, der auf den Hals der Kranken gerichtet war.
Ihren Hals, der nicht viel besser aussah als vor sechs Jahren, als nur die Hände und Worte seiner Wildhüterin die Edle vor dem sicheren Tod bewahrt hatten.
Autor: von Scheffelstein
Die Augen der Edlen flatterten mehrmals auf und wieder zu, ehe sie dem Blick des Condottieres einige weitere Herzschläge standhielten. Boraccio hatte durchaus den Eindruck, dass sie ihn erkannte, denn kurz veränderte sich ihre Mimik, so schwach allerdings, dass er aus ihrem Mienenspiel nicht klug wurde. Statt etwas zu sagen, wandte sie den Kopf ab, und die Hand an ihrem Schlüsselbein griff nach dem Saum der Decke und krallte sich darin fest.
"Kennt Ihr sie?", fragte Efferdane erstaunt und warf ihrer Schwester einen hoffnungsvollen Blick zu. Vielleicht würden die Doms hier wirklich bei der Suche nach ihrem Bruder helfen. Und dafür sorgen, dass dieser Stiermensch aus dieser Gegend verschwand. Am besten für immer. "Sie spricht nicht", wandte sich Efferdane wieder an den Aracener. "Sie …" Aber in diesem Moment traten ein weiterer Mann und eine Elfe – Halbelfe? – in den Schankraum und versperrten Efferdane die Sicht auf den Knienden und die Kranke.
Die Halbelfe ging neben dem Lager in die Hocke, besah sich die Frau eine Weile, ohne sie zu berühren, nahm dann wortlos deren Hand aus der des Vogtes, legte drei Finger auf das Handgelenk der Edlen, nahm sie einzeln wieder fort und griff nach der Decke, um sie fortzuziehen, doch die Frau drehte den Kopf in ihre Richtung und hielt die Decke fest.
Erstmals schien die Edle etwas wacher, beinahe kampfbereit, als ihr Blick dem der Halbelfe begegnete. Erst, als diese die Decke losließ und mit den Schultern zuckte, entspannte sich die Kranke etwas.
"Schlaf, ein paar Tage Ruhe, Wärme, dann wird sie das wohl überleben", erklärte Simyane Apfelblüte lakonisch. "Bis der Frostbrand heilt, werden ein paar Wochen vergehen. Das meiste ist harmlos, aber schmerzhaft. Darum", sie wies mit dem Kinn in Richtung des brandigen Fingers, "sollten wir uns kümmern."
Autor: SteveT
"Gut!", nickte Rifada zur Verblüffung Amaros' nur zu diesen Neuigkeiten. "Ich kümmere mich darum!" Sie deutete mit ihrem gezogenen Schwert in die Richtung, aus der der Magier gerade gekommen war.
Dass gerade ein Wagenzug mit den Schätzen ihrer Familia überfallen wurde, schien sie nicht sonderlich zu beunruhigen. In der Tat trieb Rifada eher die Sorge um, dass dieses Raubgesindel ihrer Rache an der Mörderin ihrer Tochter zuvorkommen könnte, was sie für den Rest ihres Lebens nicht würde verwinden können. Oder - schlimmer noch! - dass es sich sogar um Schergen Praiosmins handelte, die das elende Aas befreiten, ehe sie es in die Finger bekommen konnte.
"Eins noch, Dom - ehe Ihr nach Hause zurückkehrt: Richeza und meine greise Muhme Belisetha, die Ihr vor Eurem Verschwinden ebenfalls kennengelernt habt, wurden in der Zwischenzeit von den Harmamunds gefangen genommen und sind auf deren Stammburg in der Mark Ragathsquell eingekerkert. Ich habe bereits Maßnahmen zu ihrer Freipressung in die Wege geleitet. Aber sollten diese fehlschlagen und Euch in drei bis vier Tagen zu Ohren kommen, dass man meine Blutsverwandten noch immer dort arretiert hält, so unternehmt bitte einen Versuch mit Euren ... hm, Ihr wisst schon ... mit diesen Zauberkräften, an die Leute wie Ihr glaubt, ob Ihr sie aus der Burg befreien könnt."
Sie ritt los in Richtung Selaque. "Ich muss mich sputen, um das größte Unheil zu verhindern! Gehabt Euch wohl - und seht Euch vor! Mich verfolgt seit gestern ein Reiter, der höchstwahrscheinlich ein Mörder der Harmamunds ist. Wartet versteckt, bis er an Euch vorüber ist oder entledigt mich seiner - ganz wie es Euch besser gefällt."
Autor: SteveT
"Orkverflucht!", schimpfte Filippo di Lacara, als er einen der güldenen Kandelaber anhob, die im vierten und hintersten Wagen lagen. Sie waren nicht nur mannshoch, sondern auch so schwer wie ein ausgewachsener Mann - mindestens.
"Außer dem goldenen Viech haben wir noch nicht viel gefunden, was man wegtragen und durch die Wälder mit sich schleppen könnte. Und zu Geld machen kann man das auch nur bei den Horasiern oder vielleicht noch bei den Wickelköpfen in Süd-Almada."
"Eslamabad?", schlug sein Vetter nach kurzem Sinnieren vor. "Ihr könntet erstmal nach Eslamabad gehen. Ist nicht allzu weit von hier und die Leute dort sind reich."
Azzato von San Owilmar öffnete derweil ganz vorsichtig die Tür der ersten Kutsche, die weiter über dem Abhang hing als jede andere. Ein anderer Hofjunker hielt ihn von hinten am Gürtel fest, um ihn notfalls zurück zu reißen, wenn die Kutsche in die Tiefe stürzen sollte. "Herrin? Ganz ruhig! Bleibt sitzen wie Ihr seid und verlagert Euer Gewicht nur ganz, ganz vorsichtig!", rief er in die Chaise hinein. "Wir sind hier, um Euch zu befreien! Wir werden Euch gleich ein Seil hinein reichen, welches Ihr Euch ganz vorsichtig um die Hüfte binden solltet."
"Azzato?", rief Praiosmin von Elenta verwundert. "Mein Lieber, Euch schicken die Götter!"
"Die weniger", entgegnete der Caballero pervalisch, der um sich herum erstochene Inquisitions-Büttel blutgetränkt im Schnee liegen sah.
"So wollt Ihr verhindern, dass Eurer Herrin ein abgekarteter Schauprozess gemacht wird? Dafür werde ich Euch überreich belohnen!" Oh ja! Das wirst du - mit Selaque!, dachte Azzato stumm bei sich, laut aber sagte er: "Erst einmal müssen wir Euch in Sicherheit bringen, Herrin! Hier kommt das Seil! Seid vorsichtig ..."
Rifada trieb ihr abgekämpftes Ross zur größten Eile an, die auf diesem steilen Serpentinenpfad möglich war. Nach wenigen hundert Schritt und dem Umrunden einer scharfen Kurve kam die ganze Misere in ihr Blickfeld, die ihr der Magus schon angekündigt hatte. Vier schwere Reisewagen standen in grotesken Winkeln auf dem Weg, die in Anbetracht der Verlaufsrichtung des Weges völlig sinnlos und aberwitzig erschienen. Zwischen den Wagen wuselten etwa zwei Dutzend Menschen umher, vereinzelt wurde auch gekämpft, wobei sich nur noch zwei der weißberobten Waffenknechte der Suprema ihres Onkels gegen eine Überzahl an verlottert aussehenden Caldabreser-Trägern verteidigte. Die Angreifer trugen magnatische Tracht mit bunten Wämsern, Reitstiefeln, Pluderhosen und Umhängen in verschiedenen Farben, dass man beinahe hätte meinen können, sie wären gerade den Höfen von Punin oder Ragath entsprungen.
Rifada verlangsamte ihr Pferd nicht, sondern hielt geradewegs auf den vordersten Wagen zu, der halb über dem Abhang hing. Es fehlte buchstäblich nur noch ein Windhauch, dass er dreißig bis vierzig Schritt in die Tiefe stürzte.
Zwei der Angreifer machten sich an dem Wagen zu schaffen, einer davon hielt den anderen am Gürtel fest. Er zog ihn jedoch erschrocken zurück, als sie und die anderen Briganten Rifada bemerkten.
Die Vanyadâlerin schnaufte verächtlich: Der Vordere, der sich halb in die Kutsche gelehnt hatte, das war doch ... ja, kein Zweifel, es war der Hundsfott Azzato von San Owilmar! Diese Burschen versuchten also tatsächlich, Praiosmin zu befreien. Wo steckte Amando? War er auch in einem der Wagen, und hatten diese Ratten am Ende nicht einmal davor zurückgeschreckt, einen Geweihten der Reichskirche zu ermorden?
"Da kommt eine! Mach sie weg!", befahl Dom Azzato dem Hofjunker, der ihn festgehalten hatte, und schubste ihn Rifada entgegen. Der junge Mann erwartete sie mit beidhändig ausgeholtem Rapier, aber Rifada parierte seinen Hieb im Vorbeireiten und versetzte ihm dabei einen Fußstritt, dass er ein paar Schritte rückwärts taumelte.
"Wer zum Namenlosen ist das denn?", rief Filippo di Lacara, der trotz seiner Suche nach Kostbarem mitbekommen hatte, was am vordersten Wagen vor sich ging. "Wo kommt in dieser götterverlassenen Gegend plötzlich das Weib her? Ist sie übergeschnappt, alleine zwanzig Mann anzugreifen?"
"Ich kenne sie", antwortete Juanito di Dubiana. "Es ist Rifada da Vanya, eine Ferkina-Bekämpferin aus dem hintersten Bosquirien. Die würde uns auch angreifen, wenn wir Tausend wären. Die Leute dort sind selbst Halb-Wilde!"
Rifada wendete ihr Ross und ritt schnurstracks auf Azzato von San Owilmar los. Wo der Lump auftauchte, war auch Praiosmin nicht weit. Vermutlich hockte sie in der Kutsche. Der junge Hofjunker, mit dem sie den ersten Waffenkontakt gehabt hatte, sprang ihr wieder in den Weg. "Muhme - nicht! Haltet Euch aus diesem Gefecht heraus und reitet Eurer Wege! Ich ersuche Euch! Es wird sonst bös' für Euch enden!"
Rifada zügelte ihr Pferd haarscharf vor ihm. Was rief der da? "Muhme?" Als sie ihn genauer betrachtete, schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. "Pellazio? Bist du das?"
Pellazio von Schlehen, der Großneffe ihres toten Gemahls Berengar - sie hatte ihn zuletzt als kleinen Jungen vor 15 Jahren gesehen. Den Augen nach konnte er es tatsächlich sein. "Was hast du mit diesem Brigantenpack zu schaffen? Das hier war ein Wagenzug der Suprema! Ihr befreit gerade eine Reichsverräterin!"
"Die Usurpatorin auf dem Kaiserthron hat uns geächtet und unserer Titel beraubt, weil wir dem rechtmäßigen Almadanerkaiser bis zuletzt die Treue gehalten haben!", rechtfertigte sich Pellazio. "Wenn man uns zu diesem Leben zwingt, holen wir uns, was wir brauchen und durchkreuzen die Pläne der falschen Kaiserin, wo immer wir nur können!"
"Deine Kaiser kümmern mich einen Scheißdreck!", fauchte ihn Rifada an. "Aber Praiosmin von Elenta - die geht nirgendwo hin! Sie hat meine Tochter - deine Base! - umgebracht und wird dafür selber sterben!"
"Azzato?", rief es aus der Kutsche. "Mir war, als hätte ich gerade die Stimme der verräterischen Da Vanya gehört. Was hat das zu bedeuten?"
Rifadas Kopf, eben noch Pellazio zugewandt, drehte sich ruckartig in Richtung der Kutsche. Auch sie erkannte die nölige Stimme ihrer Erzfeindin unter tausenden wieder. Sie trat ihrem Pferd mit den Fersen in die Seite, dass es den im Weg stehenden Schlehener einfach aus dem Weg rammte und geradewegs auf die Kutsche zu hielt.
"Sie ist hier, Herrin!", warnte Azzato von San Owilmar, der sein Rapier zum Schlag erhob. "Sie will sich scheinbar an Euch rächen!"
"Tötet sie - bei allen Heiligen! Tötet sie!", rief Praiosmin hysterisch.
Auch Fillipo di Lacara und Juanito di Dubiana kamen nun vom Ende des Zuges mit ihren Waffen in der Hand herbei gelaufen, kamen aber zu Fuß auf dem vereisten Weg langsamer voran. Rifada stürzte sich vom Pferderücken auf Azzato, dessen Rapierhieb sie an der Seite verletzte. Aber ihr Zorn und ihr Rachedurst ließen sie den tiefen Schnitt kaum spüren. Sie rammte dem schönen Caballero, der unter ihr begraben zu Boden stürzte, die Parierstange ihres Bastardschwertes ins Gesicht und packte ihn dann mit beiden Händen um die Gurgel, um seinen Kopf ein paar Mal fest auf den eisigen Boden zu schlagen. Die Augenlieder des Caballeros flackerten, er kämpfte, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Rifada versetzte ihm noch einen Schlag aufs Kinn und rappelte sich dann schwankend hoch, schwang sich durch die offenstehende Kutschentür ins Innere der Chaise.
Die Kutsche hatte innen Platz für sechs Personen - es saß jedoch nur eine einzige darin. Böse, aber auch entsetzt und ungläubig, blickte sie ihre langjährige Vogtin und Rivalin Praiosmin von Elenta aus ihren schmalen Schweinsäuglein an.
"Waaaah! Ihr Götter! Rifada, Ihr treulose Verräterin! Was zum Henker wollt Ihr hier? Euretwegen wäre mir beinahe der Process auf dem kaiserlichen Hoftag gemacht worden! Hättet Ihr nicht über Jahre hinweg Eurer Vasallenpflicht entsagt, wäre alles gar nicht so weit gekommen! Das Kaiserhaus glaubt die Lügen von Euch und Eurem Oheim und will jetzt mich treue Reichsbeamtin anstatt Euch dreckige Verräterin zur Rechenschaft ziehen ..." Praiosmin trug tatsächlich ein einfaches weißes Büßergewand, das sich eng um ihren voluminösen Körper spannte. Um den Bauch hatte sie einen Strick gebunden, wohingegen ihre Hände seltsamerweise gar nicht gefesselt waren.
"Halt dein Maul, Dämonenbuhle!", zischte Rifada. "Erst hast du mir den Sohn, dann den Gemahl und nun auch noch meine Tochter und Erbin genommen! Deine Busenfreundin Morena, Aldeas Tochter, hält zudem auch noch meine Muhme und geliebte Nichte gefangen. Da braucht es keinen Process irgendeiner fremden Kaiserin um zu wissen, dass du an alledem schuld bist und sterben musst, niederträchtige Hexe!" Sie stürzte sich auf Praiosmin, packte auch diese an der Gurgel und drückte zu. Praiosmin tat es ihr gleich und schloss ihre fleischigen Finger um Rifadas Hals. Beiden trat vor Anstrengung der Schweiß auf die Stirn, sie blickten sich hasserfüllt ins Gesicht, während die beiden ungleichen Frauen einander würgten. "Die K...utsch..e!", presste Praiosmin erstickt hervor, da sich das Gefährt durch die Gewichtsverlagerung Rifadas noch weiter neigte. "Wir...stür...zen...ab!"
Und genau so kam es. Als Filippo di Lacara und Juanito di Dubiana die Chaise erreichten, neigte sich der Wagen endgültig zu weit über den Abhang und stürzte rumpelnd und krachend in die Tiefe. Filippo riss seinen Vetter am Arm drei Schritte zurück in Sicherheit, so konnte keiner von beiden und auch nicht der mit zerschlagenem Gesicht am Boden liegende Azzato von San Owilmar sehen, dass sich der Wagen mehrmals überschlug und die Schnee- und Eismassen einer neuerlichen Lawine mit sich riss.
Kurz waren die Schreie zweier Frauen zu hören gewesen, die aber erstarben, noch ehe der Wagen drunten im Tal endlich zum Liegen kam.
"Neeeeiiiin! Herrin!", rief Azzato und starrte auf allen Vieren entsetzt von oben herab in die Tiefe.
"Die sind hin!", stellte Filippo di Lacara lakonisch fest.
"Es ist vielleicht besser so!", streckte Juanito Azzato eine helfende Hand zum Aufstehen hin. "Wir beide stehen ja nicht unter Acht und kehren jetzt erstmal nach Ragath zurück. In Selaque sind jetzt Titel und Ämter neu zu vergeben - wer könnte dafür besser geeignet sein, als ein Ansässiger wie du? Lass uns zu diesem kaiserlichen Hoftag reiten und deinen Namen dort ins Spiel bringen."
Azzato blickte die beiden mitleidlosen Hofjunker unschlüssig an und dann noch einmal in die Tiefe, wo sich die aufgewirbelte Schneewolke um den zerschellten Wagen langsam legte. Unmöglich, diesen Absturz zu überleben, den er nicht hatte verhindern können.
"Vielleicht habt ihr Recht!", nickte er und ließ sich hochhelfen. "Reiten wir nach Ragath."
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