Chronik.Ereignis1033 Feldzug Schrotenstein 11
In der Baronie Schrotenstein, 4. Rondra 1033 BF
Auf dem Castillo Schrotenstein
4. Rondra 1033 BF, am frühen Vormittag
Autor: SteveT
Gestützt auf ihre Zofe Yusufina ließ sich Belisetha da Vanya in den kleinen Rittersaal der siebentürmigen schwarzen Festung hinunterführen, wobei ihr das Laufen heute noch schwerer fiel als sonst - Himmel, was war sie geschwächt! Obwohl sie gehofft hatte, dass die gräfliche Entourage von ihrer Unpässlichkeit und von dem Eintreffen der Briesacher Fischer mit ihrem sonderbaren Fund nichts mitbekommen hatten, begegnete sie auf der steilen Treppe nach unten ausgerechnet Rondrigo vom Eisenwalde, dem gräflichen Castellan, der ihr - ganz Kavalier der alten Schule - nach einem einzigen Blick sofort stützend zur Seite eilte und sich bei ihr unterhakte.
"Ach, mein lieber Dom Rondrigo! So schnell sehen wir uns also wieder! Es freut mich von Herzen, das Eurer Suche Erfolg beschieden war und dass Ihr das arme Mädchen wiedergefunden habt. Eurem Herrn und seiner Gemahlin werden Steine vom Herzen fallen! Leider trefft Ihr mich, wie Ihr seht, nicht in bester Verfassung an, was in unserem Alter - in meinem noch viel mehr als in dem Euren - beileibe nichts Ungewöhnliches ist."
Sie zog Griphonis Solaris, das Amulett, das ihr Yusufina aus den Händen der Fischer überbracht hatte, aus den Falten ihres übergeworfenen Morgenmantels hervor und hielt es während des Humpelns so, dass er einen Blick darauf werfen konnte.
"Kennt Ihr noch dieses Amulett? Ihr wart noch ein junger Caballero in Diensten unserer Feinde, der Harmamunds, als Ihr es das letzte Mal gesehen haben dürftet. Es wurde damals von meiner Schwester Leonida getragen, und heute ist es unter sehr sonderbaren Umständen zu mir zurückgekehrt. Ich werde gleich eine präfinale Frau in Augenschein nehmen, bei der man es fand, und die Geweihte von Briesach, die ihr vergeblich zu helfen versuchte, vermutet, dass es sich bei ihren Wunden um die schrecklichen Male eines Dämons handelt." Rondrigo vom Eisenwalde war bei diesen Worten stehen geblieben und starrte sie entsetzt an.
"In Anbetracht des Ortes, an dem wir uns befinden und in Anbetracht der Vita des vormaligen Besitzers dieses Castillos, wäre es mir bedeutend wohler, wenn Ihr mich mit Eurer unerschrockenen Klinge dort hinein begleiten könntet, alter Weggefährte!", blickte Belisetha Dom Rondrigo nun mit ihren noch immer wie Obsidian glänzenden schwarzen Augen an. "Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich fürchte nicht nur, dass nach wie vor ein Dämon von Rakolus dem Schwarzen hier in Schrotenstein sein Unwesen treibt. Ich fürchte fast noch mehr, dass die Frau, die mit dem Dämon kämpfte, niemand anders als die Erbfolgerin unserer Familia ist."
Autor: von Scheffelstein
Aureolus blinzelte, starrte auf die Stufen der hölzernen Stiege hoch über ihm und wusste erst nicht, wo er sich befand. Dann fiel ihm alles wieder ein. Die Dunkle Pforte! Der Dämon! Er war nun irgendwo auf dem Castillo Schrotenstein.
Er musste eingeschlafen sein. Er fühlte sich immer noch müde und ausgelaugt, aber er rappelte sich auf und sah sich erstmals in dem Raum um, in dem er sich befand. Neben der Tür, die er sorgfältig verschlossen hatte, gab es eine Falltür im Boden und eine Treppe nach oben. In der Mitte des Raumes standen ein Sessel und ein Stehpult, an den Wänden reihten sich Regale mit Büchern und Schriftrollen. Ob er hier die gesuchte Thesis finden würde?
Doch bevor er sich ins Studium der Bücher vertiefte, musste er sicherstellen, dass ihn keiner der Burgbewohner plötzlich überraschte. Aureolus nahm seinen Stab auf und stieg langsam die Treppe empor. Sein Bein schmerzte. Die ausgetretenen Stufen knarrten leise unter seinen Füßen.
Durch eine niedrige Tür gelangte der junge Zauberer in die Schlafstube seines Vaters. Auf dem Himmelbett in der Mitte des Raumes lagen Decken und Kissen, gerade so, als wäre Rakolus der Schwarze erst wenige Tage fort. Aureolus strich mit der Hand über den Bettpfosten und fragte sich, ob diese Burg dereinst ihm gehören, ob er jemals Herrscher über Schrotenstein, Bosquirien gar, sein würde. Unwillkürlich musste er an Romina denken. Ob sie noch auf dem Castillo seiner Mutter war? Oder bereits zu Hause in Ragath? Ob sie noch an ihn dachte?
Wir können nicht zusammen sein! Er lehnte die Stirn an den Bettpfosten und seufzte schwer. "Doch", flüsterte er, "warte nur ab! Eines Tages wirst du dich nach mir sehnen, wirst du dir wünschen, meine Hand genommen zu haben."
Er trat an den Kleiderschrank und besah sich die Roben seines Vaters. Samt und Seide, Bausch und Leinen in Schwarz und Grün und Blau, die meisten aufwändig bestickt mit arkanen Symbolen. Aureolus streifte seine Kleider ab und legte ein nachtblaues Seidengewand mit Silberstickereien an. Es war ein wenig lang, aber die Seide war angenehm kühl auf der Haut, und Aureolus gefiel die Vorstellung, seinem Vater nun noch ähnlicher zu sein.
Er stieg die Treppe weiter hinauf und erreichte eine Wohnstube: Samtbezogene Sessel vor einem Kamin, ein Schrank neben einer Abort-Nische, ein Tischchen mit einem aufgeschlagenen Oktav, ein mit einem Tuch verhangener Spiegel. Im Schrank befanden sich einige verkorkte Weinkrüge, ein paar Schälchen mit Nüssen, Salz und Kandis, Silbergeschirr, ein Holzkasten mit Pinseln und Farben, ein paar Kerzen in einem Leuchter und eine Zunderdose.
Aureolus hatte Hunger und Durst, und so holte er einen Weinkrug und die Nüsse aus dem Schrank, goss sich einen Becher ein und machte es sich in einem der Sessel bequem. Er legte die Stiefel auf den Tisch und ließ den Becher lässig in einer Hand kreisen.
"Ich bin der Herrr von Schrotenstein", sagte er selbstgefällig. "Will irgendwer etwas anderes behaupten?" Niemand erhob Einspruch. Aureolus grinste zufrieden, nahm das Buch vom Tisch und begann darin zu blättern. Es war in Bosparano verfasst worden und enthielt allerhand Zeichnungen von Menschen, die zweigesichtige Masken trugen, von einem düsteren Turm, dessen Mauerwerk eine scheußliche Fratze zeigte, von Sternbildern und den Sphärenkugeln. Göttersymbole und Zhayad-Glyphen der Erzdämonen fanden sich auf beinahe jeder Seite. Aureolus schlug das Buch zu. Aequilibritas stand in goldenen Lettern auf dem roten Ledereinband. Der Oktav schien alt zu sein, die Seiten waren vergilbt, das Leder brüchig. Die gesuchte Formel der Zeit würde er darin vermutlich dennoch nicht finden.
Aureolus steckte sich ein paar Nüsse in den Mund und angelte mit seinem Zauberstab nach dem Tuch über dem Spiegel. Zu seinem Erstaunen erblickte er nicht sich selbst im Sessel, sondern einen gänzlich anderen Raum darin – einen Saal. Ein Gemälde? Nein, die Menschen in dem Bild bewegten sich!
Auf einem mit Edelsteinen und Silberornamenten verzierten Thron unter einem blauen Baldachin saß ein junger, blonder Mann in einem schwarzen Brokatwams. Sein bleiches Gesicht mit den tiefen Augenringen lag im Schatten der Krone, die wie eine drückende Last auf seinem leicht gebeugten Kopf saß. Der Mann starrte mit verkniffenem Gesicht auf vier Männer in den Wickelgewändern der Wüstenbewohner, die Aureolus nur von hinten sehen konnte, doch die mit ausschweifender Gestik auf den Gekrönten einredeten.
Hinter dem Thron stand ein anderer Mann in geckenhaft vornehmem Seidenwams, dessen schwarze, anscheinend mit der Brennschere verstärkte Locken bis auf seine Schultern herabfielen. Er hatte ein sorgsam gepudertes Gesicht mit dünnem Schnurr- und Kinnbart und weiche Finger mit gepflegten Nägeln. Überhaupt sah er aus wie jemand, der mehr Zeit mit Sitzen und Essen und Reden verbrachte, als mit Leibesertüchtigungen. Er neigte sich zu dem Mann auf dem Thron hinunter und sprach auf ihn ein. Was er sagte, konnte Aureolus nicht hören, die Lippen bewegten sich lautlos.
War dies ein historisches Bild? Oder zeigte es gar den Kaiser? Aureolus war ihm nie begegnet, überhaupt waren ihm die meisten Magnaten Almadas unbekannt. Und falls dies der Kaiser war: Blickte Aureolus direkt in den Thronsaal, just in diesem Augenblick in die Eslamidenresidenz? Oder war dies nur ein bewegtes Bild, das eine bestimmte Szene zeigte?
Der Kaiser – wenn es dieser war – hob die Augen an die Decke des Saales – eine prächtige Kuppel, an der Bilder von Adlern, Greifen, Vögeln und einem gewaltigen Riesenlindwurm zu sehen waren. Schließlich wedelte er seinen Berater mit unwirscher Handbewegung beiseite, sagte etwas zu den vier Novadis, stieg die Stufen vom Thron herab und verschwand seitlich aus dem Bild.
Aureolus stand auf und hängte das Tuch wieder über den Spiegel. Falls dieser Spiegel ihm wirklich Einblick in den Königssaal zu Punin gewährte – wie konnte er dieses Wissen nutzen?
'Erst einmal musst du deine Schuld bei Mordaza begleichen!', dachte er bitter.
In einer Wandnische führte eine Treppe weiter nach oben. Er musste in einem Turm sein! Von oben drohte ihm wahrscheinlich keine Gefahr, dennoch wollte er sichergehen, dass es hier keine weiteren Zugänge gab.
Er betrat eine hölzerne Plattform. Trotz des hohen Dachstuhls über ihm war es windig, denn in jeder Wand gab es mehrere Schießscharten. Vor einem der Fenster stand ein Teleskop auf einem Dreibein. Aureolus trat an eine andere Schießscharte und blickte hinaus. Auf einem kleineren Turm wehten das Greifenbanner der da Vanyas und das Wappen der Baronie: Ein weißer Schröter über weißem Berg auf grünem Grund. Unter ihm lag der Burghof. Eine ärmlich gekleidete Frau schleppte zwei Wassereimer, ein Mann striegelte eines der Pferde, die vor einem Seitengebäude standen. Ein weiteres Wappen erregte Aureolus Aufmerksamkeit, eine Standarte, die am Eingang des Stalles lehnte: Das Wappen der Grafschaft - ein Geviert von Gold und Purpur mit purpurnen Reben in den goldenen Feldern.
"Romina!", hauchte er. War sie hier? Auf Schrotenstein? Oder waren es weitere Soldaten des Grafen? Nein, sagte sein wild klopfendes Herz, nein, sie war es selbst, sie war hier, er wusste es, spürte es! Konnte das Zufall sein?
Vergessen war aller Stolz, vergessen war alle Vorsicht! Aureolus hastete Treppe um Treppe hinunter. Er musste einen Weg finden, sie zu sehen. Nur einen Augenblick lang, aber er musste Gewissheit haben!
Erst als er die Bibliothek seines Vaters erreicht hatte, mahnte er sich zur Besonnenheit. Er durfte keinen Schergen der da Vanyas in die Arme laufen! Leise entriegelte Aureolus die Falltür und spähte hinab in den darunterliegenden Raum. Offenbar ein Vorratsraum, denn überall türmten sich Säcke, Fässer und Kisten. Aureolus kletterte die breite Stiege hinab und sah sich um. Es gab eine weitere Falltür im Boden und dahinter eine Tür in der Wand. Er entriegelte sie, zog und schob, aber sie ließ sich nicht bewegen. Er besah sich die Scharniere: Sie ging nach außen auf. Noch einmal drückte er gegen das Holz, aber nichts geschah. Ob sie abgeschlossen war? Aureolus sah durch das Schlüsselloch, aber dahinter war es dunkel. Er nahm seine Gewandnadel, steckte sie durch das Schlüsselloch – und stieß bald auf Widerstand. Er versuchte es noch einmal, noch einmal – vergebens! Als er die Nadel zurückzog, rieselte weißer Staub aus dem Loch. Steinstaub! Konnte das sein? Man hatte die Tür zugemauert! Von außen!
Eine schreckliche Ahnung überkam Aureolus. Er zog die Falltür nach unten auf und blickte in lichtlose Schwärze. Da unten gab es bestimmt auch keinen Ausgang. Oder doch? Er musste nachsehen. Sie konnten ihn hier nicht einsperren! Wie sollte er je hier herauskommen? Wenn er zurück durch die dunkle Pforte ginge, wäre der Dämon bestimmt noch da. Und wenn er wartete, bis er wieder bei Kräften war und sich mittels eines Transversalis fort teleportierte, wer sagte dann, dass nicht der Dämon, wenn er so nah war, ihn auch während der wenigen Augenblicke im Limbus überraschte?
"Ich will sie sehen", flüsterte Aureolus zornig. "Ich will sie sehen!" Sie konnten ihm nicht verwehren, nach Romina zu suchen, nachzusehen, ob sie hier war, so nah. Das konnten sie nicht, das durften sie nicht!
Wütend knirschte er mit den Zähnen, ließ die Flamme am Ende seines Stabes entspringen und stieg hinab in die Dunkelheit.
Autor: von Scheffelstein
Düster starrte Romina auf ihren Teller. Die Hausherrin hatte sich entschuldigen lassen, doch die Stimmung an der herrschaftlich gedeckten Tafel war gut. Belisetha da Vanya hatte sich nicht lumpen lassen und man hatte ihren Gästen ein reichhaltiges Frühmahl serviert: Es gab feines Weißbrot und dunkles Roggenbrot, dreierlei Pasteten von Fleisch und Gemüse, zarten Schmelzkäse, Rauchschinken, Honig und Wachteleier, geminztes Quellwasser, Buttermilch und Wein aus dem Yaquirtal.
Alles, was das Herz begehren konnte. Doch Rominas Herz war schwer. Ihre Gedanken waren bei ihrem Onkel. Wo mochte er jetzt sein? Die kleine Zaida versuchte, sie aufzuheitern. Vergeblich. Und so wandte das Mädchen sich dem Knaben Praiodor zu, der sichtlich beeindruckt war von der gräflichen Kriegerschar und von Zaidas abenteuerlichen Geschichten. Nun, da Onkel Gendahar fort war, war es an ihr, Romina, den Knaben in Sicherheit zu bringen.
Ihr Blick fiel auf Golshan, die man am unteren Ende der Tafel neben die gräflichen Knechte und Mägde gesetzt hatte, die den Tross begleiteten. Die Männer und Frauen spotteten über die Wilde, und einige empörten sich über deren nicht vorhandene Manieren. Die Ferkinafrau verschmähte die meisten der Speisen, aß nur Eier und Fleischpastete, schmatzte vernehmlich und wischte sich den Buttermilchbart mit dem Handrücken ab. Irgendwann stand sie einfach auf und verließ den Speisesaal.
Eher widerwillig lauschte Romina den Scherzen der Soldaten. Rondrigo vom Eisenwalde war schon vor einiger Zeit vor die Tür getreten, aber Ardan von Kündoch versuchte nun, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Doch die Plauderei blieb ihr erspart: Golshan kehrte in den Saal zurück und kam geradewegs auf sie zu gelaufen. Einige der Soldaten erhoben sich alarmiert, als die Frau sie am Handgelenk packte und in ihrer rauen Zunge aufgeregt auf sie einsprach. "Achmad'sunni" war das Einzige, was Romina aus dem unverständlichen Wortschwall heraushören konnte. Schließlich gab sie dem Drängen der Ferkina nach und ließ sich von ihr unter den starren Blicken der Gräflichen zur Türe ziehen.
Golshan führte sie geradewegs auf den Burghof hinaus und auf einen der Wehrgänge neben dem oberen Tor. Die Schrotensteiner Soldaten betrachteten die ungleichen Frauen neugierig, verneigten sich jedoch demutsvoll vor der Comtessa und machten ihnen bereitwillig Platz, als sie an die Brüstung traten.
"Achmad'sunni!", rief Golshan mit strahlenden Augen und wies über die Mauern der Burg hinweg nach Osten.
Und wahrlich, da ritten Bewaffnete auf der Straße zur Burg herauf. Romina erkannte die Farben der da Vanyas und andere, die ihr unbekannt waren: Ein schwarzes Banner, darin einen goldenen Turm auf silbernem Berg und dann eine weitere Fahne, ein Geviert aus schwarz und grün: Die Fahne bedeckte einen Körper, der auf einer Bahre lag, die von einem Pferd gezogen wurde. Angeführt wurde der Tross von zwei Frauen in den goldenen Rüstungen der Amazonen. Es waren die beiden, denen sie vor wenigen Tagen vor der Höhle in den Bergen begegnet waren. Die Tochter Domna Rifadas und eine Verbündete.
"Achmad'sunni!", rief Golshan erneut und zupfte Romina am Ärmel, begeistert wie ein kleines Kind. Ihr ganzes Gesicht leuchtete, ihre Augen glänzten, doch Romina konnte die Freude der Frau nicht teilen.
Die, die dort nahten, sahen nicht gut aus: Der alte Ritter unter dem schwarzen Banner konnte sich kaum auf dem Rücken seines Rosses halten, und einige weitere Männer und Frauen schienen verwundet. Die junge da Vanya, die mit bleichem Gesicht voranritt, schwankte im Sattel. Sie hatte die Zähne zusammengebissen und war sichtlich um Haltung bemüht, doch die Linke hatte sie fest um ihren Bauch gepresst. Unter dem Streifenschurz rann Blut an ihren Beinen herab und hinterließ eine Spur auf der staubigen Straße, die selbst von hier oben zu erkennen war.
Autor: von Scheffelstein
Die Flamme seines Zauberstabes tanzte über Steintische und rußgeschwärzte Regale an den Wänden. Über einer längst erkalteten Feuerstelle hing ein gusseiserner Kessel. Auf dem Boden zeichneten sich die silbrigen Linien eines mit Mondsilber ausgelegten Pentagramms ab. Aureolus hielt den Stab höher; das Licht fiel auf verstaubte Flaschen, Krüge und Totenschädel auf den Regalen, auf vertrocknete Kräuter, die von der Decke hingen und – auf Uhren: Sanduhren, Standuhren, Taschenuhren, Sonnenuhren, Astrolabien. Kein Rieseln von Sand, kein Ticken, kein Schlagen: Die Zeit stand still.
Aureolus klappte eine goldene Taschenuhr auf und blickte in sein eigenes Spiegelbild im Deckel. Rings um das filigrane Uhrwerk zog sich eine bosparanische Inschrift, die der junge Zauberer nur mit Mühe entziffern konnte: Nur wer die Zeit beherrscht, herrscht! stand dort in zarten Lettern.
Er steckte die Uhr ein und wandte sich dem großen Steintisch zu, auf dem allerlei alchemistische Apparaturen standen. Ob er hier unten Zaubertränke finden würde oder wenigstens eine Rezeptur, wie sie herzustellen waren? Seine Kräfte waren erschöpft, und er würde eine Menge astraler Macht benötigen, wenn er von hier entkommen wollte – denn einen Ausgang gab es anscheinend auch hier unten nicht – und wenn er zu Mordaza Maraneta zurückkehren musste.
Aureolus' Blick fiel auf ein in grünes Leder gebundenes Buch, dessen Einband mit Mondsilber-Intarsien verziert war – Ornamenten, Drachen und einem Schädel in der Mitte. Aureolus streckte die Hand aus und strich über den verstaubten Einband. Das Metall fühlte sich kühl an, doch als er den Schädel berührte, wurde es wärmer und wärmer, und das Metall zerfloss unter seinen Fingern, bis der Schädel ein silbernes Gesicht zeigte – das Gesicht Rakolus' des Schwarzen.
Aureolus starrte das Bildnis an, unfähig, sich zu rühren. Das Silbergesicht bewegte sich, und Aureolus war, als spüre er Muskeln und Kiefer, die toten Augen richteten sich auf ihn, und das Bild sprach:
"Du bist groß geworden, mein Sohn, und die erste Prüfung hast du gemeistert. Doch ehe du bereit sein wirst, mein Erbe anzutreten, musst du noch viel lernen ..."
"Vater, ich ...", begann Aureolus, doch das Bildnis sprach ungerührt weiter, und so verstummte er.
"Lerne, meine Aufzeichnungen zu lesen. Lerne sorgfältig! Ich werde dir all mein Wissen offenbaren, nach und nach. Wenn du bereit bist, wirst du das Geheimnis deiner Existenz erkennen: Ich habe dir meinen Namen vermacht. Erkenne und nutze ihn, und du wirst auf meine Kraft zurückgreifen können. Ich werde in dir weiterleben, und du wirst mein Werk fortsetzen: Du wirst das Gleichgewicht zwischen den Sphären herstellen! Du wirst die Zeit meistern! Sei der Sohn, den ich erschaffen habe! Enttäusche mich nicht, Aureolus!"
Die Stimme verstummte. Das Metall verformte sich unter Aureolus' Händen, bis ihn erneut ein kalter, regloser Totenschädel aus Mondsilber anglotzte. Aureolus zog die Hand zurück.
"Vater!"
Nichts. Nur die tanzenden Schatten, die seine magische Fackel an die Wände warf.
"Vater! Antwortet mir!", schrie er.
Stille. Als wäre alles nur ein Traum gewesen. Einbildung. Aureolus fröstelte. Eine feine Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. Die Haare in seinem Nacken stellten sich auf.
"Vater!", flüsterte er. "Sprecht mit mir!"
Ein ungeheuerliches Gefühl des Verlusts machte sich in dem jungen Zauberer breit. Wie sehr hatte er sich gewünscht, seinen Vater wiederzusehen, all die Monate und Jahre. Hatte Rakolus der Schwarze ihm diese letzte Botschaft hinterlassen? Aber die Worte waren so kalt, so ohne jedes Mitgefühl gewesen! Enttäusche mich nicht, Aureolus!
Er schlug das Buch auf, blätterte durch die Seiten. Es war in der verschnörkelten Schrift der Elfen geschrieben, Isdira, an manchen Stellen sogar in den alten Asdharia-Zeichen. Isdira beherrschte er kaum, Asdharia gar nicht. Ab und an fanden sich Bilder: Zeichnungen von Sternbildern, Pflanzen, alchemistische Formeln, Wesenheiten, die Aureolus nicht kannte.
Enttäuscht klappte er das Buch zu. Das Vermächtnis seines Vaters – an ihn! Und er konnte es nicht lesen!
Aureolus legte abermals seine Hand auf den Mondsilberschädel. "Vater", flüsterte er, "sprecht zu mir!" Aber das Bild blieb stumm.
Autor: Romina Alba
Romina fluchte leise und versuchte sich zu erinnern, woher die zwei Amazonen gerade kamen. Sie hatte Domna Rifada nie vertraut und sich von ihr entfernt gehalten, nicht nur, aber auch wegen den bösen Blicken, die das Mannweib ihrer Golshan zuwarf. Daher hatte sie nicht erfahren, wohin diese ihre Tochter und deren Begleitung geschickt hatte. Damals war es ihr auch herzlich egal gewesen. Jetzt war es nicht egal, ausserdem galt es zu helfen. Sie drehte sich um und stand vor Leutnant Ardan, der hinter ihr über die Mauer geblickt hatte. Sie blickte irritiert zu ihm auf, natürlich würde er sich zu ihrem Schatten entwickeln, das war typisch für die Tobrier. Sie rollte kurz mit den Augen und lächelte gequält. "Leutnant, gut, dass ihr da seid, sorgt bitte dafür, dass diese Leute in die Burg geholt werden und die Magierin in eurem Gefolge sich um sie kümmert." Ohne Probleme fand sie unter dem forschend besorgten Blick seiner dunklen Augen zu alter Form zurück. Sie war eine Grafentochter und von Klein auf gewohnt Anweisungen zu geben. Daran würde kein Mann und erst recht kein Ferkina etwas ändern.
Von Kündoch sah kurz zu dem kleinen Trupp auf der Zugangsstraße. Dafür sorgen, dass den Leuten da vor der Burg geholfen wurde... Dies ließ sich sicher auch bewerkstelligen, ohne dass er dazu von der Seite seiner Schutzbefohlenen weichen musste. Nach wie vor hatte er ob deren Erlebnisse ein ungutes Gefühl, wenn er sie für längere Zeit aus den Augen lassen sollte. "Natürlich, Comtessa Romina. Ich werde sofort wieder zurück sein." Mit einem kaum merklichen Nicken befahl er zwei seiner Begleiter heran, die in seiner Abwesenheit über die Tochter von Graf Brandil wachen würden. Militärisch korrekt wandte er sich ab und hielt mit schnellen Schritten auf die Maga zu, die zusammen mit einigen anderen Schaulustigen an der Mauer stand. Es bedurfte nur weniger gewechselter Worte und das Gesicht der Frau wurde von Besorgnis überschattet. Gemeinsam mit der Hälfte seiner Mannen machte sie sich auf den Weg, den Verletzten perainegefällig beizustehen.
Noch während die Hilfe auf dem Weg vor die Tore der Burg waren, stand er bereits wieder wie ein Schatten hinter Domna Romina und besah sich wachsam, was dort unten auf der Straße geschah.
Die Gräflichen kamen zusammen mit einigen Mannen der Burgherrin bei den Verletzten an. Die Maga wandte sich an die erste Reitern und neigte höflich ihr Haupt. "Rondra und Hesinde zum Gruß. Ich bin Erisdora von Kündoch Breitenbach, meine Herrin, die Comtessa von Ehrenstein und Streitzig schickt mich, Euch und den Euren zu helfen. Wenn es notwendig ist, kann ich es gleich tun." Der Blick der älteren Frau glitt über die Verletzung und schätzte den Zustand der Kriegerin ein. Einige der Gardisten waren schon abgestiegen, um notfalls zuzulangen, sollte jemand aus dem Sattel fallen.
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