Chronik.Ereignis1033 Feldzug Ferkinalager 04

Im Raschtulswall, 25. Praios 1033 BF

Am Fuße des Djer Kalkarif im Raschtulswall


Autor: von Scheffelstein

Ein Vogel sang. Es war warm. Eine wohlige Müdigkeit breitete sich in ihren Muskeln aus. Richezas Augenlider flatterten. Graues Tageslicht blendete sie. Seufzend schlug sie die Augen auf. Ein junger Mann war über sie gebeugt. Sein langes, blondes Haar flatterte im Wind. Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Er hielt den Kopf gesenkt und summte leise vor sich hin. Lächelnd betrachtete sie die bleiche, ebenmäßige Haut, die Ohren, ein wenig spitzer als sie bei Menschen üblich waren. Neben ihm lag ein Harnisch. Verwundert bemerkte Richeza, dass es die Rüstung einer Frau war. Ihr Blick wanderte zurück zu dem Jüngling. Er trug ein zerschlissenes blaues Hemd, das an den Armen ein wenig zu kurz war. Seine rechte Hand lag auf ihrem Bauch, die linke hatte er unter ihr Hemd geschoben. Seine kühlen Finger ruhten auf ihre Brust.

"Was zum ...?", fuhr sie auf.

"Still!" Er klang verärgert. "Bleib liegen, bis ich fertig bin!"

Alarmiert richtete die Edle sich auf. "Was ...?"

"Kannst du nicht einmal tun, was ich dir sage?", herrschte er sie an und zog die Hände zurück. Als er aufsah, erkannte sie ihn.

"Aureolus von Elenta!"

Ein spöttisches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. "Kommt die Erinnerung zurück, ja?"

Richeza von Scheffelstein blickte sich um. Sie lag auf einem Steinplateau vor einem Höhleneingang. Von einem Strauch in der Nähe flog ein Vogel auf. Ein steiler Pfad führte neben ihr abwärts. Zwischen den Steinen wuchsen Gras und stark duftende, blaue Blumen. Die Rüstung neben dem Bankertsohn der Elenterin war ihre. Etwas abseits lag ihr Rucksack. Von ihrem Säbel war nichts zu sehen. Dies war nicht der Ort, an dem sie gestürzt war, nicht der, an dem der junge Mann sie gefunden hatte. Wie, um alle Welt, hatte er sie hierher getragen? Und warum?

"Was machst ... macht Ihr hier?", fragte sie misstrauisch. "Wieso versteckt Ihr Euch in den Bergen? Warum seid Ihr damals aus Fer Henna geflohen?"

Seine beunruhigenden gold-glänzenden Augen starrten sie an. "Du weisst genau, wieso."

"Nein. Wir ..."

"Dein tumber Begleiter hatte nichts anderes vor, als mich an die Feinde meines Vaters auszuliefern." Seine Stimme war eisig.

Seines Vaters. Er gab es also zu? Nun ja, das war schon lange kein Geheimnis mehr.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er: "Und du ... hattest nichts Besseres zu tun, als ganz Almada meinen Namen zu verraten. Selbst die Schreiberlinge dieses Puniner Schmierenblattes haben sich das Maul über mich zerrissen ..."

"Du nimmst dich zu wichtig, Bursche", erwiderte Richeza kühl, wieder auf alle Höflichkeit verzichtend, da er die Dreistigkeit besaß, sie zu duzen. "Ich habe niemandem von dir verraten. Du interessierst mich gar nicht. Es war dein Vater selbst, der Dom Rafik ..."

"Schweig!", fuhr er zornig auf, und seine Augen blitzten. Ein Flammenring kränzte seine Iris. Dies waren nicht die Augen eines Menschen, dachte Richeza und unterdrückte ein Schaudern.

"Also gut", sagte sie und streckte die Schultern. Alle Schmerzen waren verschwunden. Ja, sie fühlte sich so frisch und ausgeruht wie seit vielen Tagen nicht mehr. Selbst ihre Füße waren warm. "Ich muss dir wohl danken, dass du mich geheilt hast."

Er lächelte überlegen. "Reiner Eigennutz, Teuerste. Versehrt nutzt du mir nichts." Er stand auf und ging zu ihrem Rucksack, wühlte darin herum und zog das Stück Seil hervor, das sie hatte retten können.

"Was soll das? Bleib von meinen Sachen fern!" Sie sprang auf.

Er drehte sich langsam um, kam auf sie zu. Seine blassen, länglichen Finger streichelten das Seil in seinen Händen. Sein Lächeln entsprang den Niederhöllen. Richezas Nackenhaare stellten sich auf. Ihre Hand zuckte in Richtung ihres Stiefels ...

Seine Lippen bewegten sich. "Wehr dich nicht!", rief er. Erneut funkelten seine Augen in überderischem Licht.

Richeza verharrte mitten in der Bewegung, beobachtete, wie ihr Arm sich senkte, die Finger sich öffneten, merkte, wie ihre Muskeln sich entspannten, ihr Atem ruhiger ging. Nur ihre Nackenhaare sträubten sich noch immer. Schweiß brach ihr aus und lief in kleinen Rinnsaalen an ihren Armen und zwischen ihren Brüsten herab. Eine feine Gänsehaut bedeckte ihre Arme, während sie ruhig hinnahm, das der Junge ihre Arme hinter ihren Rücken zog und ihre Hände fesselte.

"Setz dich!", sagte er sanft. Sie konnte sein Lächeln in ihrem Nacken spüren.

Ihre Finger zitterten leicht, ihre Lippen zuckten, aber sie gehorchte, mechanisch, als sei sie eine der Puppen aus dem Süden Aventuriens, die Puppenspieler an Fäden tanzen lassen konnten.

Er kniete vor ihr nieder, band das andere Ende des Seiles um ihre Füße und zog es fest.

"Was machst du da? Was soll das?", fragte Richeza. Ihre Stimme bebte, aber ihr Herz schlug langsam und gleichmäßig. Es war, als stritten zwei Mächte in ihrem Körper um die Vorherrschaft, sie aber war nur Zuschauerin.

"Du bekommst jetzt, was du verdienst, Verräterin", sagte er. "Und ich bekomme, was mir lieb und teuer ist."

Seine Stimme schmeichelte ihren Ohren, doch eine unbestimmte Angst kroch in Richezas Glieder. "Was hast du mit mir vor?" Ein Fluch erstarb in ihren Gedanken, schmolz dahin wie Schnee in der Sonne. "Wir haben dich befreit. Dich und deine Mutter. Ich habe euch befreit. Ohne mich wärt ihr tot oder Schlimmeres! Die Ferkinas hätten euch sicher nicht gehen lassen." Sie war erstaunt, wie weinerlich ihre Stimme klang.

"Nein, nicht wahr?", fragte er heiser. Als er aufstand, schwankte er leicht. Sein ohnehin bleiches Gesicht wirkte blutleer. Mit einem Zipfel des Umhangs wischte er sich den Schweiß von der Stirn. "Sie sind nicht dafür bekannt, ihre Gefangenen gehen zu lassen." Er zog eine Metallphiole unter dem Umhang hervor, entkorkte es mit den Zähnen und leerte den Inhalt mit zurückgelegtem Kopf in seinen Mund, schüttelte noch den letzten Tropfen heraus und leckte sich über die Lippen. Achtlos warf er das Fläschchen fort. Die Farbe kehrte in seinen Lippen zurück, nicht aber in sein Gesicht, das weiterhin seine ungesunde Farbe behielt. Für einen Knaben seines Alters hatte er fast mädchenhaft weiche Züge, auch die langen Wimpern und das seidige Haar wirkten nicht sehr männlich. Allein die hohen Wangenknochen und das markante Kinn verliehen dem bartlosen Gesicht eine Schärfe, die bei Frauen selten zu finden war. 'Elfisches Erbe', dachte Richeza. Für einen Elfen aber war er zu klein und hatte zu breite Schultern.

"Aber sei unbesorgt", fuhr er fort. "Um ihre weiblichen Gäste kümmern sie sich sehr rührig. Lassen ihnen alle Aufmerksamkeit zuteil werden, die eine Frau sich nur wünschen kann. Es wird dir an nichts fehlen."

Er beugte sich über sie, nahm ihr Kinn in die Rechte, spuckte sich auf die Finger der anderen Hand und wischte in ihrem Gesicht herum, betrachtete sie und strich ihr einige Strähnen aus der Stirn. Nicht grob und doch irgendwie unbeholfen, wie ein Junge, der noch nie eine Frau angefasst hatte.

"Du willst mich den Ferkinas vorwerfen." Eine Feststellung. Keine Frage. Doch in ihrem Innern regte sich Übelkeit. Etwas in ihr wehrte sich gegen die Gleichgültigkeit, mit der sie sich seinem Willen fügte.

"Vorwerfen." Er lachte. Mit einem Mal kehrte der Spott in seine Augen zurück. "Aber nein. Ich habe ihnen nur einen kleinen Tausch vorzuschlagen. Sie kriegen die Hure, die sie haben wollen. Und ich bekomme die Prinzessin, die für sie viel zu schade ist. So." Er stieß mit dem Stiefel gegen ihre Schulter, sodass sie umkippte wie ein Getreidesack. "Nicht weglaufen. Ich bin bald wieder zurück."

Er hob seinen Stecken vom Boden auf und nickte ihr zu. Gleichmütig sah sie ihm nach, bis er um die Biegung des Weges verschwunden war.



Chronik:1033
Der Ferkina-Feldzug
Teil 04