Chronik.Ereignis1036 Besuch im Vanyadâl 06

Kaiserlich Selaque, 1. Tsa 1036 BF

Zwischen Elenta und San Owilmar

Autor: SteveT


Als sich Rifada am nächsten Morgen etwas steif von der unbequemen Bettstatt der Bauersleute erhob und ankleidete, nahm sie Belisethas aufgeregte Rufe, der Yaquirtaler Magus sei über Nacht verschwunden, mit amazonischer Gelassenheit hin. "Und wenn schon?", fragte sie ihre Muhme unbeeindruckt. "Kurz vor Ragath hätte ich ihm ohnehin die Abzweigung in Richtung Süden gewiesen. Was wollen wir hier mit so einem?"

Sie gürtete ihr Schwert um, einen stattlichen Anderthalbhänder, den sie nötigenfalls auch mit nur einer Hand zu führen verstand, und besah sich den momentan nur noch ganz leichten Schneefall draußen, der aber über Nacht doch für eine spannhohe weiße Leichendecke über der ganzen Landschaft gesorgt hatte. Glücklicherweise war der Verlauf der Landstrasse aufgrund der immer wieder einmal aus dem blendenden Weiß aufragenden Begrenzungssteine doch noch einigermaßen zu erkennen, denn querfeldein durch die von Hasen und Erdmännchen unterhöhlte Elentinische Ebene oder den Valenca-Grund zu reiten, konnten ihre Pferde leicht mit gebrochenen Beinen bezahlen.

"Wir reiten weiter!", befahl Rifada, ohne einen weiteren Gedanken an den verlustig gegangenen Zauberer zu verschwenden. "Heute Mittag wollen wir in San Owilmar und abends in Burginum oder vielleicht sogar in Quazzano sein!"

Sie wusste, das Letzteres illusorisch war, solange Belisetha im Damensitz auf einem kräftigen Zelter langsam hinter ihnen her zuckelte und somit das Tempo ihrer ganzen Reisegruppe drosselte. Nur mit Richeza alleine und bei ganz trockenem Wetter hätten sie es heute bis ins Herz der Mark Ragathsquell schaffen können. Rifada beklagte sich aber nicht, denn für ihr stolzes Alter und ihre Gebrechen war Belisetha noch immer eine stolze zähe Frau, die auf die Zähne beißen konnte, wenn es vonnöten war.

Rifada dachte bereits an San Owilmar, während sie durch die blendend weiße Landschaft vorwärts ritten - im Laufe des Morgens zeigte sich sogar das Praiosrund am zart grauen Himmel, der zunehmend aufklarte und der ganzen Szenerie sogar eine gewisse Schönheit verlieh, da man im baumlosen und hügelarmen Norden Selaques viele Meilen weit die Landschaft überblicken konnte. Der Stenz Azzato von San Owilmar, Praiosmins Gespiele, den sie seit den Monden des Ferkinasturms wie seinen Lehnsherrn, den verschollenen Junker Ordonyo di Alina, zu ihren Blutfeinden zählen musste, machte ihr keine großen Sorgen. Er war ein weniger guter Kämpfer, als er selbst von sich glaubte, und dürfte auch nicht über mehr als zwei bis drei Büttel verfügen, sodass sie es wagen konnten, mitten am Tag durch seinen lächerlichen Weiler hindurch zu reiten, durch den eben die Landstrasse nach Burginum führte.

Kurz vor San Owilmar wurde Rifada von einer ihrer Geleitreiterinnen darauf aufmerksam gemacht, dass sie ein dunkel gewandeter Reiter mit einigen Meilen Abstand verfolgte. Sie beschirmte ihre geblendeten Augen mit der flachen Hand und spähte blinzelnd in die Richtung des Wegstücks, das bereits hinter ihnen lag, und tatsächlich näherte sich dort ein einzelner Reiter in geschwindem Ritt, sodass sein Pferd Schneewolken hinter sich aufwirbelte.

"Ich hab leider keine Ucurisaugen mehr - aber wenn mich nicht alles täuscht, ist das der Yaquirtaler, der uns offenbar so ins Herz geschlossen hat, dass er wie eine Klette an uns klebt." Sie wandte sich an Richeza: "Bist du sicher, ihn nicht doch von irgendwoher näher zu kennen?"

Sie ließ die Gruppe aber weiter reiten, denn wenn das Ross des Yaquirtalers dieses Tempo durchhielt - und er selbst war ja nur ein Leichtgewicht - würde er sie eh kurz hinter dem Ort eingeholt haben. Der Weiler San Owilmar glich einem Geisterdorf, kein Mensch war auf der Straße zu sehen - nur ein Hund, ein Schwein und ein paar Hühner im Schnee ließen erahnen, dass der Flecken in Wirklichkeit keineswegs verlassen war. Rifada hatte die Hand am Schwertknauf und behielt aufmerksam die Fenster der kärglichen Hütten im Auge. Sie spürte instinktiv, dass sie aus der einen oder anderen beobachtet wurden. Aber wahrscheinlich hielten sie die furchtsamen Eigenhörigen einfach nur für durchziehende Mercenarios oder dergleichen. Azzato von San Owilmar residierte auf einem zum Caballerogut umgebauten Bauernhof etwas ausserhalb des Dorfes, wie sie aus früheren Besuchen wusste.


Autor: von Scheffelstein

Richeza hatte die Hand über die Augen gehoben und starrte angestrengt in Richtung des nahenden Reiters. Seit einer halben Stunde war ihr speiübel, und nur, indem sie sich auf ihren Atem konzentrierte, langsam ein- und langsamer noch ausatmete, konnte sie die Galle zurückhalten, die bitter in ihre Kehle stieg. Richeza schluckte, merkte, wie immer mehr Speichel in ihren Mund floss. Belisetha durfte nichts merken! Sie hatte sie den ganzen Morgen über beobachtet! Der Schnee blendete Richeza. Am liebsten wäre sie abgestiegen, hätte sich übergeben und sich dann dort, irgendwo in einem der Häuser, zur Ruhe gelegt.

"Das ist er nicht", presste sie hervor. "Ist eine ... Frau." Ihr Magen revoltierte, Schweiß brach ihr aus. "Seh' mal nach", murmelte sie, gab ihrem Pferd die Hacken zu spüren, trieb es dem Reiter entgegen, dann aber vom Weg ab, zwischen den Häusern hindurch und den Hügel hinab, durch den tiefen Schnee, bis sie glaubte, von der Dorfstraße aus nicht mehr gesehen zu werden. Sie ließ sich vom Pferd gleiten, würgte schon, noch ehe sie den Boden erreichte, erbrach sie in den Schnee, blieb stöhnend knien, erbrach sich erneut und ein drittes und viertes Mal, bis der Haferbrei graugelbe Klumpen im Schnee bildete, die langsam gefroren, und nur noch saurer Speichel über ihr Kinn rann.

Zitternd kroch Richeza zwei Schritt weiter, ließ sich gegen den Stamm eines Baumes sinken, der seine knorrigen Äste in den wolkenverhangenen Himmel streckte. Benommen beobachtete sie, wie die Reiterin die ersten Häuser des Dorfes erreichte und aus ihrem Gesichtsfeld verschwand. Ihr Blick wanderte zurück, die Straße entlang. Niemand. War die Frau allein?


Autor: von Scheffelstein

Die fremde Reiterin näherte sich den da Vanyas und ihren Begleiterinnen furchtlos, zunächst in gestrecktrem Galopp, ließ das Pferd aber bei Erreichen des Ortes in Trab fallen. Erst, als zwei der Gardereiterinnen zurückfielen und die Waffen zogen, zügelte sie das Tier.

Die Frau war einfach gekleidet, trug einen zerlumpten Mantel. Ihr Gesicht, unter der Kapuze, war gerötet. Sie war jung, keine zwanzig Jahre alt.

"Herrin!", rief sie, ohne die Bewaffneten zu beachten, während das schwer atmende Pferd am Zügel auf der Stelle tänzelte. "Herrin, sie haben ihn, Euren Begleiter!" Sie klopfte dem Pferd auf den Hals, um es zu beruhigen. "Muss in der Nacht gewesen sein. Ist vor unserm Haus zusammengebrochen! Hab' ihn am Morgen gesehen, ich die Fenster auf, und da lag er! Die Großmutter so: Geh raus, ihm helfen! Aber dann: drei Männer, Bewaffnete aus dem alten Herrenhaus, das von dem Ucurian, dem Elenta, der wo von den Ferkinas, Ihr wisst schon. Sie haben ihn mitgenommen!" Das Pferd schnaufte noch immer, sein Fell dampfte schweißnass in der eisigen Luft. "Ham ihn getreten, überall Blut! Die so: So geht's jedem, der der da-Vanya-Fo... ääh... ähh... da Vanya ... also, der mit der Verräterin – hat der Mann gesagt – gemeinsame Sache macht. Großmutter so: Julenya, reit los, die Herrin warnen! Hält große Stücke auf Euch, Großmutter, nich' auf die Vogtin! Ich gleich los, und hier bin ich!"


Autor: SteveT

Rifada nickte dem Mädchen anerkennend zu. "Meinen Dank! Das war sehr mutig von dir! Richte deiner Großmutter aus, dass ich solche Fellachentreue schätze und in Erinnerung behalten werde! Aber der Mann, denn sie gefangen haben, gehört nicht zu uns. Er reiste nur zufällig in dieselbe Richtung ..."

Sie strich sich nachdenklich über das Kinn. Da hatte sich der Yaquirtaler unwissentlich in eine prekäre Lage gebracht – und das auf ihrem Grund und Boden! Die Elenterin warf ihr also erneut den Fehdehandschuh hin, beziehungsweise auch für sie war diese Querella noch lange nicht abgeschlossen. Sie ließ sie ganz offensichtlich bespitzeln. Sie war hin- und her gerissen zwischen dem Drang, sofort zurückzureiten und die Angelegenheit auf der Stelle zu klären und dem Wunsch andererseits, Belisetha an einen sicheren Ort mit ausreichend großem Abstand zu schaffen, sodass sie ihr bei ihren Racheplänen nicht in die Quere kommen konnte. Dazu die Sache mit Richeza und dem Kind ... alles war widerlich verzwickt! Wo steckte diese überhaupt?

"Einen Moment noch!", rief sie der Bauerstochter Julenya hinterher: "Ist dir gerade auf dem Weg hierher nicht eine der unseren entgegengekommen? Die Frau, mit der ich in der Kammer deiner Eltern übernachtet habe?"

"Bedauere, Euer Wohlgeboren! Es ist mir gar niemand entgegengekommen – die ganze Straße und das Dorf hier sind wie ausgestorben ...", schüttelte das Fellachenkind den Kopf.

"Reitet weiter in Richtung Burginum!", befahl Rifada leise ihren Reiterinnen und schloß darin mit beredsamen Blicken mit ein, dass diese auch Belisetha weiter nordwestwärts aus dem Ort eskortieren sollten. "Es wäre zu gefährlich, hier zu rasten. Man ist uns nicht wohlgesonnen! Ich suche meine Nichte und schließe dann wieder zu euch auf!"

"Ich suche Richeza!", beschied sie Belisetha knapp und wandte ihr Pferd in Richtung des südöstlichen Ortsausgangs. Weit konnte sie in der kurzen Zeitspanne ja nicht gekommen sein, möglicherweise hatte sie noch nicht einmal den Ort verlassen. Andernfalls würde sie sie in der Weite der Elentinischen Ebene auch auf meilenweite Entfernung sehen. Die einzige Reiterin, die sie aber weit und breit erkennen konnte, war die heimkehrende Bauerstochter. Rifada wendete ihr Pferd also wieder am Ortsausgang und zog ihr Schwert. Wenn der Hund Azzato von San Owilmar dahintersteckte und Richeza nur ein Haar gekrümmt wurde, dann würde sie ihn in Stücke hauen, so viel war sicher – selbst wenn es die letzte Tat ihres Lebens sein sollte ...


Autor: von Scheffelstein

Jetzt, da ihr Magen leer war, ging es Richeza gleich besser. Die Schneeflocken, die sich auf ihr Gesicht setzten, belebten sie, der Boden aber wurde langsam kalt.

Die Reiterin kam zurück, ritt eilends die Straße wieder in Richtung Elenta hinunter. Kurz darauf erschien auch Rifada da Vanya am Ausgang des Dorfes, allein, zu Pferd, die Waffe gezogen. Suchte sie sie? Und wo war Belisetha? Richeza rappelte sich auf und wollte rufen, auch wenn der Wind aus Richtung des Dorfes kam und nicht sicher war, ob ihre Tante sie hören würde, da der Schnee alle Geräusche dämpfte. Eine plötzliche Bewegung in ihrem Augenwinkel ließ sie stattdessen herumfahren.

Ein Mann näherte sich ihr, in einem weißen, zerschlissenen Gewand, das ihn kaum abhob von den verschneiten Hügeln. Er taumelte auf sie zu wie ein Betrunkener. Vielleicht war er auch verletzt? Sein schwarzes Haar hing ihm strähnig ins Gesicht.

Richeza wandte den Kopf in Richtung Straße, aber von ihrer Tante war nichts mehr zu sehen, sie musste zwischen den Hügeln verschwunden sein.

"Hola?", rief Richeza in Richtung des Mannes. "Wer seid Ihr?"

Der Fremde antwortete nicht, torkelte weiter auf sie zu. Er musste sehr betrunken oder schwer verletzt sein. Und er hatte keine Schuhe an. Richezas Nackenhaare stellten sich auf, und sie zog den Raifedegen. Ihr Pferd blähte witternd die Nüstern, stapfte unruhig im tiefen Schnee. Richeza streckte die Hand nach den Zügeln aus, doch es wich zurück, schnaubte.

Der Mann kam noch immer näher. "HALT!", rief Richeza und streckte die Waffe aus. Das Pferd wieherte und trabte davon. "HALT!", rief die Edle nun auch in Richtung des Tieres, fluchte, wandte sich wieder dem Fremden zu, der geradewegs auf die Waffe zuhielt. Reflexartig riss Richeza den Degen hoch, erwischte den Fremden am Arm. Die Klinge schnitt durch das Leinenhemd, traf auf einen Knochen, fuhr auf der anderen Seite des Armes wieder heraus, durchtrennte Muskeln und Sehnen. Der Mann gab keinen Ton von sich. An der Klinge klebte kein Blut.

Richeza schrie, taumelte zurück, doch da streckte der Fremde die Hände aus, griff nach ihrem Arm, riss an der Klinge, riss sie ihr aus der Hand, auch wenn er sich schnitt, auch wenn zwei seiner Finger abgetrennt und blutlos zu Boden fielen. Abermals schrie Richeza auf, gellend, in ungläubiger Furcht, als die verstümmelte Hand ihr ins Gesicht griff, die zweite sich um ihren Hals legte, die scharfkantigen Fingernägel ihre Haut ritzten.

Sie umfasste beide Arme des Fremden, wollte ihn von sich stoßen, stolperte stattdessen im tiefen Schnee, und wurde unter seinem Gewicht begraben. Strampelnd versanken sie tiefer im Schnee. Fäulnis schlug ihr aus seinem Gesicht entgegen, einem fahlen, blutlosen Gesicht mit eingefallenen, toten Augen.

Schreiend angelte Richeza nach dem Dolch in ihrem Stiefel. Einhändig versuchte sie, die Kreatur von sich zu halten, stach wieder und wieder in den Rücken des Fremden, durch dessen dünnes Gewand hart seine Knochen in ihre Beine, ihren Bauch, ihre Brust drückten und dessen Hände sich immer fester um ihre Kehle schlossen, bis ihr Schreien nur noch ein Röcheln war und ihr Kopf tiefer und tiefer im Schnee versank.

War das das Ende? Sie dachte an den, den sie liebte, dachte an das Kind, das ohne sie nicht leben würde, und mit einer letzten, verzweifelten Kraft trieb sie den Dolch tief in den Schädel des Monsters, durch die Schläfe, das Auge, mitten hinein in den Kopf, bis der Griff um ihren Hals sich etwas löste und der Tote auf ihr zusammensank.