Chronik.Ereignis1044 Ein Großer ist ins Licht gegangen 03

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Punin, Peraine 1044 BF

Vor der Gilbornshalle (kurz vor der Mittagsstunde)

Autor: vivar

Delilah Dhachmani de Vivar atmete erleichtert auf. Endlich war die Spitze der Prozession in den offenen Toren der Gilbornshalle verschwunden. Das bedeutete, dass sie selbst, ihr Gatte Rondrigo de Braast und die drei Kinder endlich unter den weitläufigen Säulenumgang des Tempels gelangen konnten, welcher kühlenden Schatten versprach. Es war über zehn Götterläufe her, seit sie das letzte Mal einen Sommer in der Capitale verbracht hatte. Früher hatte ihr die drückende Schwüle in Punins Gassen nichts ausgemacht. Nun aber hatte sie sich wohl an die kühleren Temperaturen des Tosch Mur gewöhnt und hatte zuletzt nur während der Tristeza im Palacio Vivar in Tiefenbrunn geweilt. Zehn Götterläufe! Zehn Götterläufe seit dem Mord an Mamá. Zehn Götterläufe, in denen Abu wie ein Schatten durch den Palacio geisterte und sein Lächeln nur zurückgewann, wenn er mit seinen Enkeln spielen konnte. Zehn Götterläufe Freiheit von Seiner Kaiserlichen Majestät. Zehn Götterläufe an der Seite Dom Rondrigos. Mit fünf Geburten, die sie durchstanden hatte. Der Fächer in ihrer Linke bebte leicht.

Der Prozessionszug war, seit er heute morgen bei Sonnenaufgang außerhalb Unter-Punins aufgebrochen und bald darauf durch das Vinsalter Tor in die Capitale eingezogen war, nur mit der Geschwindigkeit einer Weinbergschnecke vorangekommen – so groß war die Zahl der Einwohner Punins, die sich entlang der Strecke drängten. Viele aus tiefer Praiosfurcht, manche aus Geschäftssinn, die meisten aber gewiss, um die hochwürdigsten und hochgeborensten Herrschaften zu begaffen, die dem Großinquisitor und Fürstenspross Amando Laconda da Vanya in seinem prunkvoll mit goldenen Einlegearbeiten verzierten Sarg das letzte Geleit gaben.

Dieser, auf einer mit langen Balken versehenen Blattform verankert und von zwölf baumstarken Inquisitionsräten geschultert, hatte die Spitze gebildet. Direkt im Anschluss war die offene Sänfte des Heliodan gefolgt. Der greise Bote des Lichts hatte hin und wieder die zittrige Hand nach links und rechts erhoben, um segnend den Sonnenkreis zu zeichnen. Eine Kohorte Sonnengardisten in blinkenden Harnischen, Spiegelschilden und Hellebarden bewachte Sarg und Boten des Lichts. Danach war eine für Maestra Delilah unzählbare große, in Wirklichkeit aber genau nach Rang und Weihegrad geordnete Menge an Luminifacti, Illuminati, Custodes Lumini, Luminiferi und so weiter in ihren weißgüldenen Gewändern vorbeigezogen, die lobpreisende Choräle auf den Sonnenfürsten erschallen ließen. Durchaus gekonnt, wie Maestra Delilahs musikalisches Ohr zufrieden feststellte. Danach Geweihte anderer Kirchen. Während des Zuges all dieser heiligen Männer und Frauen allein hatte der Lange Rafik zweimal geschlagen.

Erst dann waren das Rossbanner und direkt dahinter ein weiterer Greis, Seine Durchlaucht der Almadanerfürst, gefolgt, allerdings zu Pferde. Diesem waren die Königinwitwe Tulameth, - in einer Sänfte – sowie zu Pferde die gräflichen Schwager Brandil von Ragath und Gendahar von Yaquirtal gefolgt, gemeinsam mit der Gräfin Gerone von der Südpforte, Delilahs eigener Schwägerin, ihrem Bruder Amando, dem Kanzler und den übrigen Cronräten. Amando hatte bereits beim Morgenmahl im Palacio Vivar mit stolzgeschwellter Brust die Goldkette, die ihn als Cronrat auszeichnete, präsentiert. Sie hatte ihn dafür gehasst und wütend angefaucht, aber er hatte nur selbstgefällig gegrinst. Immer dann, wenn León, der strahlende, der weitgereiste, der von Rahja geküsste León in Schwierigkeiten war, fühlte ihr ältester Bruder sich am wohlsten in seiner Haut. Dann kamen seine Tugenden zum Tragen. Diese waren Beständigkeit, Verlässlichkeit, Mäßigung, häusliches Glück und wirtschaftlicher Erfolg – oder wie Delilah sie nannte: Langweilerei, Inflexibilität, Farblosigkeit, Trimalchismus und Habsucht. Und dass León in Schwierigkeiten war, daran bestand für Domna Delilah kein Zweifel.

Wäre er sonst nicht auf seiner edlen Rappstute unter den Magnaten vierschildriger Abkunft, die den Cronräten folgten, gewesen? Wäre er nicht direkt hinter den Ragatiern geritten, welche sich um Baron Lucrann da Vanya, den Neffen des Verstorbenen und dessen Gattin Domna Richeza, die Junkerin von Vanyadâl, scharten? Oder hätte er Dom Ranudo di Dalias, Baron von Nemento, der frömmelnd die Hände gen Alveran gefaltet hatte, und den Yaquirtalern, mit spöttischem Lächeln den Vorritt gelassen? Hätte er nicht die Waldwachter Magnatenschaft, der auch die Baronin von Flogglond, Fhadim-Evora von Viryamun, Vetter Franco, der Baron von Bangour, die junge Baronin von Jennbach, Leonora Karinor vom Berg, Dom Leóns ehemalige Knappin und viele weitere angehörten, angeführt? Hätte er nicht huldvoll gelächelt, Augenzwinkern und Kusshände verteilt, als wäre er eine junge, rahjanische Version des Boten des Lichts, welche Wärme und Licht in die ihm zufliegenden Herzen der an der Strecke stehenden Domnas und Domnatellas trug?

Maestra Delilahs Rechte krampfte sich um den Arm ihres Gatten. Der Edle zu Deokrath, der noch ohne Magnatenwürde war und als Mitglied der Nobleza wie sie im vierten Abschnitt des Prozessionszugs seinen Platz hatte, runzelte die Stirn und blickte sie aus seinen blassblauen Augen an. „Was ist, mein Herz?“ frug er.

Schnell hob sie den Fächer vor den Mund und murmelte: „Mir will León nicht aus dem Kopf.“

Der Deokrather blickte um sich. Die Prozession der Nobleza war zum Stillstand gekommen und begann, sich im Schatten des Tempels in ein Gewirr von Pferden, Berittenen, Kutschen und Bediensteten zu verwandeln. „Das geht vielen aus deinem Geschlecht so“, brummte er schließlich und fing sich einen funkelnden Blick und einen Schlag mit dem Fächer ein, der daraufhin sofort wieder aufgeklappt wurde.

„Sprich nicht so von ihm!“, schalt sie ihn. „Ich mache mir Sorgen. Beinahe ein Jahr ist es her, dass er spurlos verschwunden ist! Er ist nicht in Punin, nicht im Taubental, nicht in Dâl. Dass Domna Gerone nicht gram vor Sorge wird?“

„Das… ist nicht ihre Art“, erwiderte Dom Rondrigo zögernd und tätschelte seinem Ross, das nun zum Stehen gekommen war, den Hals. Schließlich fügte er hinzu: „Und ich weiß nicht, ob sie ihn tatsächlich vermisst. Aber um Leo und Avelina ist es ihr gewiss arg.“ Er drehte sich im Sattel um und blickte zu den beiden Grafenkindern, einem Knaben von sechs und einem Mädchen von knapp drei Jahren, die gemeinsam mit ihren jüngeren Basen und Vettern aus den Familias Vivar und Braast in einer offenen Karosse saßen. Leomar Rondrigo vom Berg y Vivar betrachtete stumm und aufmerksam mit seinen dunklen Augen die Reiter, Wimpel und Wappen um sich herum. Avelina Madalena vom Berg y Vivar saß auf dem Schoß ihrer Tante Rahiada, Delilahs Schwester, und versuchte mit den kleinen Händen eine von den Perlen, die sich diese ins Haar gesteckt hatte, zu erhaschen. Domna Rahiada wies die Kleine immer wieder sanft, aber bestimmt in die Schranken der Cortezia. „Wie soll Domna Gerone das Regiment der Grafschaft führen, wenn ihr Gemahl nicht für die Kinder da ist? Weißt du, ich habe mir schon gedacht: Vielleicht ist es das, wovor León davongelaufen ist? Die Aussicht auf eine Zukunft als Trimalchiojünger am Grafenhof von Dâl. Es sieht ihm doch nicht unähnlich, dass er sich nach der Erledigung der gröbsten Pflichten aus der Höhle der Löwin davonstiehlt – und vermutlich in Begleitung eines jungen Schmusekätzchens…“

„Pfui über dich, Rondrigo, dass du so über meinen Bruder und Soberan denkst! Sein Ehebund mag nicht von Rahja gesegnet sein. Doch dann hätte er sich ins Taubental zurückziehen können – wo er beim diesjährigen Fest der Santa Catalina nicht erschienen ist, sehr zum Bedauern der Äbtissin. Oder hierher nach Tiefenbrunn zu Abu, ich meine, zu meinem Vater – der hätte sich über Gesellschaft gefreut. Ich bin mir sicher: León hat sich nicht davongestohlen, sonst hätte er jemanden – hätte er mich eingeweiht.“ Sie fächelte sich Luft zu. ‚Das hätte er gewiss getan‘, sagte eine Stimme in ihrem Herzen. Die beiden Geschwister hatten sich früher alles anvertraut. ‚Ja, aber das war früher‘, sagte eine andere Stimme in ihrem Kopf.

„Ja, aber was soll dann geschehen sein?“, murmelte Dom Rondrigo und zwirbelte sich nachdenklich den Kaiser-Alrik-Schnauzer. „Hat sich die Erde aufgetan, wie einst, als der alte Kornulf verschwunden ist? Hat ihn der Faraldur geholt? Wurde er von Elfen entführt? Stecken die Alstinger wieder dahinter? Oder das Mondgesicht von Al'Kasim? Oder die Culmings?“ Er kniff die Augen zusammen und spähte suchend umher.

Maestra Delilahs Fächer erhöhte die Schlagzahl. „Möglich wär’s“, sprach sie, unwillkürlich die Stimme senkend. „In dem Brief, den Abu mir schrieb, erwähnte er, dass León und der alte Sadiq Ende letzten Jahres sich zu einer Pferdeschau oder einem Pferderennen in die Valguzia aufgemacht hätten und davon nicht mehr zurückgekehrt seien. Er schrieb nicht, welcher Ort es war, aber –“

Dom Rondrigo zog pfeifend die Luft ein. „Pferderennen, sagtest du? Wart, da stand doch etwas im Yaquirblick! Senkeltal? Seltertal?“ Er hämmerte sich mit der Faust gegen die Stirn. „Selkethal!“, rief er schließlich aus.