Chronik.Ereignis1036 Besuch im Vanyadâl 12
Mark Ragathsquell, 2. Tsa 1036 BF
Junkergut Aranjuez, vormittags
Autor: SteveT
Rifada da Vanya ließ das ihr fremde Ross in raschem Schritt über die unebenen, schneebedeckten Bauschfelder und Rübenäcker der Mark Ragatshquell traben. Gen Rahja ging über den dräuenden Gipfeln des Raschtulswalls gerade eben die Sonne auf, fächerte ihre Strahlen milchig-weiß hinter Schneewolken über die silbrig umrahmte Silhouette der grünschwarzen Gipfel. Sie hatte aber nur hin und wieder einen kurzen Blick für die Schönheit der Szenerie, denn sie kannte den Anblick von Kindesbeinen an, und noch immer arbeitete die Wut über die dreiste Pferdediebin heiß in ihr. Wenn sie diese Rahjelinde noch einmal irgendwo zu packen bekam, würde sie der einen Schlag verpassen, dass ihr danach nur noch der Zahnausreißer die letzten verbliebenen Trümmer aus dem Kiefer klauben konnte!
Wenn sie ganz ehrlich mit sich war, war es aber in Wahrheit doch weniger der Zorn auf die Pferdediebin, als die Trauer und die Wut über den Verlust Belisethas, der ihr zu schaffen machte. Sie hatte ihr nicht helfen können - hatte die Verteidigung eines eigentlich unwichtigen Klosters über die Errettung ihrer Mutterschwester gestellt. Sie schüttelte den Kopf und drückte dem Pferd die Oberschenkel in die Seite, um noch schneller nordwestwärts, noch weiter hinein ins Herz des Ragatischen Kessels zu reiten. In der Ferne hätte man jetzt den Ragather Burgberg und die Türme von Castillo Wendesinn ausmachen können, wenn es dafür nicht noch zu dunkel gewesen wäre.
Mit einem Male fing ein großer Stein am Rande einer Feldflur Rifadas Aufmerksamkeit ein, und sie zügelte ihr Ross und ritt ein paar Schritte zurück, um ihn genauer zu betrachten. Es war ein bunt bemalter Grenzstein, der auf der einen Seite einen silbernen Rabenschnabel auf Schwarz, auf der anderen Seite das widerwärtige Geviert der Harmamunds in Gold und Purpur mit deren Wappentier zeigte. Rifada rutschte aus dem Sattel, ging in die Hocke und hob den sicher 50 Stein schweren Wacker mit einem Urschrei hoch. Sie legte ihn sich über die Schulter und marschierte damit etwa hundert Schritt in die Richtung zurück, aus der sie gerade gekommen war. Dort stieß sie ihn mit einem weiteren Urschrei von sich und begutachtete zufrieden, wie der kahle Praiosblumenacker, der vorher zur Gemarkung der Harmamunds gehört hatte, nunmehr gänzlich auf dem Gebiet der Dominie Aranjuez lag.
"Ja, ja - so schnell kann man Land verlieren!", feixte sie zu sich selbst und klopfte sich den Schneematsch von Schulter und Händen, während sie zu dem wartenden Pferd zurückstapfte. Bei diesem Hundswetter würde es wahrscheinlich bis zum Ende der Tristeza dauern, bis überhaupt irgendjemand das Verrücken des Grenzsteins bemerkte ...
Sechs Meilen weiter nordwestlich, das Praiosrund war inzwischen vollends aufgegangen, erreichte Rifada so etwas wie eine feste Landstraße, wahrscheinlich die aus Ragath hierher führende. Durch den dick über den Schneefeldern links und rechts der Straße hängenden Morgennebel hindurch sah sie in etwa zwei Dutzend Schritt Entfernung eine offenbar in einer Schneewehe festgefahrene Kutsche - eine kostbare und moderne Chaise der Stellmacherei Ferrara - wenn auch nur zweispännig. Um die Kutsche herum wuselten vier bewaffnete Männer, die nach Anweisung des Kutschers oben auf dem Kutschbock, bald unter diesem, bald unter jenem der vier Räder den Schnee mit bloßen Händen wegzuschaufeln versuchten.
"Heda!", lenkte Rifada ihr Pferd an die Chaise heran. "Ist das der Weg zum Gut derer von Aranjuez?"
Die vier Männer zuckten erschrocken zusammen. Aus dem Inneren der Kutsche steckte eine ausnehmend hübsche junge Frau ihr Gesicht zum Fester heraus. "Ah, den Bauer schickt uns Phex!", sagte sie zu den Männern, die Rifada offenbar im Nebel nicht kommen gesehen und gehört hatten. "Er ... ach nein, das ist ja ein Weibsbild ... sie sieht kräftig aus! Soll absteigen und hinten mit anschieben! Spannt ihr Pferd vorne vor die anderen vor die Kutsche! Mit drei Gäulen werden wir doch aus diesem verflixten Schneehaufen herauskommen, in den uns dieses Orkgesicht hineingefahren hat. Los, los, rapido - mir ist kalt!"
Rifada zog eine Augenbraue in die Höhe. Was war das eben? "OB DAS WEG NACH ARANJUEZ IST, HABE ICH GEFRAGT?", brüllte sie so laut, dass die Männer noch einmal erschrocken zusammenzuckten.
"Weib! Ich bedaure, aber du musst absteigen und schieben helfen!", kam einer der bewaffneten Männer unter der Kutsche herausgekrochen. "Wir brauchen dein Pfe..." Er verstummte, als er sich aufrichtete, und Rifada nun erstmals genauer betrachtete. "IHR? Oh - ich bitte um Verzeihung!" Er deutete einen Bückling an.
"Kennen wir uns?", fragte Rifada argwöhnisch.
"Na, was ist denn?", fragte die junge Frau aus der Kutsche dazwischen. "Wird das bald was? Ich will endlich zu Hause meine drei neuen Kleider anprobieren!" Sie blickte Rifada nun direkt an: "Los, ist das so schwer zu verstehen? Wir sitzen fest - du schiebst! Los jetzt! Beweg dich, du faules Stück Kuhmist - oder soll ich dir Beine machen lassen?"
Der junge Mann, seiner guten Kleidung und Bewaffnung nach zu urteilen ein Caballero, sprang zwischen die beiden Frauen und gab der Domnatella in der Kutsche mit einer abwürgenden Gestik und dem Zeigefinger auf den Lippen zu verstehen, dass sie besser nicht weiterreden sollte.
"Äh, äh ... hochwohlgeborene Comtessa - darf ich bekannt machen: Die werte Domna hier ist von Stand und aus sehr altem Magnatenhause! Dies ist Rifada da Vanya aus dem Kaisergut Selaque."
Rifadas Augen hatten sich während der Rede des jungen Dings zu Schlitzen verengt und ihre Wangen waren zornrot geworden. Jetzt ruckte ihr Kopf zu dem jungen Mann herum. "Ihr kennt meinen Namen?"
"Das soll eine Magnatin sein?", fragte die Domnatella aus der Kutsche wieder dazwischen, während sie Rifada von Kopf bis Fuß musterte und dabei verächtlich die Nase rümpfte. "Sie sieht aus wie eine Vogelscheuche! Sie hat nicht mal Schuhe!" Sie kicherte perlend und verächtlich.
"Und Ihr seht aus wie eine Puniner Hafenhure!", konterte Rifada gewohnt lautstark, die ihrerseits über die angemalten Lippen und Augendeckel der Spötterin die Nase rümpfte. Sie blickte an sich herunter. Das dumme Ding hatte leider Recht! Wegen des überstürzten nächtlichen Aufbruchs aus La Dimenzia hatte sie gar nicht ihre Stiefel angezogen, sodass ihre Beine unterhalb der Kniekehlen nackt waren, was ihr erst jetzt auffiel. Gut, die Flüsse waren zugefroren und es hingen dicke Eiszapfen von den Hütten und Bäumen - aber kalt konnte man es eigentlich nicht nennen. Rifada fror nie und bevorzugte sommers wie winters kurzärmelige Waffenröcke und Kniebundhosen. Das einzige Mal in ihrem Leben, an dem sie langärmeliges Unterzeug getragen hatte, war, als sie eine Ferkina-Rotte im Zuge einer Strafexpedition auf den 6500 Schritt hohen Djer Razufach verfolgt hatte. Aber hier im Flachland bestand für solche Memmen-Kleidung eigentlich niemals Notwendigkeit!
"Domna Rifada!", riss sie der junge Mann mit Tadel in der Stimme aus ihren Gedanken. "Nehmt bitte zur Kenntnis, dass Ihr zur hochwohlgeborenen Comtessa Rahjada-Mera von Ehrenstein und Streitzig sprecht! Der Tochter Eures Herrn und Grafen!"
"Wie das?", lachte Rifada höhnisch und tippte sich auf die Brust. "Nehmt IHR besser zur Kenntnis, dass Ihr gerade zu Eurer rechtmäßigen Gräfin sprecht! Und damit meine ich nicht sie, sondern mich!" Sie deutete mit einem geringschätzigen Kopfnicken auf das Edelfräulein in der Kutsche. "Die da ist also eine Tochter des Tobtiers, nehme ich an? Des falschen Grafen?"
Mit einem Knall flog nun die Kutschentür auf, und die Domnatella sprang behände erst auf das Trittbrett und dann ganz nach draußen. Unter einem weißen Mantel aus Hermelinfell trug sie ein blutrotes Brokatkleid. Sie sprang in den Schnee, da sie aber sicher zehn Halbfinger hohe Absätze trug, versank sie nicht darin, sondern schien fast über dem Schnee zu schweben. Mit einem Temperament, das ihr Rifada gar nicht zugetraut hätte, zog sie ein Stricknadel-langes Stilett irgendwo unter ihrem Kleid hervor. "Nennt meinen Vater noch einmal den falschen Grafen und ich hole Euch damit eigenhändig die Augen heraus!"
Rifada griff zum Schwert und zog es zur Hälfte aus der Scheide. "Steck das Ding weg, Püppchen oder deine Hand liegt im Schnee!"
Auch die Männer ringsum zogen nun ihre Schwerter und Säbel, nur der junge Mann, der von Anfang an gesprochen hatte, versuchte sich weiter verzweifelt als tsagefälliger Friedensstifter.
"Teure Comtessa Rahjada, werte Domna Rifada! So seid doch vernünftig! Wir stecken hier in einer misslichen Lage, Domna Rifada, aus der wir nur mit Eurer Hilfe herauskommen können! Gleichzeitig wollt Ihr offenbar zu Dom Hernán, und es wird sicher sein Wohlgesonnensein Euch gegenüber steigern, wenn Ihr seiner künftigen Gemahlin helft, mit den Kleidern für ihre Hochzeit sicher bei ihrem Gatten anzugelangen! Ich bin Servando Cronbiegler, Ihr erinnert Euch offenbar nicht an mich - aber wir sind uns bereits vor einigen Jahren begegnet, als Ihr die hochwohlgeborene Schwester der Comtessa, Domnatella Romina-Alba, aus der Gefangenschaft der Wilden befreit habt. Ich gehörte damals zum Aufgebot Rondrigos vom Eisenwalde."
"Ich habe sie nicht befreit", schüttelte Rifada pikiert dem Kopf. "Ich lasse nur keine Frau unter den Wilden zurück. Dass sie unbeschadet nach Hause zurückkehrte, dafür haben andere gesorgt. Mir selbst war es mehr als einerlei!"
"Ihr wart das also!", zischte Rahjada-Mera feindselig. "Ich habe in der Tat viel von meiner Schwester über Euch gehört - und nur ein verschwindend kleiner Teil davon war löblich."
"Wärt Ihr in Tobrien geblieben, müssten wir uns nicht übereinander ärgern!", entgegnete Rifada unwirsch.
Hätten Blicke die Kraft zu töten, dachte Servando Cronbiegler still bei sich, beide Frauen würden auf der Stelle wie vom Blitz getroffen umfallen.
Immerhin glitt Rifada nun aus dem Sattel und beorderte die Comtessa mit einem groben Schubser in Richtung der Kutschenkabine zurück. "Wir brauchen mein Pferd nicht anzuspannen! Ihr drei Hungerhaken dreht am rechten Vorderrad und wir beide" - sie packte Servando am Arm - "drehen hier an diesem Hinterrad!"
Rifada packte das Rad an den Speichen, biss auf die Zähne und drehte so fest, dass ihre Adern am Hals und auf der Stirn hervortraten. Der junge Caballero schluckte, als er einen Blick auf ihre angespannten Arme warf, die kräftiger als selbst die des Hufschmieds von Castillo Wendesinn waren. Die Comtessa war die schönste Frau, die er in seinem ganzen Leben gesehen hatte, und ihr zu dienen und ihr nahe zu sein, war mehr als er zu träumen gewagt hatte. Aber sie hatte eine spitze Zunge und er hoffte, dass sie ihn nie in ein Duell mit dieser Junkerin trieb, das nur äußerst hässlich für ihn enden konnte.
Mit einem Ächzen aus tiefster Seele riss Rifada neben ihm schließlich das Kutschenrad tatsächlich dreimal herum, die vorgespannten Pferde machten überrascht zwei Schritte vorwärts, und die tückische Schneewehe lag hinter ihnen.
"So schwer war das nun nicht!", blickte ihn Rifada mitleidig an. "Den Rest des Weges schafft ihr hoffentlich alleine!" Sie ging zu ihrem Pferd und stieg auf. "Da ich aber mit Dom Hernán wichtigere Dinge als Hochzeitskleider zu besprechen habe, werde ich Euch nachfolgen lassen und bereits einmal vorweg reiten!"
Sie nickte der Comtessa noch einmal mit gespielter Freundlichkeit zu: "Domnatella - meinen Gruß an Euren Vater! Sagt ihm, das ist nun bereits die zweite Tochter, der ich aus der Not helfe, und er soll nicht darauf bauen, dass ich es noch ein drittes Mal tun werde. Der Marmorthron bleibt unser - ich werde ihn niemals aufgeben!"
Dann ritt sie in schnellem Trab davon.
"Brich dir den Hals!", wünschte ihr Rahjada-Mera hinterher.
Autor: Der Sinnreiche Junker
Hernán von Aranjuez sah von seinem Schreibpult auf, als in der Ferne das Horn des Postens erklang. Stirnrunzelnd versuchte er durch das trübe Fensterglas den Stand der Praiosscheibe abzuschätzen, doch der Feuerschein des Kamins und das Licht der Kerze auf dem Pult verfälschten den ohnehin nur matten Sonnenschein zu dieser Jahreszeit. Es sah seiner Verlobten jedenfalls überhaupt nicht ähnlich bereits so früh am Morgen einzutreffen. Oder war die Zeit über der Arbeit doch schneller verflogen? Wirklich vorangekommen war er nicht, wie er mit einem Seufzen feststellen musste, als er die Papiere ordnete. Seine schon lange begonnene Denkschrift "Die vier Tercios" würde weiter auf sich warten lassen.
Nachdem er die Kerze gelöscht hatte, machte er sich auf die Suche nach Mahmud, dem greisen Majordomus des Hauses Aranjuez. Das herrschaftliche Anwesen auf dem Junkergut war auf einer heißen Quelle errichtet worden, sodass der tulamidische Bädertrakt Tag und Nacht über warmes Wasser verfügte, sollte die Grafentochter sich aufwärmen wollen. Seine Suche nach Mahmud erwies sich als überflüssig, hatte dieser doch längst in der Küche Anweisung gegeben Wein und Suppe erhitzen zu lassen. Zweifellos dürfte die berittene Bedeckung Domna Rahjadas entsprechend durchgefroren sein.
Auch der Baron und Junker fröstelte, nun, da er sein warmes Arbeitszimmer verlassen hatte. Dort hatte er nur die schwarzen, typisch weiten Hosen im Landsknechtsstil und ein weit aufgeschnürtes weißes Hemd getragen, zu wenig in den unbeheizten Fluren. Dennoch machte er sich über das nicht minder unbeheizte Treppenhaus auf den Weg ins Obergeschoss. Dort öffnete er eines der nach außen gehenden Fenster, um einen Blick auf die Reisegesellschaft zu erhaschen, die nun bald den zypressengesäumten Weg zum Gutshof herauf kommen musste.
Der kalte Zug des plötzlichen Windstoßes trieb ihm die Tränen in die Augen, sodass der Condottiere blinzeln musste, als er in der Ferne einen einzelnen Reiter ausmachen konnte, viel näher schon als er erwartet hatte. Äußerst unwahrscheinlich, dass seine zukünftige Gemahlin bei dieser Witterung auf die Annehmlichkeiten einer Kutsche verzichten, geschweige denn, dass sie alleine reisen würde. Ein Botenreiter vielleicht? Nachdenklich strich er sich mit der Rechten übers unrasierte Kinn, als er über den Inhalt einer etwaigen Nachricht grübelte, welche zu wichtig sein könnte, als dass man sie einer Brieftaube anvertraute.
Schließlich stahl sich ein leiser Fluch von seinen Lippen, als er seiner wenig magnatenhaften Aufmachung gewahr wurde. Gewiss, einen einzelnen Botenreiter konnte man natürlich auch warten lassen, derweil er sich um ein angemesseneres Äußeres kümmerte. Dennoch zog der Soberan des Hauses Aranjuez es stets vor umgehende Kenntnis von jedweden Neuigkeiten zu erhalten. Er schloss das Fenster und begab sich schnellen Schrittes in die ihm vorbehaltene Zimmerflucht, um sich wenigstens ein Paar Stiefel anzuziehen.
Mahmud, ein Aramya mit schlohweißem Haar, der beinahe alt genug schien, als hätte er noch den Fall des alten Eslamabad miterlebt, wartete im windgeschützten Bereich des Eingangsportales, derweil einem Pferdeknecht die Aufgabe zufiel, die Zügel des Pferdes Domna Rifadas zu ergreifen. Wenn der Majordomus über die abgerissene Erscheinung der Besucherin überrascht war, so ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Immerhin war sie auf dem Rücken eines Rosses eingetroffen, was in Almada noch etwas heißen mochte.
"As-salāmu 'alaikum. Willkommen auf Aranjuez", neigte er freilich nur andeutungsweise das greise Haupt, derweil der Pferdeknecht das Reittier zu den Stallungen führte.
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