Chronik.Ereignis1033 Feldzug Selaque 32: Unterschied zwischen den Versionen
(Die weniger liebliche Dulcinea und die abscheulichen Menschenfresser) |
(kein Unterschied)
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Version vom 23. August 2012, 18:01 Uhr
In Kaiserlich Selaque, 4. Rondra 1033 BF
Am Rand des Raschtulswalls
4. Rondra 1033 BF, abends
Autor: von Scheffelstein
Das markerschütternde Brüllen jagte Dulcinea einen Schauer über den Rücken. "Was war das?", fragte sie ihren Vater, doch der hatte sie bei dem zunehmenden Regen wohl nicht gehört, das Brüllen aber wohl schon, denn Ordonyo di Alina starrte mit finster angestrengtem Gesicht in Richtung des Vanyadâls, das irgendwo unter ihnen lag.
"Verflucht!", rief er, und begann, sich hektisch umzusehen. Dulcinea brauchte einen Moment, um zu sehen, was ihren Vater in Aufregung versetzt hatte. Als sie es sah, begann sie panisch zu schreien.
"Vater, dort, dort! Was ist das? Vater, es kommt genau auf uns zu!"
Und wirklich: Dort unten zwischen den Felsen im Norden tauchte der riesige Schädel eines fetten, nackten Weibes auf, so riesig, so fett und von so hässlicher Nacktheit, dass Dulcinea für einen Augenblick mehr Ekel als Angst verspürte. Für einen Augenblick, denn dann tauchte ein zweites solches Weib auf und dann ein Mann, noch größer, noch hässlicher, dessen graues Gemächt unter Fellfetzen zwischen seinen Beinen baumelte.
Dulcinea kreischte in höchsten Tönen, bis ihr Vater ihr unsanft ins Haar griff und sie grob herumriss. "Halt dein dummes Maul, oder willst du die Oger noch anlocken?", fragte er.
"Oger?", fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
"Da rauf, schnell!" Ordonyo di Alina stieß sie weiter den Hang hinauf, von dessen Spitze man auf der einen Seite in Richtung Vanyadâl, auf der anderen auf die Straße nach Grezzano hinabblickte. "Da rein!" Er wies auf eine Spalte zwischen zwei Felsen, eine schmale, kurze Spalte.
Dulcinea dachte nicht lange nach und quetschte sich zwischen die Felsen, so tief hinein, wie es nur ging. Der Regen prasselte ihr auf den Schädel und lief an ihren Armen und Beinen hinab und in ihre Stiefel.
Der Waffenknecht Pachotto, der etwas kräftiger war, versuchte, sich nach ihr in den Spalt zu zwängen, aber ihr Vater riss ihn grob zurück.
"Du nicht, Schwachkopf!", rief er. "Such dir ein eigenes Versteck!" Und so drängte sich Ordonyo statt seiner zwischen die Felsblöcke, bis seine Schulter Dulcineas Arm berührte und er so nah war, dass sie zu ersticken glaubte.
"Ihr Schweine!", rief Pachotto, für den nun kein Platz mehr war. "Soll Euch der Namenlose holen!" Doch dann verstummte er, war einen Blick zurück und stolperte kalkweiß im Gesicht und zu allen Heiligen der Region betend, zur Straße nach Grezzano hinunter.
Nur wenige Augenblicke, nach dem er aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden war, tauchte das Ogerweib auf der Hügelkuppe auf und rannte brüllend hinter Pachotto her. Dann war das zweite Weib heran, doch dieses kümmerte sich nicht um den Fliehenden, sondern streckte seine langen Finger zwischen die Felsen und versuchte, Dulcineas Vater zu angeln. Ihre scharfen Fingernägel schrammten sein Gesicht, doch ihr Leib war viel zu mächtig, um in die Spalte hineinzupassen.
Mehr und mehr dieser Ungeheuer umringten die Felsen, brüllten und warfen kopfgroße Steine gegen den Spalt. Staub und Steinsplitter regneten auf Dulcinea und Ordonyo di Alina herab. Dulcinea schloss wimmernd die Augen und betete, dass die Kraft dieser Wesen nicht ausreichte, die Felsen zu bewegen oder die Spalte zu vergrößern.
Plötzlich drang ein dumpfes Trommeln herüber, irgendwo aus dem Südosten, irgendwo aus den Bergen nahe Grezzano. Die Schläge übertönten den heftigen Regen, laut, gleichmäßig und unheilvoll. Kalt strömte der Regen Dulcineas Rücken hinab. Das Wasser, das zwischen ihren Beinen hinab rann, war warm.
Die Oger brüllten, dann plötzlich ließen sie von den Felsen ab, und ihre plumpen, schweren Schritte entfernten sich.
Trommeln, Trommeln in der Ferne. Das Geschrei der Oger wurde leiser. Als es verstummte, fiel alle Spannung von Dulcinea ab, und sie begann hemmungslos zu schluchzen, bis ihre Stimme sich überschlug und sie Schluckauf bekam. Sollte ihr Vater sie tadeln, sie schlagen, es war ihr gleich, wenn sie nur nie, nie wieder so etwas erleben musste!
Doch ihr Vater schlug sie nicht. Er schrie sie nicht an. Ordonyo di Alina schwieg. Er lehnte sein bleiches, zerkratztes Gesicht an den Felsen und sah sie an. Und dann tat er etwas, was er noch nie getan hatte: Er nahm ihre Hand und drückte sie. "Schon gut", sagte er heiser und blickte hinauf in den wolkenverhangenen Himmel. "Schon gut, Kind!"
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