Chronik.Ereignis1043 Selkethaler Pferderennen zu Ehren der schönen Göttin 1043 BF 63
Castillo San Cardasso, 27. Rahja 1043 BF[Quelltext bearbeiten]
In einem stinkenden Schafstall (frühmorgens)[Quelltext bearbeiten]
Autor: vivar
Jemand musste León de V. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin des Gasthofes Burg An Holt, die ihm jeden Tag gegen die erste Tsastunde das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war in der vergangenen Woche noch niemals geschehen. Der Vivar wartete noch ein Weilchen mit geschlossenen Augen, drückte das edle Haupt noch einmal gegen sein Kopfkissen, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, schlug er die Augen auf und wollte nach der Glocke greifen, um seiner Wirtin zu läuten.
Statt dem kupfernen Kelch mit dem Griff aus hartem Holz fand Dom Leóns suchende Hand nur einen kleinen Berg aus festen, noch etwas warmen Kügelchen, die sich leicht zerdrücken ließen. Als er die Hand ob der unerwarteten Begegnung halb erschrocken, halb erstaunt zurückzog, haftete ihr etwas Klebriges an. Gedankenverloren führte er die Hand zur Nase – und zuckte zusammen. Was er da roch, war der verbockelte Gestank vivaresischer Schafhirten, wenn sie von den Almen herabstiegen.
‚Was in aller – ?‘, dachte der Vivar und saß gleich halb aufrecht im Bett – oder dem, was er bis gerade eben dafür gehalten hatte. Sein ausnehmend weiches Kopfkissen gab ein dumpfes Blöken von sich, und er spürte, wie es sich hinter ihm aufrichtete. Sogleich wurde der beleidigte Ruf von mehreren Artgenossen aufgenommen. Der Raum war noch immer von der borongefälligen Dunkelheit der Nacht erfüllt und der Spalt unter der Tür war zu schmal, um mehr anzuzeigen, als dass der Tag begonnen hatte. Dom León hatte jedoch genug gehört und gerochen, um zu begreifen, dass er sich nicht in seinem Zimmer im Gasthof Burg An Holt im Selkethal, sondern in einem aufs Übelste vermisteten Schafstall befand. Mühsam versuchte er, seine Augen an die Schummrigkeit zu gewöhnen.
Da öffnete sich die Tür und der Blendstrahl Praios' traf ihn mitten ins Gesicht, so dass er die Augen wieder schließen musste. Als er sie wieder öffnete, trat eine Frau ein. Sie war schlank und doch fest gebaut, sie trug ein anliegendes schwarzes Gewand, das, ähnlich den Anzügen reisiger Questadores, mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne dass man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. An der Linken trug sie ein Rapier. „Ausgeschlafen“, stellte sie knapp fest.
„Mazetta soll mir das Frühstück bringen“, sagte der Vivar, in der Hoffnung, wenn er sich nur an den geregelten Gang der Dinge halte, werde es die Welt um ihn herum ebenfalls tun, während er, zunächst stillschweigend, versuchte, durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer die Frau eigentlich war.
Eines der Erfolgsgeheimnisse des schönen Barons war sein gutes Gedächtnis für Gesichter und Namen, welches ihn gewissermaßen als sein Logbuch auf seinen Fahrten durch die unergründlichen Weiten der Leidenschaft begleitete und ihn davor bewahrte zweimal in denselben Fluss zu steigen.
Dieses Logbuch musste jemand in Flüssigkeit getränkt und mit Dreck verschmiert haben, denn es versagte auf ganzer Linie. Dom León war sich beinahe sicher, dass die Flüssigkeit ein schwerer Rotwein gewesen war. Zumindest fühlte sich sein Schädel danach an. Es mochten aber auch drei bis zwölf dubiose Ragatzos, oder einige Bouteillen Rahjanillo gewesen sein. Dass aber der Dreck der stinkende Auswurf der Schafe war, der ihm in die Nase stach und das Denken zusätzlich erschwerte, daran konnte kein Zweifel bestehen. So erbrachte die Musterung der Unbekannten kein Ergebnis, außer, dass sie schwarzes Haar trug, ihre Augen leicht schräg in einem Gesicht mit hohen Wangenknochen standen und dass ihr der linke Arm bis zur Schulter fehlte.
Die Frau setzte sich nicht allzu lange seinen Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, um jemandem, der offenbar knapp dahinterstand, zu sagen: „Er will, dass Mazetta ihm das Frühstück bringt.“ Ein kleines Gelächter ertönte von draußen, es war nach dem Klang nicht sicher, ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren. Die fremde Frau drehte sich wieder Dom León zu. „Das ist unmöglich“, beschied sie ihn knapp.
„Das wäre mir neu“, sprach der Vivar und wollte von seiner von Stroh und Kot bedeckten Lagerstatt aufspringen, um selbst nachzusehen. Doch da erfasste ihn ein Schwindel, und er musste sich wieder fallen lassen. Phexgefälliger Nebel wallte vor seinen Augen auf und er musste sie erneut schließen. Marmelonenbrannt! Der war auf jeden Fall auch mit dabei gewesen. Er versuchte, seinen Geist auf den gestrigen Abend zu lenken. Nach dem Ende der Fuchsjagd hatte ihn Madolinas Sohn – der sogar sein eigener sein mochte – konfrontiert. Die Begegnung war unglücklich verlaufen und in Schimpf und Spott geendet. In Dom León hatte sie Erinnerungen an lang vergangene Liebschaften geweckt. Um sich davon abzulenken, hatte er sich ins Getümmel des Banketts gestürzt. Es hatte einen Tanz gegeben, und Wein, viel Wein. Offenbar so viel, dass er statt in seinem Herbergszimmer in diesem Stall gelandet war. Aber mit wem, bei der Rosenfingrigen? Er meinte sich säuselnder Worte, reizender Augenaufschläge und einer sanften Hand zu entsinnen, die ihn irgendwoher irgendwohin geleitet hatte. Die Einarmige? Er konnte sich ihrer nicht erinnern.
Als er seine Augen wieder öffnete, blickte er an sich herunter. Immerhin trug er Kleider am Leibe: seine Hose, sein Hemd. Stiefel, Hut und Degen waren nirgends zu sehen. Auch des Rocks und des von Eslamida Knabenschuh geschneiderten Reitmantels war er offenbar verlustig gegangen. Er würde sie auf dem Weg zum Gasthof suchen. Nun musste er erst einmal dieses stinkende Loch verlassen.
Erneut begann der Vivar sich zu erheben, und obschon das Zittern in den Beinen, die Übelkeit in seinem Magen und das Dröhnen in seinem Kopfe ihn wieder zu Boden drücken wollten, bezwang er sich und stand schließlich schwankend vor der Einarmigen. „Es ist… freundlich, dass Sie mich geweckt hat, doch nun lasse Sie mich hinaus! Ich will in den Gasthof zurück und dort mein Frühstück einnehmen“, sagte er und begleitete seine Worte mit einer etwas fahrigen Bewegung der Hand, die in ein Hilfegesuch verwandelte, was eigentlich als Befehl gemeint war.
„Nein.“ Die Frau stellte sich mit beiden Beinen fest auf die Erde und legte die Rechte auf den Knauf des Rapiers.
„Nein?“ Dom León zog die Brauen hoch, mehr verwundert, als verärgert. „Und weshalb nicht, wenn man fragen darf?“
„Ihr dürft nicht weggehen. Ihr seid ja verhaftet“, stellte sie sachlich fest.
„Verhaftet? Wie kann das sein? In wessen Namen, und durch wen?“
„Der Erzene Rat der Reichsstadt Taladur hat Eure Ergreifung bestimmt und ich habe Euch soeben verhaftet, León Dhachmani de Vivar.“
Auch wenn Dom León seinen eigenen Namen wieder erkannte, hatte er sichtlich Schwierigkeiten, diese Kunde zu verarbeiten. „Sie? Wer ist Sie überhaupt?“
Das schöne Gesicht der Schwarzgekleideten verfinsterte sich, wie wenn Wolken über das Madamal zogen, ihre Kiefermuskeln spannten sich an und die Hand umschloss den Griff ihrer Waffe fester. „Ihr erinnert Euch meiner nicht?“ frug sie. „Ihr erinnert Euch meiner nicht?“, wiederholte sie drohend. „Wartet nur, ich helfe Eurem Gedächtnis auf die Sprünge, Puniner! Ragath, im Peraine 1025. Ich war mit meinem Bruder dort, um zwei neue Glocken für den Sonnentempel zu gießen. Ein lauer Sommerabend in den Almadaner Stuben. Mein Bruder hatte bereits tief ins Glas geschaut und Ihr… fielt mir ins Auge, ich kam an Euren Tisch, wir begannen zu plaudern, wir ließen meinen Bruder mit dem Kopf auf der Tischplatte zurück, wir gingen durch die Gassen flanieren, Ihr wolltet die Glocken sehen, ich versprach, sie Euch zu zeigen, für einen Kuss…“ Ihre Stimme war weicher geworden.
„Oh, Ragath!“ In dem großen Nebel hinter des Vivar schöner Stirn arbeitete es, um diese flüchtige Tändelei vor beinahe 20 Götterläufen zu rekonstruieren. „Nun, wir waren beide jung und schön, Domnatella, und zumindest Ihr habt Euch in diesem Sinne nicht – äh.“ Sein Blick fiel unwillkürlich auf den fehlenden Arm, einen Moment zu lange, um unbemerkt zu bleiben. „Ich meine, Ihr seid äußerst vorteilhaft geal-“
„Schweigt still, Schafkopf!“, fiel sie ihm ins Wort. „Natürlich habe ich mich verändert. Ihr reistet weiter und vergaßet mich. Ich verlobte mich, mit einem tumben, aber braven Mann, mit Alonso Tandori, aber dann tauchtet Ihr in Taladur auf und habt ihn mir genommen! Gemeuchelt habt Ihr ihn, auf der Via Ferra, wie seinen Bruder!“
„Die Tandori-Brüder? Die haben uns überfallen! Meinen Vetter Amaro, meinen Compadre Torquato und mich! Auf der großfürstlichen Landstraße! Wir hatten die Seele der Waldwacht aus einem dunklen Loch in den Bergen gezogen und waren auf dem Heimweg. Da kamen die Tandori-Brüder über uns wie Wölfe! Wir haben uns nur zur Wehr gesetzt!“, widersprach Dom León.
„Ihr tragt Schuld an seinem Tod!“, fauchte sie. „Wegen Euch wurde ich zur Burgcapitana von San Cardasso degradiert! Und Eure Buhle, das Grafentöchterlein Romina, war es, die mir dies nahm.“ Sie deutete mit der Rechten auf ihre leere linke Seite. „Aber Contessina Amazetti vergisst nicht! Contessina Amazetti hat, dem grünen Drachen gleich, geduldig gewartet und endlich hat die Falle zugeschnappt!“
‚Romina!‘, dachte der Vivar. Sie hielt sich auch im Selkethal auf, auch wenn sie ihn gemieden hatte. Wo mochte sie sein? Er sehnte sich nach ihr. Auf einmal überkam ihn das Bedürfnis, sich an die gemauerte Stallwand zu lehnen.
„Das ist alles höchst bedauerlich, Domna Contessina“, sprach er, während er unauffällig die Hand nach der stützenden Mauer ausstreckte“, aber wenn Ihr Satisfaktion von mir sucht, so lasst es uns wie Ehrenleute austragen – Mann gegen Frau, mit der Klinge in der Hand. Gerne heute Nachmittag oder morgen oder wann Ihr wünscht, aber zunächst lasst mich doch –“
„Ha! Ein feiner Ehrenmann seid Ihr, der den Schafen beischläft“, spottete Contessina Amazetti. „Mit so einem brauche ich mich nicht schlagen. Der Erzene Rat hat Eure Festsetzung verlangt und Ihr werdet einem ordentlichen Gerichtsverfahren unterzogen werden. Satisfaktion werde ich erlangen, wenn Ihr abgeurteilt seid und Euer Haupt vom Schafott rollen wird! Alles wird seine praiosgefällige Ordnung haben!“
Dom Leóns hatte mit der Hand die Mauer erreicht und stützte sich nun schwer atmend daran ab. Er legte den Kopf schief: „Ich bin kein Rechtsetzer, aber die praiosgefällige Ordnung missachtet Ihr bereits, indem Ihr einen Magnaten Almadas und Vasallen der Gräfin auf ihrem eigenen Land zu arretieren sucht. Immerhin ist das Edlengut Selkethal in Gräflich Taladur gelegen. Das wird vor der Gräfin Gericht keinen Bestand haben.“
Contessina Amazetti lächelte böse. „Wie schlau und findig Ihr doch seid! Und wie gut, dass dieser Schafstall, in dem ich Euch angetroffen habe, nicht auf Grafenland liegt, sondern zu Füßen des Castillo San Cardasso, und damit zum Territorium der Reichsstadt Taladur gehört. Ihr werdet vor das reichsstädtische Gericht gestellt und dort Eurer mannigfaltigen Verbrechen wider die Stadt Taladur angeklagt. Die Gräfin braucht davon nie erfahren. Aber jetzt geht es erst einmal in den Turm!“ Sie wandte sich zur Tür. „Turogosch! Abführen!“
Ein kräftiger Zwerg mit gezopftem schwarzgrauen Bart, schwer bewaffnet und gerüstet, trat herein. Er war es gewiss, der zuvor draußen gelacht hatte, dachte sich Dom León. Turogosch deutete mit seiner mächtigen Streitaxt auf den Vivar und brummte: „Na los, du Schafstößer! Mitkommen!“
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