Chronik.Ereignis1032 Die Herren von Pildek 03
Baronie Pildek, Ein Praiostag Mitte Ingerimm 1032 BF[Quelltext bearbeiten]
Auf dem Boronanger von Carhag-Lo[Quelltext bearbeiten]
Autor: Von Scheffelstein
Die Hoffnungsvolle[Quelltext bearbeiten]
Der Wind wiegte den Wacholderbusch am Rand des Grabes. Die alte Maldiana wischte die Nadeln von dem hölzernen Boronsrad und rupfte einige Halme zwischen den Steinen aus, die das Grab begrenzten.
„Nimm deine Mütze ab, mein Junge“, sagte sie, und Nado gehorchte. Jeden Praiostag kam seine Mutter hierher, um ihren Mann und zwei ihrer Kinder zu besuchen, die der Gevatter vor der Zeit zu sich gerufen hatte. Meist fuhr Batistar sie nach Carhag-Lo auf den Boronanger, manchmal auch Jago oder eine von Jagos Töchtern. Nado hatte seinen Vater nie kennengelernt. Er mochte die Stille des Friedhofs nicht, die Endgültigkeit des Todes, an die Grabsteine und Boronsräder gemahnten. Die Vorstellung seiner eigenen Vergänglichkeit bedrückte ihn und mehr noch, dass seine Mutter zu einem Toten sprach.
„Pasquo, stell dir vor, nun hast du bereits einen zweiten Urenkel bekommen“, sagte sie und strich mit den Fingern sacht über die Weizenhalme, die zwischen dem Gras unter dem Wacholderstrauch wuchsen.
„Ich geh’ ein Stück, Mutter“, sagte Nado.
„So ist er, der Junge“, sagte Maldiana. „Voll Tatendrang. Er ist ein guter Junge, du hättest ihn gemocht. Doch wirklich, Pasquo, ich denke, schon ...“
Nado schüttelte den Kopf und setzte sich die Mütze wieder auf. Verrückt! Man sollte die Toten vergessen, dachte er. Das wäre borongefällig. Und viel gesünder, als sich ein Leben lang mit Erinnerungen an sie zu plagen und ihnen Macht über das eigene Leben zu gestatten.
Er schnippte einen Käfer fort, der sich auf seinem Hemd niederließ und blieb vor einem Grab stehen, um die Inschrift zu entziffern. Das Lesen fiel ihm inzwischen leicht, Vinyaza war eine gute Lehrerin gewesen.
Vinyaza! Vor seinen Augen sah er ihren üppigen Körper, die kleinen Grübchen in ihren Wangen, wenn sie lachte. Zuletzt hatte sie über ihn gelacht. Wütend schlug Nado die Faust in die Hand. Er konnte noch immer nicht fassen, was sie gesagt, was sie getan hatte! Er hob einen Stock auf und schleuderte ihn mit Macht in den Wipfel einer Tanne, hob einen zweiten Ast auf – und bemerkte, dass unter der Tanne jemand saß. Ein junger Mann, nein: eine junge Frau, die ihm den Rücken zukehrte. Das war doch ...
„Hey“, sagte er, als er neben die junge Frau trat. „Die Stierreiterin.“
Sie blickte auf und erwiderte sein Lächeln. „Maldonado, der Sieger.“
Er lachte. „Die Bessere hat verloren.“
Sie wandte sich wieder dem Grab zu, vor dem sie hockte.
„Darf ich?“ Er nahm die Mütze ab und setzte sich neben sie. „Wie geht es deinen Rippen?“
„Danke“, sagte sie. „Sie haben mich zu Valdemora Silfide gebracht ...“
„Der Zahori?“
„Ja. Sie hat mir die Hand aufgelegt und mir eine Salbe gegeben. Es geht schon besser.“
Nado zog die Rispen eines Grashalmes ab, pflückte einen zweiten Halm und fuhr sich damit über die Lippen. Von der Seite beobachtete er das Mädchen. Sie hatte etwas Tulamidisches und er mochte, wie sie ihr Haar trug. Nicht lang und offen oder hochgesteckt, so wie die meisten Mädchen der Gegend. Nein, es war kurz, und im Nacken stand es lustig nach oben. Am liebsten hätte er die Hand ausgestreckt und es glatt gestrichen.
„Ich weiß gar nicht, wie du heißt.“
„Esperanzada.“ Sie lachte. „Meine Brüder nennen mich Espe.“
„Esperanzada gefällt mir besser.“
Sie schwieg wieder, aber Nado hatte nicht den Eindruck, unwillkommen zu sein. Entspannt lehnte er sich im Gras zurück, schob die Arme unter den Kopf und legte einen Fuß auf sein Knie. Zum ersten Mal gefiel ihm der Friedhof, zum ersten Mal hatte die Stille etwas Friedliches. Es war gar nicht still, wenn er genau war: Vögel sangen in den Bäumen, der Wind ließ die Äste knarren, und Bienen summten von Kleeblüte zu Kleeblüte.
„Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein war“, sagte Esperanzada.
„Ich habe meinen Vater nie gekannt.“
„Ich komme jeden Praiostag her, um sie zu besuchen.“
Nado nahm sich vor, seine Mutter öfter zum Friedhof zu begleiten.
„In Gedanken erzähle ich ihr, was ich erlebt habe und was ich noch erleben will.“
Nado lachte.
„Was lachst du?“
Er blickte sie an, unterdrückte ein Grinsen und schüttelte den Kopf. Ob alle Frauen mit Toten redeten? Nein, Vinyaza bestimmt nicht, das konnte er sich nicht vorstellen. Er wollte nicht an sie denken ...
„Was willst du denn noch erleben?“
Sie seufzte, aber es klang nicht unglücklich. „Vor zwei Jahren, da habe ich einen feinen Herrn aus Punin getroffen. Genau hier. Er tränkte sein Pferd unten am Bach und kam her, um mich nach dem Weg zu fragen.“
„Was für ein feiner Herr?“
„Tassilo. Tassilo di Tornillo.“
Er war sich nicht sicher, ob ihm das Lächeln in ihren Augen gefiel. „Lustiger Name.“
„Er war ein lustiger Mann.“
„Alt?“
Esperanzada sah ihn an. Um ihren Mundwinkel zuckte es. „Er war jung in seinem Herzen.“ Sie schaute hinauf in den wolkenverhangenen Himmel. Krähen flogen aus der Tanne auf und ließen sich krächzend auf einem anderen Baum nieder. Nado folgte ihrem Blick und schob den Halm von einem Mundwinkel in den anderen.
„Er war ein zärtlicher Mann. Voller Liebe für das Leben. Und voller Geschichten. Wir liebten uns hier auf dem Grab. Bis die Sonne hinter dem Wald unterging und unsere Wege sich trennten. Ich ging nach Hause und er ritt hinaus in die Welt, um neue Geschichten zu erleben.“
„Was? Du hast einen Fremden auf dem Grab deiner Mutter gev...?“ Nado starrte sie an.
Sie lag nun neben ihm im Gras und lächelte zur Sonne empor, die zaghaft zwischen den Wolken hervor spähte. Ihr Gesicht leuchtete. „Es hätte ihr gefallen, mich glücklich zu sehen.“
Er wollte sie! Er wollte sie jetzt! „Und jetzt ... jetzt träumst du von diesem ... Tassilo?“
Sie schwieg, mit diesem leisen Lächeln auf den Lippen, das doch nicht ihm galt.
„Nein“, sagte sie dann und lachte. „Mich nach einem Mann zu sehnen, der an mir vorübergezogen ist wie ein Traum – das wäre töricht.“
Nado wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als eine solche Traumgestalt zu sein.
„Eines Tages werde ich hinausziehen in die Welt. Ich werde Geschichten erleben – Abenteuer, wie er es genannt hat. Ich werde das Leben mit offenen Armen empfangen und freudig begrüßen, was immer mir widerfährt.“
„Das Leben da draußen“, sagte er, „ist gefährlich.“
„Aber es ist auch schön“, sagte sie.
Er wusste nichts zu erwidern. Ihr Leben, ihre Träume, ihre Worte besaßen Farben, die er zum ersten Mal erblickte. Gegen die seine eigenen Träume grau schienen. Und sie machte es nicht besser, als sie fragte: „Und was willst du noch erleben?“
Er lachte ertappt und schlug die Augen nieder. Was sollte er antworten? Weder das eine, noch das andere, was ihm in den Sinn kam, schien ihm angemessen. Sollte er zugeben, dass er diesen fremden Puniner beneidete? Oder dass er sich nichts mehr wünschte, als dass man zu ihm aufsah, statt auf ihn herab, dass man Ehrfurcht empfand beim Klang seines Namens, der ihm stattdessen schlaflose Nächte bereitete, seit Vinyaza ihm erklärt hatte, was er bedeutete?
Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Ich habe keine solch schönen Träume“, sagte er.
„Alle Träume sind schön“, widersprach sie, „wenn sie von Herzen kommen und nicht aus dem Kopf. Dann sind es Ziele. Ziele hindern uns daran, das Leben zu genießen.“ Er musste sehr dumm geguckt haben, denn sie lachte. „Das hat Tassilo gesagt.“
Tassilo! In seinem Herzen war kein Platz für Träume, solange dieser Name in seinem Kopf Bilder erzeugte ... Aus den Augenwinkeln sah er, dass seine Mutter ihr Zwiegespräch beendet hatte und suchend nach ihm Ausschau hielt. „Ich muss wohl gehen“, sagte er.
Sie sprang auf, geschmeidig wie eine Katze. Auch Nado richtete sich auf, ließ seine Mütze um seinen Finger kreisen und suchte nach Worten, die ihn nicht beschämten. Da spürte er ihre Hand an seiner Wange, ihre Lippen auf den seinen, feucht, warm und süß. Für einen Augenblick nur, dann ließ sie ihn los und schenkte ihm einen langen Blick aus dunklen, zauberhaften Augen. „Vergiss das Träumen nicht, Maldonado“, sagte sie – und lief davon, barfuß, aber in Reithosen, die wundersamste Frau, die ihm begegnet war.
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