Chronik.Ereignis1036 Besuch im Vanyadâl 34
Baronie Bosquirien, 11. Tsa 1036 BF
Im Bieberwald, vormittags
Autor: SteveT
"Seid Ihr Euch sicher, dass wir hier noch auf dem rechten Weg sind, mein Freund?", fragte Azzato von San Owilmar voller Zweifel und blickte sich mit gerunzelter Stirn in dem dichten, tief verschneiten Tannicht um, in dem es immer noch Halbdunkel war, obwohl die bleiche Sonne am grauverhangenen Himmel schon vor einigen Stunden aufgegangen war.
"Ehrlich gesagt: Nein!", gab Juanito di Dubiana offen zu, schob aber gleich zu seiner Entschuldigung hinterher: "Zu jemandem, der vogelfrei und untergetaucht lebt, gibt es nun mal keine Wegbeschreibung oder Karte, die Euch zu ihm hin führt! Ich habe ihm eine Nachricht an unserem ausgemachten Geheimversteck hinterlassen, dass ich ihn zu sehen wünsche. Aber das ist alles, was in meinen Möglichkeiten liegt. Wenn er gefunden werden will, dann findet mein Vetter uns - nicht wir ihn! Dessen seid gewiss, Cumpadre!"
"Ein Mann wie Ihr ist bestimmt schon viel in der Welt herumgekommen?", mischte sich nun auch Ismeralda, Dom Juanitos kleine Schwester, in die Unterhaltung der beiden ihr vorausreitenden Männer mit ein. Mit ihren sechzehn Jahren begann sie, flügge zu werden, und es war Juanito seit gestern nicht entgangen, dass das dumme Ding ein Auge auf den feschen Dom Azzato geworfen hatte.
"Das könnt Ihr laut sagen, bezaubernde Domnatella! Doch hielt's mich bislang niemals lang an einem Ort!", antwortete der halb vage und schenkte Ismeralda ein geckenhaftes Lächeln mit seinen perlweißen Zähnen, das deren Herz schneller schlagen ließ.
"Halt den Mund, Ismeralda!", befahl Juanito barsch. "Du bist nur dabei, weil Mutter es so wollte! Die Gegend hier ist nichts für Hofdamen!"
In der Tat waren sie seit Stunden keiner Menschenseele mehr begegnet und waren mittllerweile vielleicht schon gar nicht mehr in Schrotenstein, sondern bereits in Bosqurien, der rauen Grenzdominie im äußersten Südosten des Königreichs. Vor ihnen war der schmale Waldpfad durch eine mächtige umgestürzte Kiefer versperrt. Vielleicht zusammengebrochen unter der Schneelast der letzten Tage. "Obacht!", rief einer der drei Reitknechte, die sie begleiteten. Es war Luciano, Dom Azzatos etwas dümmlicher Knappe, die anderen beiden waren Diener und Dienerin der Familia Dubiana.
"Was ist?", wandte sich der Caballero von San Owilmar zu seinem Escudero um, der mit weit aufgerissenen Augen ins Unterholz deutete: "Da hat sich was bewegt!"
Im nächsten Augenblick war plötzlich überall im Unterholz um sie herum Bewegung, schwere Tannenäste wurden beiseite gebogen und zehn, zwölf oder gar fünfzehn Bewaffnete in etwas zerlumpt aussehender Wintergewandung traten aus dem Wald. Fast alle hielten blank gezogene Säbel und Degen in der Hand, zwei auch gespannte Bögen.
"Die Zwölfe zum Gruß, werte Herrschaften! So leid es uns tut, aber es wird Zeit für Euern Wegzoll! Her mit den Satteltaschen und Euren Klingen!"
Zeitgleich zogen Azzato und Juanito ihre Rapiere, auch Luciano, die beiden Diener und sogar Ismeralda tasteten nach ihren Dolchen.
"Einen Moment!", rief Juanito so laut er konnte. "Ehe wir uns schlagen, will ich sicher gehen, dass wir es nicht umsonst tun! Ist unter euch einer, der Filippo di Lacara heißt oder kennt ihr ihn?"
"Wer will das wissen?", trat ein stämmiger junger Mann, etwa in Juanitos Alter, aber mit dichtem Vollbart, vor, der seinen Caldabreser tief ins Gesicht gezogen trug.
"Ich will verflucht sein!", blinzelte Juanito rätselnd und betrachte den braunen Bart und die gleichfarbigen Locken unter dem Schlapphut genauer. "Alcoron von San Therbûna? Vom Ruhmreichen Banner der Hofjunker Seiner Majestät? Seid Ihr es?"
Der Angesprochene zog grinsend seinen Hut und vollzog eine galante Verbeugung, als sei er noch immer in der Kaiserresidenz zu Punin. "EINJEDER FÜR DAS BANNER! DAS BANNER FÜR EINJEDEN!", antwortete er mit der alten Losung der kaiserlichen Leibgarde aus lauter Adelssprösslingen, die bis vor ein paar Jahren dem Mondenkaiser treu gedient hatten. "Bei meiner Seele, Jungs. Das ist Juanito! Juanito di Dubiana!"
Nun stimmten auch die anderen vermeintlichen Briganteros um sie herum in die freudigen Rufe mit ein, und unter vielen Hüten, die gezogen wurden, erkannte der Dubianer nun ein altbekanntes, wenn auch zumeist bärtiges und etwas verlottert aussehendes Gesicht.
"RUHE!", befahl nun ein weiterer Mann, der aus dem Wald trat, und die unverwechselbare, befehlsgewohnte Stimme verriet Juanito schon, dass er seinen gesuchten Vetter gefunden hatte, der offenbar noch immer der Colonello seines Haufens war - wenn auch nicht mehr ganz so ruhmreich ...
"Ich habe deine Nachricht in der Asthöhle gefunden!", nickte er, "schön dich zu sehen, Vetter ... und noch mehr, dich zu sehen, liebste Base", wandte er sich nun an Ismeralda und hob sie galant aus dem Sattel. Nun bemerkte er auch Azzato, der gerade seine Waffe wieder wegsteckte, und Filippo di Lacara, der Neffe des berühmt-berüchtigten Valedors von Punin, Vesijo de Fuente, baute sich breitbeinig vor dem ihm unbekannten Stutzer auf. "Wer 'isn der Stenz? Wen hast du uns da mitgebracht?", begehrte er zu wissen.
"Azzato von San Owilmar - ein Caballero aus Selaque", stellte ihn Juanito vor. "Er benötigt eure Hilfe, weil seine Herrin gefangen genommen wurde und ihr auf dem kaiserlichen Hoftag zu Ragath der Prozess gemacht werden soll."
Der einstige Colonello pfiff überrascht. "Wir sprechen also über hohe Politik, deren Lauf wir in einer Euch mehr gefälligen Weise ändern sollen? Solche Unterfangen sind nicht billig!"
"Geld spielt keine Rolle!", antwortete Azzato großspurig. "Neben meiner Herrin werden bei diesem Transport auch beachtliche Schätze von einem Ort zum anderen verbracht. Die gehören hernach alle euch! Mir geht es nur um die lebende Befreiung meiner Herrin – möglichst, solange sie noch auf Selaquer Grund und Boden ist."
"Tz tz, nicht so schnell!", hob Filippo di Lacara die Hand. "Ich nehme an, wir sprechen hier von der Bosqurischen Jungfer, Praiosmin von Elenta?"
"Dieselbe!", nickte Dom Azzato. "Der Großinquisitor Amando Laconda da Vanya ließ sie gefangen nehmen und will sie nun wie eine Verbrecherin in ihrer eigenen Chaise nach Ragath karren lassen, damit die Kaiserin dort über ihr Schicksal entscheidet. Aber, wie gesagt, neben meiner Herrin wird auch viel Gold und Geschmeide der Da Vanyas bewegt werden, das dann Euch gehört!"
Dom Filippo schüttelte den Kopf. "Deine feine Herrin, die hier unter uns nur die Selaquer Mastsau heißt, schickte im vergangenen Herbst eine Lanze ihrer Büttel aus, um uns das Räuberhandwerk zu legen. Auch wenn uns diese Rüstzeug- und Waffenlieferung sehr willkommen war", er öffnete seinen Mantel, unter dem er ein Wams in den Selaquer Farben trug, "so wird uns Eure Herrin durch derlei Nachstellungen nicht unbedingt sympathischer. Dazu kommen der Großinquisitor und seine Ordensmänner. Wir sind Hofjunker - die vornehmsten Edelmänner der Krone also! Wir bringen keine Geweihten um! Meine eigene Tante ist die Praetorin Dom Amandos zu Ragath! Soll ich es mir Euretwillen auch noch mit ihr verderben?"
"Eure Tante steht derzeit an zweiter Stelle in der Hierachie der Kirche des Götterfürsten hierzulande", nickte Azzato wissend, der sich dieses Argument schon vorher zurecht gelegt hatte, falls es nötig sein würde, es zu bringen. "Wen also würde man wohl an deren Spitze wählen, sollte dem uralten Großinquitor auf seiner Reise im Gebirge etwas zustoßen? An der Stelle, an der Ihr Skrupel habt, da ihr möglicherweise um Euer Seelenheil fürchtet, da werde ich bereit stehen ..."
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