Chronik.Ereignis1033 LSV 93
Ragath, 3. Praios 1033 BF
Im Tempel der Schönen Göttin (am Abend)
Autor: León de Vivar
Der Vivar schweigt eine Weile und blickt an Domna Mireia vorbei, auf die Liegende Rahja in der Mitte des Tempels. Die Skulptur ist schön, und doch ganz anders als das Göttinnenbild in Santa Catalina, dem Haupttempel des Taubentals. Dort ist es eine lebenslustige, ausgelassen tanzende Rahja, bei deren Anblick man meinen könnte, sie ließe tatsächlich die Hüften kreisen, drehe sich tatsächlich um die eigene Achse, klappere mit den Händen. Die Liegende Rahja im Ragather Haus der Schönen Göttin dagegen lächelt die Gläubigen sinnlich an, stützt ihren wohlgeformten Kopf auf die rechte Hand und hat die linke verspielt auf ihren Hüftschleier gelegt, als wolle sie darauf hinweisen, dass dort noch mehr sei, unbekannte Ekstasen den Gläubigen erwarteten.
'Wie die Göttinnenbilder in jedem Tempel anders sind, so verschieden sind auch die Auslegungen des Göttlichen Willens', denkt er. 'Dort wilder Tanz, bei dem man sich leicht den Fuß brechen kann, hier Anmutigkeit, die schnell zur Trägheit werden kann.'
Dann wendet er den Kopf wieder der Gastgeberin der Leidenschaft zu und lächelt sein gewinnendes Lächeln. "Freilich entsinne ich mich Eures denkwürdigen Auftritts vor fünf Jahren, teure Mireia! Auch wenn wir beide damals noch jünger und unerfahrener in der Politik des Landes waren - wobei Ihr selbstverständlich nur an Erfahrung, nicht an Alter zugenommen habt -, so hat Euer Wort von damals, dass Almada Harmonie dringend benötige, nichts von seiner Gültigkeit verloren. Ja, möglicherweise ist es heute wahrer denn je.
Ich erinnere mich auch an den Grund, warum Ihr damals auf taube Ohren gestoßen seid: einem jungen Rösslein gleich wolltet Ihr die Hürden des Landrechtsbrauchs überspringen und zogt Euch mit Eurem Reformwillen sofort das Misstrauen vieler alter Domnas und Doms zu. Zu Recht, meine ich, denn der Landrechtsbrauch hat der Nobleza immer Sicherheit gegeben.
Zusammen mit Madalena hoffte ich deshalb, dass Ihr noch immer mit ganzer Freude nach diesem hehren Ziel der Harmonie in der Nobleza strebtet. Ich hoffte, dass Ihr mir zustimmtet und aus eigener Überzeugung heraus - nicht, weil ich darum gebeten hätte - bei Eurem Bruder und Eurem Vetter dafür werbtet, mein Ansinnen, das Harmonie schaffen will, gerade indem es auf die alten Traditionen Rücksicht nimmt, zu unterstützen."
Dom León setzt sich in den Kissen auf. "Aber offensichtlich habt Ihr Eure eigenen Wege, den Willen der Göttin zu erfüllen." Er ergreift sanft ihren Kopf und haucht ihr zwei Küsse auf die Wangen. "Es war sehr schön, wieder einmal Eure Gastfreundschaft genießen zu dürfen. Kommt mich doch einmal im Taubental besuchen!", wechselt er zum Abschied das Thema. "Warum kommt Ihr nicht zum Hochfest der Santa Catalina am 11. Travia, schöne Mireia? Nicht nur ich, auch die Colombi würden sich sehr freuen, wenn Ihr uns beehrtet. Überlegt es Euch: Die Prozession ist ein beeindruckendes Spectaculum und der Jahrmarkt ist einer der größten im Tosch Mur!"
Dann kniet er sich vor der immer noch liegenden Tempelvorsteherin hin, blickt sie an, hebt die Hände wie zwei offene Schalen in Brusthöhe, so dass Domna Mireia die ihren darauf legen kann und spricht die rituellen Worte: "Ich bitte um den Segen der Schönen Göttin."
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