Chronik.Ereignis1033 Feldzug Schrotenstein 16

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In der Baronie Schrotenstein, 10. Rondra 1033 BF

Auf den Trauerklippen am Schwarzen See


10. Rondra, abends

Autor: von Scheffelstein

Rot spiegelte sich die Sonne im dunklen Wasser des Sees tief unter ihnen. Der Wind strich warm und sanft über Belisethas Haut. Und doch fröstelte sie, und auch die Anstrengung, die es für sie bedeutete, die steile Klippe zu erklimmen, vertrieb die Kälte nicht aus ihren Gliedern.

Keuchend kämpfte sich der kleine Zug bergauf. Sie waren zu fünft: Die Peraine-Geweihte Nogueira, Belisetha selbst, Jelissa Al'Abastra und der Knappe Alessio, die die Bahre trugen, und Gujadanya, die ihr Krankenlager verlassen und darauf bestanden hatte, ihre Mutter auf diesem ungewissen Weg zu begleiten. Niemand sprach ein Wort, jeder hing den eigenen, bedrückenden Gedanken nach.

Sie hatten ein Tuch über Rifadas Leib gebreitet, gerade so, als wenn sie schon tot wäre, doch kein zufälliger Beobachter sollte den grausigen Anblick zu Gesicht bekommen, die schwarzfaule Haut, die eingefallenen Wangen, die abgetrennte linke Brust.

Endlich erreichten sie die höchste Stelle der Trauerklippen. Bislang hatte Belisetha diesen Teil des Ufers des Schwarzen Sees stets gemieden, hieß es doch, dass sich von hier verschmähte Liebende in den Tod stürzten und ihre Geister nachts ruhelos über dem Wasser schwebten. Doch als sie die Wiese betrat, das wilde, hohe Gras zwischen knorrigen Olivenbäumen und schroffen, dunklen Felsen, violett blühendem Natternkopf und gelbem Hahnenfuß, konnte sie dem Ort seinen Zauber nicht absprechen.

Auf einem Stein am Rand der Klippe saß der alte Mann, Tsacharias Krähenfreund, ein Priester der Ewigjungen, wie Belisetha inzwischen von der Peraine-Geweihten erfahren hatte. Zu seinen Füßen lag der große, schwarzgraue Hund. Das Tier stellte die Ohren auf, als sie sich näherten und blinzelte ihnen träge entgegen.

Domna Jelissa und der Knappe Alessio ließen die Bahre ins Gras sinken. Der Schweiß stand ihnen auf der Stirne, denn auch, wenn Rifada seit Tagen nichts gegessen hatte und man ihr nur vorsichtig gezuckertes Wasser eingeflößt hatte, wog sie noch immer so viel wie eine junge Bärin.

Unschlüssig standen sie um die Bahre herum und warteten, aber der Alte machte keine Anstalten, sich zu erheben, saß einfach da, im Elfensitz, die Hände auf den Knien, und es war nicht zu erkennen, ob er die Augen geschlossen hatte oder ob er auf den See hinaus sah.

Jelissa Al'Abastra trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, und Gujadanya öffnete und schloss ihre Fäuste. "Warum tut er nichts? Wie lange sollen wir noch warten?", flüsterte sie ihrer Mentorin zu, doch diese bedeutete ihr mit einer Handbewegung, still zu sein.

Schließlich trat die Geweihte an den Alten heran. "Meister Tsacharias, Euer Gnaden ..."

Er hob zwei Finger, ganz sacht, und sie schwieg.

Jelissa Al'Abastra zog das Tuch von Rifadas Gesicht und betrachtete sie besorgt. Der Atem von Belisethas Nichte war schwerfällig und flach. Ein dunkles Rasseln kam aus ihrer Kehle, fast wie ein Schnarchen.

Mit einem Mal zeichnete die Sonne einen Regenbogen, ausgehend von einem geschliffenen Kristall, der vor dem Alten im Gras lag. Er stand auf, hob den Kristall auf und einen zweiten Stein, einen großen runden Smaragd.

Bedächtig kam der Alte auf die Gruppe zu, noch immer ohne zu sprechen. Er legte den Kristall neben der Bahre ins Gras, zog das Tuch von Rifadas Leib und warf es hinter sich. Gujadanya, die den entstellten Körper ihrer Mutter bislang nicht gesehen hatte, sog tief die Luft ein. Ihre Lippen zitterten und sie schluckte hart.

Tsacharias Krähenfreund strich Rifada eine verklebte Haarsträhne aus dem Gesicht, fuhr mit den Fingern sacht ihren Hals entlang, über die Schulter, verharrte kurz über der scheußlichen Wunde, die einst ihre Brust gewesen war, glitt den Arm hinunter und ergriff ihre linke Hand. Ohne sie loszulassen, öffnete er sacht ihren Kiefer, fasste ihr in den Mund und zog ihre Zunge heraus. Gujadanyas Schultern spannten sich, aber die ältere Amazone legte ihr eine Hand auf den Arm. Der Alte platzierte den Smaragd zwischen Rifadas Zunge und ihren Zähnen.

"Sie wird ersticken", flüsterte Gujadanya, aber niemand antwortete ihr.

"Nennt mir ihren Namen!", wandte sich Tsacharias Krähenfreund an Belisetha.

"Rifada", antwortete sie heiser. "Rifada Jezebela Almadina da Vanya."

Der Alte nahm das Gesicht der Kriegerin zärtlich in seine Hände und küsste sie auf die Stirn. "Rifada Jezebela Almadina da Vanya", sagte er, "als Kind Tsas bist du in diese Welt gekommen. Mit Liebe hat die Ewigjunge dich betrachtet, wie eine Mutter ihr Kind betrachtet, wie immer es sein Leben auch gestaltet. Sie hat dich begleitet, in guten und in schweren Zeiten, dir Kraft gegeben für steten Neubeginn, was immer dir auch widerfuhr. Sie hat dich nicht zu sich gerufen, noch einer ihrer Brüder oder eine ihrer Schwestern. Nicht der Wille der Götter ist es, dass du diese Welt verlässt, sondern der Wunsch dunkler Mächte, die von deinem Leib und deiner Seele Besitz ergriffen haben. Verzage nicht in der Finsternis, denn nach jeder dunklen Nacht folgt ein lichter Morgen, ein neuer Tag! Folge nicht dem Ruf der Verderbnis, denn deine Zeit ist noch nicht gekommen, dein Werk nicht vollbracht, der letzte Wandel nicht vollzogen!"

Der alte Mann ließ Rifada los und strich mit beiden Händen über ihren Körper, vom Kopf zu den Füßen, meist, ohne sie wirklich zu berühren. "Weichet, ihr Schatten, denn ihr habt keinen Platz, wo das Licht des Regenbogens hinfällt. Weichet, ihr düsteren Mächte, denn ihr habt keinen Bestand, wo der Glaube an die Götter unerschüttert ist. Weiche, Tod, denn du bist nur eine Tür im Wind, die sich zu neuem Leben öffnet."

Zuletzt nahm Tsacharias Krähenfreund den Smaragd von Rifadas Zunge und hielt ihn so, dass das Licht der sinkenden Sonne durch ihn auf die Brust der Kriegerin fiel. "Rifada Jezebela Almadina da Vanya", sagte er, "ich rufe dich zurück ins Leben."

Er machte eine Handbewegung, als werfe er Federn oder Samen in die Luft, und der Stein war verschwunden. Zugleich begannen die Wunden der Sterbenden aufzuplatzen, und dunkle, ölige Flüssigkeit lief über Rifadas Arme und Beine und Brust, über den Rand der Bahre und ins Gras, wo sie versickerte. Das Gras begann zu welken, doch in der Erde waren die hellgrünen Triebe junger Keimlinge zu sehen.

"Wascht sie!", hieß der Alte die Erntemeisterin Nogueria, dann trat er zu seinem Hund, der sich endlich von seinem Platz erhoben hatte und neugierig näher gekommen war. "Raffzahn, mein Guter, hier trennen sich unsere Wege. Es ist Zeit für einen Neuanfang." Er tätschelte dem Tier den Kopf. "Pass gut auf sie auf, mein Bester, und lass es dir gutgehen, sie wird wissen, was sie dir zu verdanken hat."

Er zwinkerte dem Hund zu, der zaghaft mit dem Schwanz wedelte und ihm nachsah, als er durch das Gras davon schritt.

Die Peraine-Geweihte ließ Wasser aus einem Wasserschlauch über Rifadas Leib rinnen. Dort, wo sie die dunkle Flüssigkeit fortspülte, kam rosige Haut zum Vorschein, glatt und unversehrt, als hätte der Dämon Belisethas Nichte nie berührt. Allein dort, wo ihre linke Brust gewesen war, war das Gewebe vernarbt und eingezogen. Rifadas Atem ging ruhig und gleichmäßig wie bei einem schlafenden Kind.

"Ihr Götter!", hauchte der junge Alessio ehrfürchtig.

'Ihr guten, guten Götter!', dachte Belisetha. 'Tsa – wie kann ich dir nur danken?' Sie wischte die Tränen fort, die diesmal vor Erleichterung und Freude über ihre Wangen liefen.

Der Mond war aufgegangen, eine schmale Sichel, hoch über ihnen, wie ein schützender Helm. Bald würde die Sonne untergegangen sein, und über den Bergen im Osten zeigten sich bereits die ersten Sterne.

Belisetha drehte sich nach dem alten Priester um, um ihm zu danken, doch er war nicht mehr da. Sie konnte seine hagere Gestalt gerade noch im Zwielicht zwischen den Bäumen und Felsen ausmachen, wo sie kleiner und kleiner wurde und schließlich am Fuß der Klippe um eine Biegung verschwand.


Chronik:1033
Der Ferkina-Feldzug
Teil 16