Chronik.Ereignis1033 Feldzug Ferkinalager 06
Im Raschtulswall, 25. Praios 1033 BF
Am Fuße des Djer Kalkarif im Raschtulswall
Autor: von Scheffelstein
Als die Schritte des jungen Mannes verklungen waren, brach eine Welle der Furcht über die Edle herein. Ihr Herz machte einen jähen Satz. Alle Gelassenheit war wie fortgespült. Wie, bei allen Dämonen, hatte sie zulassen können, dass er sie band? Panisch riss Richeza von Scheffelstein an ihren Fesseln, aber der Strick schnürte nur um so tiefer in ihr Fleisch.
"Ruhig Blut, Richeza!", sprach sie sich zu. Sie musste einen kühlen Kopf bewahren und die Knoten lösen! Um keinen Preis durfte sie diesen Barbaren in die Hände fallen! Angestrengt versuchte die Edle, das Ende des Seiles zwischen die Finger zu kriegen oder eine Öffnung in dem Knoten zu finden, aber der Strick lag zu fest um ihre Gelenke, sie konnte die Hände nicht bewegen.
Die Füße vielleicht? Richeza bog ihren Rücken durch, streckte die Arme, so weit es ging, doch aller Gelenkigkeit zum Trotz, vermochte sie den Knoten an ihren Füßen nicht zu erreichen. Gerade so berührten ihre Fingerspitzen das Seil, das der verfluchte Bastard um ihre Stiefel gewunden hatte. Der Knoten aber war vorne, da kam sie nicht ran. Nicht, solange ihre Hände hinter ihrem Rücken waren. Richeza streckte die Arme noch weiter und bog sie auseinander, doch so sehr sie sich auch verrenkte, es gelang ihr nicht, Gesäß und Beine zwischen ihren Armen hindurch zu quetschen, um ihre Hände vor ihren Körper zu bringen. Das Seil war einfach zu dick, die Öffnung zu klein und ihre Arme zu kurz.
Die Edle fluchte götterlästerlich. Wenn sie nur an den Dolch in ihrem Stiefel käme! Nach ein, zwei vergeblichen Versuchen sah sich Richeza nach einem Werkzeug um. Dort unter dem Strauch lag ein abgebrochener Zweig! Mühselig robbte die Frau näher an den Busch heran und tastete nach dem Stock. Wieder überstreckte sie ihren Rücken und stocherte mit dem Zweig nach ihrem Stiefelschaft. Zum Namenlosen!, warum waren die Stiefel nur so hoch? Sie zerkratzte sich die Beine, aber weiter als einen Fingerbreit konnte sie den Stock nicht in den Schaft schieben, der Winkel stimmte nicht. Sie musste aufstehen! Im Stehen ging es vielleicht.
Doch es gelang ihr nicht einmal, sich aufzusetzen. Immer wieder fiel sie zurück auf ihren Umhang, den der Elentaner unter ihr auf dem Boden ausgebreitet hatte. Wütend, ohne Rücksicht auf ihre malträtierte Schulter, wippte die Edle weiter. Endlich saß sie. Aber die Versuche, aufzustehen, scheiterten ebenso kläglich. Da das eine Ende des Strickes um ihre Hände und das andere um ihre Füße gebunden war, konnte sie die Beine nicht gerade machen, und schließlich fiel sie zurück auf die Seite. Dieser niederhöllische Bastard! Sie kriegen die Hure, die sie haben wollen! Zornig bäumte die Edle sich auf. Wenn ihr dieser Schandbube je in die Finger geriet, würde sie ihm den Hals umdrehen!
Zunächst aber musste sie den Dolch in ihre Finger bekommen! Die Edle verbog sich, so weit sie konnte, aber mehr als den Rand des Stiefelschaftes berührte sie nicht. Mit einer Hand griff sie nach dem Seilstück, das Hände und Füße verband und fasste es hinter dem Rücken kürzer. Auf diese Weise zog sie ihre Füße näher an ihre Hände heran, Stück für Stück, bis sie glaubte, ihre Knie würden ihr zerbersten. Mit aller Kraft ihrer Linken hielt sie das Seil gespannt, während die Finger ihrer Rechten über den Stiefelschaft fuhren. Warum musste die Dolchscheide nur außen neben dem Schienbein liegen, wieso nicht innen? Und doch: ganz kurz berührten ihre Fingerkuppen Metall. Dann aber vermochte ihre zitternde Hand das Seil nicht länger zu halten, die Spannung ließ nach und Richeza sank keuchend zurück. Unmöglich, mit den gefesselten Händen weit genug nach außen zu gelangen, um die Waffe zu ziehen!
Schwer atmend starrte die Edle in den Himmel. Wie unschuldig der Djer Kalkarif von hier unten wirkte, eingehüllt in einen Mantel aus Schnee und einzelnen Wolken. Wie friedlich und schön die Berge im Sonnenlicht aussahen! Nichts ließ die tödlichen Gefahren erahnen, mit denen sie des nachts oder bei Regen und Sturm dem unachtsamen Wanderer begegneten.
Ferkinas, dachte sie. Das war es also. War sie den ganzen Weg von Ragath hierher gekommen, nur damit ein halbwüchsiger Junge sie diesen Barbaren verkaufte? Sie musste daran denken, wie sie Aureolus von Elenta und seine Mutter gefunden hatte, damals, vor drei Jahren, in einem Zelt der Ferkinas, gefesselt, abgemagert. Damals hatte sie keinen Gedanken daran verschwendet, wie es wäre, den Wilden selbst in die Hände zu fallen. Ob diese Domna Praiosmin ...? Die Worte des Aracener Junkers kamen ihr in den Sinn, bei ihrer ersten Begegnung, ihrem Streit, da er auf der Suche nach entführten Dörflerinnen mit seinen Söldnern die Grenze nach Königlich Kornhammer überschritten hatte. Ich werde diese Bestien stellen und versuchen, die drei Hirtenmädchen zu befreien. Euch würde es vermutlich auch nicht gefallen, als Sklavin bei einer Ferkinasippe zu leben und Nacht für Nacht das Lager mit einem dieser Barbaren zu teilen.
Wütend schrie die Edle auf. Nein! Wie konnte dieses zwölfmalverfluchte Dämonenbalg es wagen, ihr das anzutun? Wieder riss Richeza an den Fesseln, wand sich, strampelte mit den Füßen, um den Dolch aus dem Stiefel zu schütteln, warf sich hin und her und fiel erschöpft zurück auf den Umhang. Eher würde sie sterben, als dass ein Ferkina ... Sie schluckte. Es wäre so leicht, bis zum Wegesrand vorzukriechen, sich über die Klippe zu stürzen. Ein schneller Tod, wenn sie Glück hatte ... Aber sie wollte leben! Und Praiodor: Praiodor brauchte sie! Sie durfte nicht aufgeben!
Noch einmal nahm Richeza alle Kraft zusammen, bog ihren Rücken durch, zog ihre Füße an dem Seil heran, dehnte die Gelenke bis zum Zerreißen, tastete mit den Fingern nach dem Dolch. 'Bitte!', flehte sie im Stillen, ohne zu wissen, wessen Beistand sie erhoffte. 'Bitte! Nur noch ein Stück!' Ihre Fingerspitze berührte Metall. Die Dolchscheide hatte sich vom Stiefel gelöst, war verrutscht, ein Stück nur, aber vielleicht reichte es. Ihre Arme zitterten, Schweiß lief ihre Schläfen hinab, ein zweiter Finger berührte das Heft des Dolches.
Stimmen! Von dort, wo der Elentaner verschwunden war, waren Stimmen zu hören. Er kehrte zurück!
'Komm schon!', dachte Richeza, während ihre Finger den Dolch gegen den Stiefelschaft drückten, um ihn gegen den Widerstand herauszudrücken, fingerbreit um fingerbreit. Die Edle wagte kaum zu atmen. Die Zeit schien stillzustehen. Es gab nur die Waffe und sie, den Dolch und ihre Hand. Warmes Blut lief über ihr Bein, als ihre tastenden Finger sich an der Klinge schnitten. Noch ein Stück, noch ein Stück! Die Stimmen kamen näher. Der Dolch fiel aus dem Stiefel. Fast hätte Richeza laut gelacht. Aber der Kampf war noch nicht vorbei. Es war nicht leicht, mit der Waffe hinter dem Rücken die Fußfesseln zu durchtrennen. Faser für Faser des Stricks gab der Klinge nach.
Nun hörte sie auch Schritte, weiter unten auf dem Weg. Endlich: die Füße frei! Bloß weg! Keine Zeit für die Hände! Aber wohin? Mehrere Stimmen, Ferkinas! Sie würden gleich hier sein. Hastig rappelte die Edle sich auf. Ja den Dolch nicht verlieren! Ihre Beine gehorchten ihr kaum. In die Höhle! Wenn das bloß keine Falle war!
Richeza stolperte vorwärts. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit. Die Höhle verjüngte sich zum Ende hin ein wenig. Halbhoch begann eine Spalte, die tiefer in den Berg hinein führte. Doch ohne Hände kam sie da nicht hinauf. Wohin nur? Da unter dem Felsblock: ein Riss! Wenn er ja tief genug war!
Die Frau ließ den Dolch fallen und legte sich auf den Bauch. Mit den Zähnen fasste sie nach dem Knauf der Waffe. Schlängelte sich vorwärts, zog den Dolch mit sich. Weiter in den Riss hinein. Götter, war das eng! Wenn sie stecken bliebe, käme sie nie mehr heraus, mit den gebundenen Händen. In der Dunkelheit stieß sich Richeza den Kopf. Spärliches Licht kam von hinten, vor sich sah sie nichts. Weiter!
Von draußen kamen aufgeregte Stimmen. Rufe. Schritte. Richeza blieb liegen und hielt den Atem an. Mindestens zwei Leute waren in der Höhle, vielleicht mehr. Ob man sie sah? Oder war es dunkel genug? Eine Stimme war ganz nah. Ein Ferkina. Seine rauen Worte hallten von den Wänden wider. Er bückte sich. Selbst wenn er sie entdeckte: Hierher würde er ihr nicht folgen können. Sie würde einfach nicht herauskommen. Aber dann fiel ihr ein, dass der junge Elentaner sie einfach hatte fesseln können, ohne dass sie sich gewehrt hatte. Was, wenn er ihr befahl, herauszukommen? Mit klopfendem Herzen harrte die Edle ihres Schicksals.
Die Schritte entfernten sich. Wieder wütende Rufe vor der Höhle. Endlich wurden die Stimmen leiser. Verstummten. Nur der Wind pfiff durch den Höhleneingang. Ein klagender, drohender Laut.
Richeza wartete. Ihr Herz schlug langsamer. Ihr wurde kalt. Sie musste hier hinaus, solange sie noch Kraft hatte. Langsam kroch sie rückwärts. Zog den Dolch mit.
"Such, Qualalahina! Finde die Frau! "
Richeza erstarrte. Da war jemand am Höhleneingang. Kein Ferkina? Aber ein Mann. Zu ihrem Erstaunen sprach er Tulamidisch, sodass sie jedes Wort verstand.
"Niemals wird dieser Sohn einer räudigen Hündin meinen Platz einnehmen! Ich bin der Nuranshâr! Ich habe die Macht! Mir gehorchen die Geister! Ich werde dem Shâr die Erwählte bringen: die richtige - oder die falsche."
Die Stimme des Mannes wurde vom Wind in die Höhle getragen. Ein wütendes Zischen, vielfach zurückgeworfen.
"Such, Qualalahina!", hallte es von den Wänden wider. "Sie kann nicht weit sein."
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