Chronik.Ereignis1027 Tulamidische Reise 04
Oase El'Ankra, 13. Peraine 1027 BF[Quelltext bearbeiten]
Im „Edlen Salon“ des Sultanspalastes (2. Boronstunde)[Quelltext bearbeiten]
Autor: León de Vivar
Dichter weißer Rauch sammelte sich unter der Decke des prächtigen Zimmers. Er war das aufgestiegene Ergebnis intensivsten Wasserpfeifengenusses. Seit drei Stunden saßen die sechs Männer hier – dementsprechend schwer und stickig war die Luft – und berieten über das bevorstehende Handelsabkommen.
Im Zentrum eines Halbkreises lagerte auf der Haut schmeichelnden Seidenkissen Sultan Khorim ben Suleyman.
Zu seiner Rechten saßen, aufrecht wie Kerzen, zwei Greise: der Sheikh von Alam-Terekh, Achtev Al’Qub ben Gaftar, schon zahnlos, und der weise Rafim ben Sahil, Mawdli von El’Ankhra.
Zu seiner Linken ruhte ein nachdenklich dreinblickender Mann von etwa 40 Jahren. Das war des Sheikhs ältester Sohn Haschabnah ben Achtev, der von allen nur Abu l-Ketab[1] geheißen wurde, weil er so belesen war – und weil er mehr ein Mann der Schrift als der Tat zu sein schien.
Sein kleiner Bruder, der verschlagene Hamid ben Achtev, kniete in der Nähe des Ausgangs. Aufgrund seines geringen Alters war er lediglich dafür zuständig, dass die Kohle auf den Pfeifen stets heiß war, die Becher niemals des Tees aus duftenden Kräutern entbehrten und genügend Gebäck und getrocknete Früchte die ziselierte Silberplatte bedeckten.
Ihnen allen gegenüber saß der junge León Said ben Dhachmani. Er hatte eine eigene Wasserpfeife und auch eine eigene Fruchtschale vor sich, weil er ein Ungläubiger war. Ein weiteres Resultat der unterschiedlichen Religionen war, dass ihn der Mawdli und der Sheikh weder anblickten noch mit ihm sprachen, sondern ihre Worte stets an den Sultan adressierten.
Die Verhandlungen waren schon recht weit gediehen. Die drei Karawanen der Dhachmanis würden auf ihrem Weg von und nach Khunchom unbehelligt durch das Stammessultanat der Beni Ankhara ziehen dürfen. Dafür würden der Sultan und der Sheikh Tribute erhalten und selbst eigene Produkte verkaufen und Nordlandwaren erstehen. Eben fragte der alte Sheikh: „Am Banner der weifen Lilie werden wir alfo die Kâfila[2] der Dhachmani erkennen?“
Nickend bekräftigte der junge Tulamide dies und Achtev, dessen Zustimmung es als Sheikh des betroffenen Gebietes bedurfte, deutete dem Sultan an, dass er mit dem Besprochenen einverstanden sei.
Ein strahlendes Lächeln breitete sich auf des Dhachmani schönen Gesicht aus. „Es freut mich, dass wir uns einig wurden. Dann können wir…“
„Wie ich hörte, ist dein junger Bruder noch unverheiratet, Said?“, unterbrach ihn der Sultan. „Meine älteste Tochter hat ihn gesehen. Sie ist im heiratsfähigen Alter. Vielleicht ließe sich der Handel mit einer Hochzeit bekräftigen?“
Das Strahlen auf dem Gesicht des jungen Mannes erstarb. „Mein… Bruder?“, brachte er nur hervor.
Mit gütigem Lächeln nickte Sultan Khorim ben Suleyman. Er konnte das Zögern Saids verstehen. Schließlich war Laila die Tochter eines Fürsten, sein Bruder aber gerade einmal vom Geblüt eines Handelsherr.
„Ich fürchte…“, ächzte Said, nachdem er schnell eine Dattel zur Beruhigung gegessen hatte, „dass das nur schwer möglich ist, großmächtiger Sultan…“
„Warum nicht, o Said?“
„Weil…“, zögerte dieser. „Es… es ist nicht einfach zu sagen, o Khorim Al'Zagal[3].“
Verwundert runzelten die fünf Novadis bei diesen Worten die Stirn und blickten sich an. Warum geriet der junge Said, der so vollendet von Ballen und Tüchern und Freundschaft sprechen konnte, so ins Stocken, wenn die Sprache auf das Heiraten kam?
„Mafh’Raftullah![4]“, lispelte der zahnlose Sheikh, „ich begreife diefen Fohn der verfchlungenen Rätfel nicht! Fein Bruder ift reich, angefehen, ein guter Reiter – wie er bei der Jagd vor zwei Tagen bewief – hat Anftand, Geift und Kühnheit und ift dazu von feltener Fchönheit. Ein idealer Fchwiegerfohn – wie er felbft auch, wäre er kein Giaur[5] .“
Der junge Händlersohn lächelte höflich über das Kompliment und sprach: „Es ist etwas… verschlungen, in der Tat. Mein jüngerer Bruder ist… ich glaube, er… er ist nicht fähig, zu…“ – er beugte sich vor, deutete dem Sultan an, es ihm gleichzutun und flüsterte die letzten Worte – „nicht zeugungsfähig.“ Und das war noch nicht einmal gelogen. Denn Said hatte keinen jüngeren Bruder – wie sollte dieser dann zeugungsfähig sein? Er lehnte sich wieder zurück und nippte an seinem Tee. Verständnisvoll nickte der gerechte Khorim und Said nahm einen tieferen Schluck, innerlich dem Grauen Fuchs für diesen Einfall dankend, der ihn abermals vor einer direkten Lüge bewahrt hatte.
„Das ist schade, junger Said. Denn meine Tochter war augenscheinlich von ihm beeindruckt. Aber dann soll sie dich heiraten, Schließlich bist du auch noch allein in deinem Zelt.“
Der junge Dhachmani verschluckte sich an seinem Tee und begann heftig zu husten. ‚Liebliche Rahja!’, dachte er. ‚Ist Khorims Tochter so hässlich, dass er sie unbedingt loswerden will?’ „Vielleicht“, keuchte er dann atemlos, „ist der Fehler bei meinem Bruder doch nicht so… ausgeprägt, wie ich fürchtete, Sahib. Auf jeden Fall… wäre er eine bessere Wahl als ich… und er sollte auch mitsprechen – schließlich ist er erwachsen.“
Nach einigem Nachdenken gab der Sultan seine Zustimmung. „Aber wo ist er eigentlich?“
„Ich werde ihn holen, wenn es dir gefällt, mein Fürst.“ Eifrig sprang Hamid auf und hatte den Raum verlassen, ehe Said sagen konnte, dass er doch lieber selbst nachsehen wolle.
In einem Gästezimmer des Sultanspalastes (gleich darauf)[Quelltext bearbeiten]
Tat das gut! Endlich einmal alle Poren des Körpers von Staub und Schmutz reinigen zu können, war eine Wonne! Die zauberhafte Delilah Dhachmani de Vivar saß in einem Badezuber und wusch voll Genuss ihren wunderbaren Leib. Nachdem ihr Bruder ihr seit dem Verlassen Omlads nur zweimal gestattet hatte, die Kleider abzulegen und neue anzuziehen, war es einfach wieder an der Zeit gewesen.
Mühsam befreite sie ihr eigentlich seidig weiches Haar von Filz und Fett. Dabei sang sie mit heller Stimme eine selbst erdachte Melodie. Sie hatte es zu Beginn ganz reizvoll gefunden, ihre Weiblichkeit zu verbergen, wie es ihr Tante Yashima geraten hatte. Mittlerweile war sie die Scharade aber Leid. Es war so viel umständlicher, ein Mann zu sein! Nicht nur, dass frau zum Wasserlassen stets unbeobachtete Örtlichkeiten zu den seltsamsten Zeiten aufsuchen musste – nein, nun hatte sich auch noch Laila, eine der Töchter des Sultans, in sie verguckt! Jeden Tag stand sie hinter dem Gitter auf der anderen Seite des Hofes und starrte herüber. Sogar ein Gedicht hatte sie Delilah schicken lassen. Seufzend nahm sie das mit einer runden Handschrift von rechts nach links beschriebene Blatt zur Hand, das auf einem Hocker gelegen hatte und las es erneut laut:
Dich nicht finden.
Ich rief laut nach Dir vom Minarett.
Ich läutete die Tempelglocke
Beim Aufgang und Untergang der Sonne,
Ich badete vergebens
Im Mhanadi, enttäuscht kam ich
Vom Bethaus zurück.
Ich schaute mich um auf der Erde,
Ich suchte nach Dir im Himmel,
Mein Geliebter,
Aber zuletzt habe ich Dich
Gefunden als verborgene Perle
In der Muschel
Wenn Laila das wirklich selbst geschrieben hatte, war es gar nicht übel.[6]
Nachdem sie ihre Körperpflege beendet hatte, erhob sie sich wie eine junge Göttin aus dem hölzernen Zuber, nahm ein fein gewebtes Leintuch und wickelte es um ihren Körper. Erneut begann sie zu singen und tanzte leichtfüßig durch das Gemach, das Tuch wie einen Schleier herumwirbelnd. So hörte sie nicht, wie es an der Tür klopfte.
Erst als Hamid ben Achtev bereits den Raum betreten hatte, nachdem er „Rastullah karim![7]“ gerufen hatte, mit offenem Mund vor ihr stehen blieb und auf ihre sich durch das feuchte Laken nur allzu deutlich abzeichnenden weiblichen Formen starrte, bemerkte sie, dass sie nicht mehr allein war. Abrupt brach sie den sinnlichen Tanz ab und schrie mit entsetzt aufgerissenen Augen: „Yallah barra![8]“
Der junge Mann dachte nicht lange nach. Vor ihm stand eine Frau, wie es auf der ganzen Welt keine schönere geben konnte. Sie musste vom Herrn selbst mit Dschella gezeugt worden sein – oder mit Khabla. Und sie hatte ihm befohlen, zu verschwinden. Er wollte ihrem Befehl Folge leisten – aber er würde sie mitnehmen und zu seinem Weib machen.
Im „Edlen Salon“ des Sultanspalastes (2. Hesindestunde)[Quelltext bearbeiten]
Die fünf Männer waren ungeduldig geworden, am meisten der junge Said. Die Pfeifen waren erloschen, der Tee getrunken. Der Mann, der nach langer Zeit hereinkam, war jedoch weder Hamid noch Amando, sondern der einen prächtigen Turban tragende Wesir, Djadir ben Saiman, der bleich und zitternd auf den Sultan zustürzte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. In seiner Aufregung sprach er jedoch so laut, dass alle ihn verstehen konnten: „Hamid hat Amando entführt!“
„Aïb Aleïhu![9]“, zischte der Mawdli.
„Châra![10]“, presste der Sheikh zwischen dünnen Lippen hervor.
„Mein eigener Bruder!“, rief Abu l-Ketab.
„Selemie! In meinem Haus!“, stöhnte der Sultan.
Und Said? Der war schon aus dem Raum herausgestürzt und eilte zu den Ställen.
„Yallah! Ihm nach!“, brüllte Rafim ben Sahil, „der Giaur darf Hamid nicht als Erster erreichen! Du und dein Haus wären auf ewig entehrt, Sultan! Das deine, Achtev, ist es bereits, wenn dein Sohn überlebt.“
Eilig hetzten die alten Männer zum Ausgang.
Der Erstgeborene des Sheikhs aber sprach ruhig: „Ich werde meinen Bruder töten.“
In der Wüste (2. Tsastunde)[Quelltext bearbeiten]
Dem auf einer Düne sitzenden Sandwolf bot sich ein seltsamer Anblick im Licht der Abendsonne.
Durch den noch heißen Wüstensand preschte auf einem schnellen Shadif ein Reiter, hinter sich eine junge Frau quer über den Pferderücken gebunden. Ihm folgte in einem sich immer mehr verringernden Abstand wie ein leibhaftiger Djinn des Sandes von aufrechtem Zorn getrieben der junge Said im weißen Kaftan. Seinen blauen Turban hatte er verloren und so wallte sein schwarzes Haar im Wind.
Nur wenige Schritte hinter diesem wiederum ritt der Bruder des Missetäters, die Dschadra in der Hand. Er presste sich flach auf de Rücken seines Rosses, um schneller zu sein.
In noch größerem Abstand, doch immer noch in atemberaubendem Tempo, folgten der Sultan, der Sheikh und der Wesir mit ihren Kriegern.
Hamids Flucht sollte nicht lange dauern, denn bald war Said heran und zückte Dolch und Degen. Von hinten flog eine Dschadra, von Haschabnah mit Verzweiflung geschleudert, heran, doch sie verfehlte den Brecher des Gastrechtes knapp.
Der kräftige Said aber sprang Hamid an, so dass beide vom Pferd stürzten. Der Angreifer landete unten und verlor den Degen. Von Todesangst beflügelt, drückte Hamid ihn in den Sand, beugte sich über ihn und zückte den Waqqif. Tief drinnen wusste er, dass er verspielt hatte – und das schon, als er das Weib in der Kammer erblickt hatte. Doch sein rascher und umherirrender Geist wollte es nicht wahrhaben. ‚Wenn ich den Giaur töte…“, dachte er. Weiter kam er nicht.
Denn Said hatte ihm seinen Dolch von unten in den Magen gerammt. Er stieß den Stöhnenden von sich und rappelte sich auf. Ihn nicht weiter beachtend, schwang er sich wieder auf seine Stute, um seine Schwester vor den anderen zu erreichen.
Doch es war schon zu spät: Haschabnah hatte Hamids Ross eingeholt und staunte nicht schlecht, als er die bewusstlose Frau entdeckte: „Rastullah karim! Amando ist ein Weib!“
„Rühr’ sie nicht an!“, fauchte Said und entriss ihm die Zügel. Eilig sprang er ab und befreite die Göttinnengleiche von ihren Banden. „Delilah! Geht es dir gut? Hat er dir etwas getan?“
Nur langsam fand die junge Frau aus Borons Traumwelt in die reale zurück, in der ihr Bruder, bestrahlt von der untergehenden Sonne, sie in den Armen hielt. „Wo…?“, hauchte sie. Ein Zittern ging durch ihren Körper.
Er küsste sie auf die Stirn. „Alles ist gut. Es ist ja alles gut.“
Haschabnah schenkte den beiden einen undefinierbaren Blick. Dann machte er kehrt und ritt zu seinem Bruder zurück, der sich im Sand krümmte. Langsam stieg der große Mann ab und zog seinen Khunchomer. „Du Wurm“, spuckte er aus, „du bist es nicht wert, Sohn deines Vaters zu sein.“ Und Haschabnah erschlug Hamid.
Groß war das Wehgeschrei der drei älteren Männer um den Bruch des Gastrechtes und die ewige Schande, die nun auf ihnen und ihren Sippen bis zur dritten Generation lag. Ein regelrechter Streit brach aus, bei dem der greise Wesir den noch greiseren Sheikh „und seine gesamte Sippschaft“ für alles verantwortlich machte. Beinahe hätten die beiden Alten die Klingen miteinander gekreuzt, wenn nicht Said, der sich davon überzeugt hatte, dass es Delilah bis auf einen leichten Schock gut ging, zu dem ihn verstört anblickenden Haschabnah gesagt hätte: „Sag den drei Männern, dass die aufhören sollen, wie alte Waschweiber zu keifen! Die Angst, dass etwas Derartiges geschehe könnte, ließ mich meine Schwester verhüllen. Dieser jämmerliche Wicht, der nun im Staub liegt und einst dein Bruder war, raubte sie dennoch. Die Väter können nichts dafür, was die erwachsenen Söhne tun. Ich werde ihnen vergeben, denn es ist meiner Schwester, Dank sei den Göttern, nichts Entehrendes widerfahren. Sie ist Entführungen gewohnt.“
So geschah es, dass Leon Said Dhachmani auf neun mal neun Jahre freies Geleit für alle Karawanen, die eine weiße Lilie führten, gewann. Dazu Geschenke – Waffen, edles Erz und Kostbarkeiten. So zeigten sich die Häupter der Beni Ankhara erkenntlich für seine Milde. Er gewann jedoch auch – was ihm hundertmal teurer war – in Haschabnah Abu l-Ketab einen treuen Freund.
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- ↑ Die fiktive junge Dame kann freilich nicht dichten. Auch dem Autor fehlen dafür Muße und Muse. „Ich suchte Dich“ stammt irdisch vom Sufimeister Hazrat Inayat Khan (1882-1927).
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