Chronik.Ereignis1036 Besuch im Vanyadâl 38

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Kaiserlich Selaque, 18. und 19. Tsa 1036 BF

Im Vanyadâl und auf dem Castillo da Vanya

Autor: von Scheffelstein

18. Tsa, morgens

Unheilvoll leuchteten die schneeschwangeren Wolken im Süden: schwarz und gelb und rot. Als hätte der Schänder der Elemente einen Höllenschlund über dem Gebirge geöffnet. Und wie viel eher mochte Richeza von Scheffelstein y da Vanya in diesem Moment glauben, der Djer Ragaz sei ein Tor in eine Domäne der ewigen Verderbnis der Niederhöllen als vielmehr, wie manche über die Feuerberge behaupteten, ein Zugang zu Ingerimms Esse in Alveran?

Und der Schnee, der, weiß und unschuldig, in dicken, schweren Flocken auf die Särge fiel, war er nicht auch das Element des siebenmal verfluchten Fürsten von Frost und Kälte? Hatten die Pforten der Hölle sich geöffnet, um ihre grausamen Herren in die Welt zu entlassen? War das letzte Zeitalter gekommen, der letzte Tag, war die letzte Stunde schon eingeläutet?

Gong-gong-gong!, hallte es aus der Burg. Dort, wo sich einst die Waffenkammer der Burgherrin im Bergfried befunden hatte, ragte noch immer das vom Blitzschlag vor mehr als drei Jahren zerstörte Mauerwerk auf. Bis vor wenigen Tagen hatte es an Geld gefehlt, den Turm vollständig wieder errichten zu lassen. Stattdessen hing dort unter freiem Himmel eine Glocke an einem Seil, um die Vanyadâler vor nahenden Ferkinas zu warnen. Heute aber verkündete die Glocke nicht den Angriff der Wilden, sondern, so schien es Richeza, das Ende der Welt.

"Und so mögen sie ruhen in des Herrn Boron Namen und auferstehen an der Herrin Rondra Seite, bis die Leuin sie wird rufen zur letzten Schlacht. Frieden ihren Seelen von jetzt ab auf immerdar."

Ein Grollen zerriss die Eisesstille, und die Wolken über den Hängen des Raschtulswalls leuchteten für einige Augenblicke heller als zuvor.

Die letzte Schlacht. Vielleicht sehen wir uns bald wieder, dachte Richeza. Aber nein. Wenn das Ende nahte, würde sie in ewige Finsternis und Kälte stürzen. Sie war keine Heldin. Niemand wartete auf sie. Niemand brauchte sie.

Stumpf sah die Edle den Boronknechten dabei zu, wie sie die Eichensärge aufnahmen und, einen nach dem anderen, in die Gruft trugen.

"Komm, mein Kind", sagte der Großinquisitor. Seine Finger berührten weich und kalt Richezas Wange. "Lass uns hinauf gehen zu Belisetha. Es gibt vieles zu besprechen."

Richeza antwortete nicht. Belisetha war nicht herunter gekommen. Sie saß in Decken gehüllt am Kamin. Würde vermutlich nie wieder laufen können. Der Inquisitor und sein Neffe, der Schrotensteiner Baron, machten sich auf den Rückweg zur Burg. Amando Laconda in einer Sänfte, Lucrann zu Ross.

Nur die Achmad'sunni betrat die Gruft hinter dem Prediger und seinen Dienern. Richeza hörte sie weinen. Jelissa Al'Abastra war keine Frau, die nah am Wasser gebaut hatte. Aber wer wollte es ihr verdenken? Sie hatte ihre Geliebte verloren und deren Tochter, die ihr wie eine eigene gewesen war. Richeza trat in den Eingang, blickte die Stufen hinab in den von Fackeln beleuchteten Grabraum. Steinsärge, alt. Eichensärge, zwei davon neu. Zwischen ihnen die Amazone, eine Hand auf jedem Sarg, kniend, den Rücken vor Gram gebeugt.

Richeza hatte keine Tränen. Man weinte nicht am letzten Tag um ein einzelnes Leben. Nicht einmal um zwei. Der Widerschein des Höllenfeuers am Horizont hieß jede Träne verfrüht gefallen. Entweder, dies war ein Alptraum, und sie würde bald erwachen. Oder es war ohnehin alles egal.

Jelissa Al'Abastra hörte ihr Atmen und hob den Kopf. Richeza begegnete ihrem Blick stumm, ihren Tränen ohne Gefühl. Als die ältere Frau den Mund öffnete, um sich zu erklären, wandte die Edle sich ab, schritt durch den knirschenden Schnee und die klirrende Kälte hinauf zur Burg. Zu Fuß. Wartend auf den Morgen, auf die Sonne, die sie wecken würde. Aber dieser Tag kannte keine Sonne und keinen Morgen. Die ewige Nacht hatte gerade erst begonnen.


Autor: von Scheffelstein

19. Tsa, vormittags

Richeza wischte mit dem Handschuh Schnee von dem Mauerstumpf. Ein falscher Schritt, und sie fiele dreißig Schritt in die Tiefe und zerschellte auf dem gefrorenen Burghof wie eine überreife Frucht. Der Vergleich ließ sie schaudern. Ihrer Kehle entrang sich ein Schluchzen. Alle Tränen, die am Vortag undenkbar geschienen waren, waren an diesem Morgen in Sturzbächen über ihre Wange geflossen und hatten kleine Löcher in den Schnee getropft.

Über dem Raschtulswall schien die Morgensonne blass durch den Wolkenvorhang. Der Djer Ragaz schwieg. Über seinen Hängen hing grauer Rauch. Als wäre nichts gewesen. Als würde das Leben nach dem Weltenende einfach weitergehen.

Wieder schluchzte Richeza auf, griff schwankend nach dem Glockenzug, und ein einzelner heller Ton dröhnte über die Burg, das trauernde Vanyadâl. Ihre Burg. Ihr Dorf. Ihr Tal.

"Ich hasse Euch für dieses Erbe!", brach sie mit zitternder Stimme hervor, ehe ein weiterer Tränenschwall gänzlich andere Laute aus ihrem Munde lockten, das Heulen und Wimmern einen gequälten Tieres.

In ihren Ohren klang nicht ihr eigenes Weinen wider, nur ein Lachen, erfreut, amüsiert, stolz. Gerade hier, an diesem verfluchten Ort, hatte sich in wenigen Augenblicken die von Furcht und Ärger bestimmte Beziehung zu ihrer Tante verwandelt in ... ja was? Hoffnung? Zugehörigkeit? Tochterliebe? Na, sieh mal einer an, hörte sie Rifada da Vanyas Stimme in ihrem Kopf. Sah ihr Grinsen, die in die Hüften gestemmten Hände, spürte deren grobe Finger anerkennend auf ihrer Schulter.

Ein neuer Gedanke: Ich würde Dich jederzeit mit meinem eigenen Leben verteidigen. Namenloser Schmerz. "Eine Lüge!", flüsterte Richeza. "Eine Lüge!" Und später, vor gar nicht langer Zeit, hatte ihre Tante nicht da gesagt, sie, Richeza, sei wie eine Tochter für sie? "Eine Lüge!", schrie Richeza heiser in den verräterischen Morgen hinaus und ließ das Glockenseil los, und die Glocke schwang mit einem weiteren Dröhnen zurück. Rifada war ihrer geliebten Tochter in den Tod nachgefolgt. Ihrer wahren Tochter. Ihrer einzigen Tochter. Ihrer geliebten, zu früh verstorbenen, grausam getöteten Erbin. Rifada hatte ihr Leben für eine Tote gegeben. Für blindwütige Rache.

Und jetzt saßen sie gewiss schon zusammen, Mutter und Tochter, lachend an Rondras Tafel, tranken Wein bis in alle Ewigkeit, bis zum letzten Tag, wenn sie wider das Böse ziehen würden, wider die Finsternis. Und dann, an diesem Tag, würde Richeza auf der anderen Seite stehen. Als Sünderin und Frevlerin und Lügnerin, als Götterlästerin und Götterhasserin, als diejenige, die alles Übel über jene gebracht hatte, die sie liebte und die ... – Richeza trat einen Schritt näher an den Abgrund heran – ... die zurückgelassen worden war. Wieder einmal. Alle starben. Oder verließen sie. Verstießen sie. Verlachten sie. Allen war sie gleichgültig. Ihr Schmerz. Ihre Angst. Ihre Einsamkeit.

Kleine Steine lösten sich unter Richezas Füßen, sprangen einmal, zweimal auf und fielen dann beinahe senkrecht in die Tiefe. Hier war sie also: schwanger mit einem Bastard, Erbin einer Ruine, einer Blutfehde und eines ewig währenden Schuldgefühls. Wenn sie sich nie an ihre Tante gewandt hätte in ihrer Not, wenn nur ein einziger Augenblick anders verlaufen wäre, wäre Gujadanya dann noch am Leben und Rifada auch?

Hör auf!, schrie es stumm in ihrem Kopf. Noch ein Schritt. War das rutschig! Hör auf, Richeza! Ein verklärtes Lächeln. Stets war sie zu feige gewesen für den letzten Schritt. Das unterschied sie von ihrer Tante. Richezas Todesverachtung war nicht mutig. Es war nur eine kindische Albernheit. Ein Hilferuf. Aber diesmal würde kein Graf in schimmernder Rüstung auf weißem Ross sie von Golgaris Schwingen heben und zurück ins Leben küssen. Richeza atmete tief ein. Einfach Augen zu und ... Hör auf, Mutter!

Sie erstarrte. Hör auf, hör auf! Bitte, hör auf! Leben. Sie trug ein Leben in sich. Verantwortung!

Der Wind trug eine Stimme zu ihr herauf. Dumpfe, schwere Schritte auf der steinernen Wendeltreppe. Der Wind zerrte an ihren Haaren, ihren Kleidern. Wie furchtbar nah sie am Abgrund stand, und nirgendwo gab es etwas, wo sie sich festhalten konnte!

Ein Schnaufen und Keuchen hinter ihr, ein Knirschen auf der verschneiten Plattform, die früher einmal eine stolze Rüstkammer gewesen war.

"Ach, hier seid Ihr! Was, bei den Zwölfen ...?" Eine kräftige Hand packte ihren Arm von hinten, zerrte sie vom Abgrund weg, drückte sie gegen die Mauerreste des Treppenaufgangs. "Was macht Ihr da? Seid Ihr verrückt geworden?" Lucrann da Vanyas Atem schlug ihr warm ins Gesicht. Der Wind wehte sein schwarzes Haar zurück. In seinem allmählich ergrauenden Bart hingen Schneeflocken. "Wir haben Euch gesucht." Er hielt sie noch immer fest. Sein Griff, hart und unnachgiebig, erinnerte sie an den Rifadas. Tränen stürzten in Richezas Augen.

Lucrann starrte sie an. Er war viel kräftiger und massiger, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte, der schwere Wintermantel verlieh ihm etwas Bärenhaftes. Vor vielen, vielen Jahren, als Richeza noch jung und zornig und das Leben noch ein ganz anderes gewesen war, war er ein fröhlicher, stolzer Mann gewesen, glatt rasiert und kurz geschoren, der in blinkender Rüstung in seinem Streitwagen durch Schrotenstein gefahren war. Wortkarg, aber durchaus wortgewandt. Das Leben schien ihn um Sprache und Lächeln betrogen zu haben. Als einer der wenigen, erinnerte sich Richeza, hatte er den unheiligen Krieg und die Schlacht gegen den Dämonenkaiser überlebt.

Sie weinte stumm, und er sah ihr zu, als wären Tränen etwas gänzlich Befremdliches. Dann ließ er sie los, tastete mit Bärenpranken unter dem Fellmantel und zerrte ein Taschentuch hervor, das gewiss auch schon bessere Tage gesehen hatte. "Hier!"

Sie wischte sich das Gesicht ab.

"Ist es wegen Rifada?" Er wartete eine Antwort gar nicht ab. "Das Leben geht weiter, Domna Richeza. Das Leben geht immer weiter." Er nahm ihr das Taschentuch wieder ab und musterte sie. "Und jetzt?", fragte er, und nickte in Richtung ihres Bauches, der unter Kleid und Mantel freilich wohl verborgen lag. "Habt Ihr Euch schon entschieden?"

Richeza öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass ihre ihr bis vor kurzem noch so fremde Familia so unverhohlen über ihre Zukunft diskutierte, als sei sie ... eine Zuchtstute?

"Ihr seid jetzt die Erbin unseres Hauses", verbesserte der Schrotensteiner sie, als habe er ihre Gedanken erraten. "Sie werden Euch nicht in Ruhe lassen, solange Ihr den Namen Eurer Mutter zu tragen gedenkt. Schon gar nicht ... " Er nickte wieder bedeutungsvoll in Richtung ihres Leibes.

Richeza merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht kroch, aber ehe seine so nahe Gegenwart ihr unangenehm wurde, wandte er sich ab, legte die bloßen Hände auf einen Mauersims und blickte über das verschneite Land, die Berge, irgendwohin nach Süden, wo fern, aber nicht zu fern, Schrotenstein lag.

"Ich habe nicht darum gebeten", sagte sie heiser.

Er wandte den Kopf, die Hände noch immer aufgestützt, grinste unter dem dichten Vollbart. "Kommt schon: Junkerin und Fürstenerbin ist kein schlechter Aufstieg für eine Landedle."

"Drauf geschissen!", zischte Richeza.

Er nickte. Wandte sich wieder dem Panorama zu. Viel zu sehen gab es allerdings nicht. Berge. Wolken. Ein paar Felder. Schnee. "Sie werden binnen Tagen einen geeigneten Namen von Euch hören wollen. Bevor das mit Euch offensichtlich ist. Gibt es den? Einen geeigneten Namen?" Wieder ein Blick über die Schulter.

"Was geht Euch das an?"

"Eine Menge, werte Domna Richeza. Noch drei Jahre, fünf oder spätestens zehn. Dann werdet Ihr meine Soberana sein."

Richeza klappte die Kinnlade herunter. Ihre Knie zitterten. "Ihr ... Ihr meint ...?"

Er lachte. Dunkel. Freudlos. "Sagt nicht, das war Euch nicht bewusst?"

Panik brach aus. Eine beinahe vernichtende, namenlose Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Schluchzend schlug sie sich die Hände vors Gesicht. "Rifada", weinte sie, "warum?", sich wohl bewusst, wie sehr ihr jämmerlicher Anblick ihre Tante verärgert hätte.

Lucrann schien es nicht anders zu gehen. Mit zwei großen Schritten war er wieder heran, zog ihr die Hände vom Gesicht, hielt ihre Handgelenke fest umklammert. "Hört – um der Götter Willen! – auf zu heulen!" Sein Blick war beinahe zornig. "Glaubt Ihr, ich sei froh über ihren Tod? Ihre Querellas haben den Blick stets von mir gezogen. Ihr Tod bereitet mir mehr Probleme, als Ihr Euch vorstellen könnt! Er kommt mir ganz und gar ungelegen!"

Richeza hing wie ein Kind in seinem Griff, ohne jeden Wunsch, sich zu wehren. Erstmals kam ihr der Gedanke, dass Lucrann da Vanya ihr Onkel war. Vielleicht war sie doch nicht allein!

Lucrann ließ sie los, sah sie an, bis das Zittern nachgelassen, sie ihre Tränen abgewischt hatte. Seine Augen wanderten über Ihr Gesicht. "Wisst Ihr", sagte er, "nicht immer kann man heiraten, wen man möchte. Nicht immer, wen man liebt."

"Wie meint Ihr das?"

Sie sahen sich stumm an, dann lächelte er leicht. "So ist das? Wer hätte das gedacht? Die unnahbare kleine Scheffelstein! – Entschuldigt!" Er reichte ihr abermals das Taschentuch. Wie viele Tränen konnte ein Mensch an einem Tag vergießen?

"Aber Ihr werdet ihn nicht heiraten?"

Sie schüttelte mit zitternden Lippen den Kopf.

"Wen dann?"

Ein Achselzucken. Die Antwort ihres gebrochenen Herzens.

"Das wird nicht gehen." Er machte ein paar Schritte durch den verfallenen Raum, blieb vor einem der anderen halbhohen Mauerreste stehen, stützte sich auf, den Blick diesmal nach Norden gewandt.

Der Wind hatte zugenommen, bauschte Richezas Mantel, riss an ihrem Haar. Die Tränen trockneten kalt auf ihren Wangen. Sie fror.

Er kam zurück, blieb einen guten Schritt vor ihr stehen, ein Schild gegen die eisigen Böen. "Das Angebot, das ich Euch mache, mache ich nur einmal", sagte er. "Aber ich bitte Euch, es gut zu überdenken, ehe Ihr antwortet. Um unser beider Willen." Er wartete, bis er ihre Aufmerksamkeit hatte, dann drehte er in einer etwas unbeholfenen Geste die Handflächen nach oben. "Ich biete Euch meinen Namen. Und meine Hand."

Sie starrte ihn an. "Das ... hat noch keiner ... Euer An-ge-bot?"

Er hob die Hand vor ihre Lippen. Berührte sie nicht. Sie verstummte. Seine dunklen, beinahe schwarzen Augen waren ernst. "Dies ist keine Tändelei, Domna Richeza. Es geht um unsere Zukunft. Unsere Freiheit. Um das Überleben unseres Hauses. Überlegt es Euch gut!"

Er drehte sich einfach um. Stieg die Treppe hinunter. Sein Mantel schleifte über die Steine. Er stöhnte bei jeder Stufe. Die Schritte wurden leiser, vom Wind verschluckt.

Richeza starrte. Fassungslos. Die Trauer gänzlich vergessen. Verzweiflung und Selbstmitleid verwandelt in etwas, das Schadenfreude sehr nahe kam. Dies war der unromantischste Antrag, den sie jemals erhalten hatte. Und der vierte, den sie in Erwägung ziehen würde.