Chronik.Ereignis1033 Streit ums Taubental 24

Aus Almada Wiki
Version vom 24. März 2012, 15:28 Uhr von León de Vivar (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „<center><big><big>'''''Der große Auftritt</big></big><br><br> ''Wie die tapferen Vertreter der Taladurer Stadtgarde den Schönen Baron observierten. Wie der Zwe…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Der große Auftritt

Wie die tapferen Vertreter der Taladurer Stadtgarde den Schönen Baron observierten. Wie der Zwerg Turogosch dabei unkeusche Gedanken hegte und mit Schaudern an den vergangenen Abend zurückdachte. Wie er und seine Commandantin Zeugen eines musikalischen Schelmenstücks sondergleichen wurden. Wie sie den Roten Trovere einer peinlichen Befragung unterzogen.


Baronie Taubental, 3. Travia 1033 BF[Quelltext bearbeiten]

Auf dem Dachboden der Taubentaler Zehntscheuer (mittags)[Quelltext bearbeiten]

Autor: vivar

Turogosch lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und spähte durch die halbgeöffnete Luke hinaus auf den Dorfplatz, wo sich das Volk von Taubental gemeinsam mit einer Vielzahl von Gästen tummelte. Er hatte es sich auf dem Dachboden der Taubentaler Zehntscheune, dem größten Gebäude des Dorfes so bequem wie möglich gemacht. Einen Sack Äpfel hatte er zu seinem Stuhl erkoren und stützte seine Nagelstiefel auf einem dicken Kürbis ab. Sogar einen Humpen Bier, aus dem er von Zeit zu Zeit einen Schluck nahm, hatte er mit hinauf geschmuggelt. Von seinem Beobachtungsposten aus hatte er nicht nur einen hervorragenden Blick auf den Platz mit dem grün angelaufenen Reiterstandbild, sondern vor allem auch auf Tor und Hof der Villa Azucena, wo der säumige Zehntschuldner León de Vivar logierte.

„Schon was zu sehen?“, fragte Contessina Amazetti, die mit ausgestreckten Armen auf einer Lage Mehlsäcke lag und gelangweilt das Dachgebälk studierte.

„Ich sag' dir schon Bescheid, sobald der Vivar auftaucht“, grummelte der Angroscho. Die Beobachtung der Villa Azucena war Contessinas Einfall gewesen. Ursprünglich hatte sie sich dafür den Turm des Badehauses ausgesucht, von dem aus man einen noch besseren Blick hatte. Als Turogosch davon erfahren hatte, hatte er aufs Allerheftigste protestiert. Von allem, was mit Baden, Barbier und Seife zu tun hatte, hatte er für die nächsten drei Dutzend Jahre die Nase gestrichen voll. Und in diesen niederhöllischen Turm mit seinen Kaltwasserbecken und seinen Warmwasserbecken und seinen Schwitzkammern, in dem er gestern einige der schlimmsten Stunden seines langen Lebens verbracht hatte, brachten ihn keine zehn Zwergenponies hinein.

Nach einigem Hin und Her hatte Turogosch schließlich gemahnt, dass sie die oberen Kammern des Turmes nur nackt, also auch ohne Waffen, betreten konnten und sie obendrein jeder dabei beobachten würde, was vor allem ihn als Zwerg, und möglicherweise auch ihr als angeblicher Zwergenbuhle, den Kragen kosten könne. Der Gedanke, gemeinsam mit Contessina nackend zu schwitzen, ließ ihn mit einem bösartigen Lächeln zu seiner auf dem Rücken liegenden Vorgesetzten blicken. Mit ihren weißen Zähnen biss sie gerade in eine Birne, so dass ihr der Saft über das Kinn lief. Wenn er den verstohlenen Bemerkungen seiner Kameraden in der Garde trauen durfte, die hinter vorgehaltener Hand erzählten, wann sie diesem „heißen Füllen“ wo was gerne hineinstecken würden, so war Contessina für menschliche Verhältnisse äußerst anziehend. Für einen Zwergen war sie selbstverständlich viel zu groß und schlank, ihr Antlitz war zu lang gezogen und ihre Brüste waren eher die sanften Hügel Valguzias als die mächtigen Berge des Tosch Mur. Aber Turogosch ging alle drei oder vier Jahre einmal in ein Taladurer Hurenhaus, um sich mit seinem Sold die Dienste einer Großlingsfrau zu erkaufen und hatte sich mittlerweile an dünne Beinchen, schlanke Hüften und valguzianische Hügel gewöhnt. Als Klanadorosch war es ihm schließlich auf ewig verwehrt, einmal zwischen den stämmigen Schenkeln einer Angroschna zu liegen.

Die Commandantin hatte jedoch – wie von ihm beabsichtigt –, bei der Vorstellung, man könne sie für Turogoschs Bettgefährtin halten, entsetzt erklärt, dass sie dann einen anderen Beobachtungsposten finden müssten. Ein Zimmer in der Herberge Zur Goldenen Rose stand aus preislichen Gründen außer Frage und der Dorfplatz selbst war zu gefährlich für den Zwerg. So blieb nur der Dachboden der Zehntscheune, auf den sie durch Entriegelung eines Hintertürchens unbemerkt gelangt waren und von dem aus sie nun seit den Morgenstunden ‚observierten’, wie Contessina es nannte.

Turogosch nannte es im Stillen ‚unnütze Zeitverschwendung’ und hätte am liebsten mit der Axt in der Hand die Villa gestürmt, den Vivar in einen Sack gesteckt und den Rückweg nach Taladur angetreten, doch er wagte es nicht, gegen seine Vorgesetzte aufzubegehren. So lächerlich, wie er am gestrigen Abend ausgesehen hatte, hätte sie ihn vermutlich auch nur ausgelacht. Diese verdammten Kinder! Mit Schaudern schüttelte er die Erinnerung an gestern ab und blickte wieder hinaus, als das Menschenvolk begeistert jubelte.

„Er ist rausgekommen“, bemerkte er nüchtern. Mit einem Satz war Contessina aufgesprungen und blickte ihm über die Schulter. Sie roch nach einer Mischung aus Schweiß, Mehl und Birnensaft. Ein angenehmer Geruch, wie Turogosch befand.

Draußen stand der Baron auf dem kleinen Eckbalkon und winkte huldvoll der versammelten Menge. Statt Rock und Caldabreser trug er nur blaue Tulamidenhosen und ein weißes Leinenhemd, das den Blick auf die Brust nicht verwehrte. Seine Haut war von der gleichen Farbe wie Turogoschs Bronzeschmuck und sein offenes Haar war rabenschwarz. Auch er galt unter den Menschen für bildhübsch, glaubte man der Gardistin Baldasserina, so war er gar der schönste Mann Almadas. Das war natürlich Unfug, schließlich hatte Baldasserina die Stadtmark Taladurs noch nie verlassen.

„So gut schaut er gar nicht aus, oder?“, sagte er laut.

Doch Contessina Amazetti biss sich nur auf die Lippen und antwortete nicht.

Ein junges Menschenmädchen war neben Dom León auf den Balkon getreten. Ihr Haar, ungebändigt und bis auf die Schultern fallend, glich einer goldenen Löwenmähne. Sie reichte dem Baron einen Weinpokal, den dieser lächelnd entgegennahm, und verschwand wieder im Inneren.

Auf dem Platz begann das Volk nun, Blumen auf den Balkon zu werfen. Weiße Lilien vor allem, nach denen die Taubentaler so verrückt waren. Eine dralle Bauernmagd warf eine Rose hinauf, welche der Vivar elegant auffing um daran zu riechen. Anschließend nahm er einen Schluck Wein, rief er etwas zu ihr hinunter, das sie erröten und den Burschen neben ihr erbleichen ließ.

Eine Rose! Turogosch wurde schlecht. Ihm stieg der Geruch von Rosen in die Nase. Er benebelte ihn und rief einen Würgreiz hervor, den er gerade noch so unterdrücken konnte. Obwohl er seinen Bart mit Schweineschmalz und Kohlenstaub eingerieben hatte, hing ihm immer noch der penetrante Gestank von Rosenöl an. Wie konnten Menschenkinder nur so grausam sein? Zum Levthanswirt, einer Bauernwirtschaft, hatten sie ihn gestern geführt und er, zum Dank für seine Rettung, hatte fünf große Bierhumpen bestellt. Sein eigener war binnen eines Augenzwinkerns leer gewesen, doch die undankbaren Gören hatten an ihren Bieren nur genippt und dann erklärt, dass ihr adliger Magen nur Wein vertrüge. Tatsächlich trank in der Waldwacht vor allem das Volk Bier. Da hatte er vorsorglich ihre vier Humpen geleert und fünf Becher Wein bestellt, welcher ihnen aber zu säuerlich gewesen war, so dass er wieder hatte nachhelfen müssen.

Als er verstimmt gefragt hatte, ob ihnen denn gar nichts munde, riefen sie, doch, doch, nebenan, im Rösslwirt, da gäbe es guten Roten. So waren sie zum Rösslwirt weiter gezogen, und tatsächlich, dort tranken die vier ihre Becher brav aus, während Turogosch bei dem süßen Zeug sich ziemlich zusammennehmen musste. Daraufhin waren sie plötzlich sehr lustig geworden und hatten zu kichern begonnen, und als er fragte, was denn in sie gefahren sei, hatte Zaida ihn recht seltsam angestarrt und gesagt: „Für einen Zwergen seid Ihr gewiss ein schöner Mann, Herr Tschubax. Die Zwerginnen müssen Euch zu Füßen liegen!“

Das alberne Gekicher der anderen drei ignorierend, hatte er geantwortet: „Dem ist leider nicht so. Der Angroschnax gibt es nur sehr wenige, und diese wenigen suchen sich stets andere Angroschim als mich. Noch hat mich keine Angroschna erhört.“

„Das ist mir völlig unverständlich. Ein so schmucker Kerl wie Ihr ohne Braut? Offensichtlich habt Ihr Eure natürliche Schönheit bisher stets hinter dieser grimmen Miene verborgen! Ich wüsste, wie Ihr Euch in den Zwergenprinzen Calaman selbst verwandeln könntet, dem angeblich jede Zwergin insgeheim ersehnte, der auch Menschenfrauen verführte, ja, den selbst unsere holde Gräfin nicht zurückweisen würde!“

Ungläubig hatte er Zaida angestarrt. „Wie willst du das anstellen?“

„Später“, hatte sie gelächelt. „Zunächst müsst Ihr von den besten Bränden der westlichen Waldwacht kosten!“

„Kosten ist ein gutes Stichwort...“

„Keine Sorge, ich bezahle“, hatte sie ein Beutelchen auf den Tisch gelegt.

Auf Kosten anderer zu saufen, hatte Turogosch noch nie abgelehnt, und so hatte er sie alle durchprobiert: Zwetschgenschnaps, Kirschschnaps, Hollerschnaps, Sanddornschnaps, Heidelbeerenschnaps, Himmelbeerenschnaps, Rahjanisbeerenschnaps, Marmelonenschnaps, Apfelbrannt, Brombrannt, Weizenbrannt, Arangenbrannt, Catalinenbirne, Liliengeist, Mirabellenlikör, Erdbeerwasser und Marillenwasser sowie das nicht nur dem Namen nach abscheuliche Elbenwasser aus den schwarzen Früchten des Elfenbuschs. Dass er hinterher nicht sofort das Bewusstsein verloren hatte, war einzig und allein seiner zwergischen Konstitution und seiner Trinkfestigkeit zu verdanken. Stattdessen hatte er sich, auf vier Kinderschultern gestützt, willenlos und mit benebeltem Blick durch die Gassen und in einen Turm schleifen lassen, wo er dann schließlich einschlief.

Als er wieder erwachte, war er nackt gewesen und hatte sofort Schlimmes geahnt. Hatte man ihn ausgeplündert? Doch nein, sein Gewand und Hab und Gut lagen säuberlich geordnet auf einer Bank neben ihm. Die Zwergenfeindschaft des Taubentaler Adels war noch viel, viel fürchterlicher als die des Volkes, das ihn verprügeln und aus dem Dorf treiben hatte wollen. Sie hatten ihn gebadet! Mit Seife! Seine Haut hatten sie geschrubbt, so dass sie rosig wie der Arsch eines Neugeborenen schien. Die schöne Schutzschicht aus Kohlenasche und Fett, die er sich jahrelang angeeignet hatte, war fort! Und nicht nur das! Auch seinen Bart, seinen schönen Bart, hatten sie gewaschen und neu geflochten. Mit Rosenöl hatten sie das Haar eingerieben, so dass es bis in die Niederhöllen stank. Das Allerschlimmste waren jedoch die Schleifchen. Zwölf rosa Schleifchen hatte man ihm diese kleinen Dämonen ins Haar und in den Bart gebunden! Er hatte sich aufgerichtet und hastig begonnen, die abscheulichen kleinen Stoffbändchen abzureißen.

„Noch einen Aufguss, der Herr?“, hatte da ein junger Badediener gefragt. Turogosch hatte ihn entsetzt fort gestoßen, war in seine Beinkleider gesprungen und war mit seinen Habseligkeiten Hals über Kopf aus dem Badeturm des Grauens geflohen. Draußen war es bereits dunkel gewesen. Ohne anzuhalten, war er zurück auf das Pilgerfeld und in das bescheidene Soldatenzelt geflohen, dass er sich mit Contessina teilte. Erst sie hatte ihm die letzten zwei Schleifchen aus dem Nacken gezogen – und auch erst, nachdem sie sich vor Lachen geschüttelt und er sie mit der Axt bedroht hatte.

Den Bart hatte er sich sofort wieder mit Asche und kaltem Bratenfett eingerieben, doch es half alles nichts. Der Rosenölgeruch war nicht zu verdrängen. Wenn er diese Kinder nur je wieder in die Finger bekäme, dann gnade ihnen Angrosch!

Auf dem Platz hatte inzwischen irgendein Narr im roten Umhang ein leeres Weinfass bestiegen und fingerte auf seiner Vihuela herum. „Canzone! Canzone! Canzone, Tito, Canzone!“ rief es aus der Menge. Der Rotbemäntelte, mit wilden schwarzen Locken und einer verwegenen Adlernase, verneigte sich von seiner runden Bühne aus vor Dom León und rief mit klarer Stimme: „Darf Tito von Taladur dem Barone einen Canzone verehren, so wie es das Volk wünscht, Euer Hochgeboren?“

Contessina und Turogosch blickten sich an. Von Taladur? „Meinst du, das ist der von Taladur?“

„Für mich seht ihr Großlinge alle gleich aus.“

„Er muss es sein. Ein Jüngling mit Adlernase, der Vihuela spielt und sich nach seinem Vater benennt.“

„Dom Murcio von Taladur?“

„Ebendieser. Der Bastard sieht seinem Vater sogar ähnlich.“ Contessina feixte. „Mein lieber Turogosch, unsere Reise hierhin wird Gold wert sein! Nicht nur werden wir dem Erzenen Rat den säumigen Steuerschuldner León de Vivar präsentieren, nein, wir werden den Ratsherren auch noch den Mörder der Travina de Bejar liefern. Die Schärpe der Gardecapitana habe ich schon so gut wie in der Hand!“

„Noch haben wir gar nichts in der Hand“, brummelte Turogosch.

Doch die Commandantin hörte nicht auf ihn. „Ist denn der Bursche toll? Hör doch, was er singt!“

Turogosch lauschte auf Titos Worte:

„Ach, Alter, wirf den Krückstock fort,
und Jüngling, hör auf mein Gesetz:
Das Mägdlein, das dir lächelt dort,
schließ in die Arme jetz’!“

„Was hast du denn?“, fragte er seine Begleiterin verwundert. „Das klingt doch sehr... äh... rahjanisch, oder nicht?“ Doch als er wieder lauschte, verschlug es auch ihm die Sprache.

„Der mit dem Weinglas in der Hand“, sang der Rote Tito,
Vollmundig und an Reben reich,
Bald trägst du nur ein Schwarzgewand,
Das zieret deine Leich.

Wer heute noch führt Reden stolz
Und glaubt ein großer Dom zu sein,
Dir hat der Schreiner schon das Holz
Bestimmt für deinen Schrein.

Dünkt das Grab dir tief und dumpf sein Druck,
Mein Freund, so nimm noch einen Schluck,
Und noch einen hinterher und noch zwei, drei mehr,
Dann stirbst du fröhlicher!

Ob Dom Magnat, ob Rustikal,
Am Ende sind wir Brüder doch
Dann bleibt uns keine andre Wahl
Als Borons finstres Loch.

Wer nach des Andern Liebster schielt
Und doch sich fühlt als Nobelmann,
Pass auf, dem Spielmann, der dir spielt,
Springst du ins Grab voran!

Dünkt das Grab dir tief und dumpf sein Druck,
Mein Freund, so nimm noch einen Schluck,
Und noch einen hinterher und noch zwei, und noch drei,
Dann stirbst du sorgenfrei!

Wer nur in fremden Betten ficht
Mit seinem spitzen Levthansschwert
Vorm Sterben rett' dich Rahja nicht
Bist's Taubental nicht wert!

Dich jage man von Schmaus und Wein
Hinaus mit deiner Sippe schmeiß
Man dich und den Krug obendrein
Dir von der Lipp' man reiß!

Dünkt das Grab dir tief und dumpf sein Druck,
Mein Freund, so nimm noch einen Schluck,
Und noch einen hinterher und noch zwei, drei mehr,
Dann stirbst du nicht so schwer!“[1]

Totenstille herrschte, als Tito geendet hatte. Das Volk stand stumm und zag vor Entsetzen. Der Baron starrte den Sänger mit aufgerissenen Augen an. Unter seiner bronzefarbenen Haut war er bleich wie Linnen geworden, ob aus Wut oder Angst, konnte Turogosch nicht erkennen. „Er... ergreift ihn!“, stammelte León de Vivar mühsam.

Im selben Moment sprang der Trovere von seinem Fass weit in die Menge hinein. Er riss vier Männer zu Boden, hatte plötzlich statt der Vihuela einen langen Dolch in der Hand und drängte sich durch das Volk hindurch eine der am Rand des Platzes für die morgige Prozession aufgebauten Holztribüne hinauf, schlitzte die dahinter aufgespannten Tücher auf und schlüpfte hindurch.

„Ergreift ihn!“ Diesmal schrie Dom León, den Weinpokal wutentbrannt in die Menge schleudernd. Seine Stimme überschlug sich beinahe. Er stürzte in die Villa zurück und kam bald darauf, Degen in der Hand, zur Tür wieder heraus. Doch als schließlich irgendwer den Roten Tito zu fassen glaubte, hielt er nur einen roten Umhang in der Hand. Der Sänger schien wie vom Erdboden verschluckt. Bald setzte das ein, was bei größeren Volksansammlungen stets geschieht: ein jeder wollte etwas anderes gesehen haben. Die einen glaubten, er sei in Richtung des Pilgerfelds aufgebrochen, die anderen schworen, sie hätten ihn gen Norden vom Platz fliehen gesehen, wieder andere waren sich sicher, er sei die zur Inoscha führende Gasse hinunter geflohen. Eine Glasbläserin glaubte sogar, Tito habe sich in eine Ratte verwandelt. Als man sie darauf hinwies, dass er dann gewiss zertrampelt worden sei, schrie sie, dass er sich auch in einen Vogel verwandelt haben könnte.

Irgendwann erinnerte sich ein besonders frommer Pilger, dass der Rote Trovere sein ebenso scharlachrotes Zelt auf dem Pilgerfeld aufgeschlagen habe und sich gewiss dort verkrochen habe. So strömte das Volk, angeführt von dem schönen Baron, gen Praios in Richtung des Pilgerfelds. Der Platz begann sich zu leeren.

Angesichts der Offensichtlichkeit von Titos Versteck konnte Turogosch über die Großlinge nur lachen. Von der Luke aus hatte er hervorragend beobachten können, wie der Trovere durch die Rückwand der Tribüne hindurchgeschlüpft war, sich den roten Umhang vom Leib gerissen hatte, und auf das Sonnendach der Tribüne hinaufgeklettert war. Nun lag er dort, durch die schweren Tücher den Blicken der Großlinge auf dem Platz verborgen. ‚Vor den Großlingen magst du dich verbergen, Tito. Aber die Götter sehen dich. Die Götter und ich.’

Turogosch und Contessina verharrten noch ein Weilchen auf ihrem Beobachterposten. Dann, als der Platz sich geleert hatte, schlichen sie die steile Stiege hinab. Wie der Zwerg zufrieden feststellte, war wohl auch die Aufseherin der Volksmenge hinterher gerannt. Zumindest war sie in der großen, mit allerlei Zehntabgaben gefüllten Scheuer nirgends zu entdecken. Im Scheunentor stand eine kleinere Pforte einen Spalt weit offen. Contessina linste hindurch. „Er ist noch da oben auf dem Tribünendach. Ich sehe seine Schuhe.“

„Der Narr“, grinste Turogosch und lockerte das Kurzschwert in der Scheide. „Wir brauchen nur zu warten, dann fällt er uns in den Schoß wie eine reife Marmelone.“

„Pass auf, dass er nicht zerplatzt. Wir brauchen ihn lebend.“ Contessina kontrollierte ihrerseits, ob das Rapier locker saß und zog eine kurze Schnur hervor.

So waren sie bereit, als der Rote Tito sich vom Dach der Tribüne herabgleiten ließ und elegant auf dem Boden landete. Er hatte sich kaum wieder aufgerichtet, da hielt ihm Contessina schon die Klinge an den Hals. Ungläubig starrte er sie an.

„Keinen Mucks, Schurke, oder ich färbe dir auch den Hals rot.“ Contessina warf dem Zwerg die Schnur zu, der genau wusste, was er damit zu tun hatte. Ein ordentlicher Bergmannsknoten würde dem Trovere jede Bewegung seiner Hände unmöglich machen. Nachdem er Titos ergeben vorgestreckte Hände zusammengeschnürt hatte, schleppten sie ihn mangels Alternativen in die Scheune zurück und wieder auf den Dachboden hinauf. Tito wehrte sich nicht, als sie ihn an sitzend an einen Stützbalken banden, er schien aber auch keine Furcht zu haben.

„Weißt du, wer wir sind, Tito?“, fragte Contessina ihn, während sie sich wieder auf ihren Mehlsäcken bequem machte.

Der Trovere schwieg, bis Turogosch ihm mit dem Stiefel gegen das Schienbein trat. „Antworte, du Hund!“

„Ich sollte keinen Mucks machen.“

Turogosch trat noch einmal zu. „Stell dich nicht dümmer, als du bist und beantworte die verfluchte Frage. Weißt du, wer wir sind?“

Der Rote Trovere spitzte spöttisch seine Lippen. „Lasst mich raten. Ein Zwerg und eine schöne Frau, die mich nach meinem Auftritt in Bande schlagen. Ihr müsst Dom Francos Kreaturen sein. Hat dem guten Beiras meine Darbietung etwa nicht gefallen?“

„Dom Franco?“ Contessina blickte verwundert Blick zu Turogosch, der ausdruckslos schwieg. Franco de Beiras war vor kurzem vom Kaiser persönlich zum Baron von Bangour erhoben worden, nachdem der alte Kornulf Sohn des Kaborasch spurlos verschwunden war. Wahrscheinlich war er in irgendeinen Stollengrund gestürzt und wahrscheinlich hatte Dom Franco ihn hineingestoßen. Turogosch war es nur Recht, denn er hatte sich mit dem Erzzwerg nie wirklich anfreunden können.

Contessina erwiderte schließlich: „Nein, mit dem Baron von Bangour haben wir nichts zu tun. Ich bin Contessina Amazetti, Commandantin der Taladurer Wehr, und habe dich festgenommen, damit das Gericht der Reichsstadt über deine Untaten urteilen kann.“

„Meine Untaten?“

„Willst du leugnen, dass du dir betrügerisch das Vertrauen der Domna Travina de Bejar erschlichen und sie anschließend heimtückisch gemeuchelt und ausgeraubt hast?“

In Titos Gesicht zuckte es. „Meine liebe Stiefmutter ist in hohem Alter friedlich zu Boron heimgegangen. War es Unrecht, dass ich mir da einen angemessenen Teil meines Erbes nahm?“

Turogosch richtete sich auf und verpasste ihm eine kräftige Ohrfeige. „Hüte deine verlorene Zunge, Großling! Du hast die Frau vergiftet! Und von wegen hohes Alter! Sie war noch nicht mal 40 Jahre alt! Fast noch ein Kleinkind! An einem Tag war sie gesund und rotwangig, am andern tot und bleich! Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen! Wärst du ein Erbe Dom Murcios gewesen, so wärest du nicht bei Nacht und Nebel aus der Stadt geflohen!“

„Au! Was... was sollte ich tun? Die Familia von Taladur hätte meine Ansprüche niemals anerkannt.“ Tito spuckte rote Tropfen aus.

„Die Familia von Taladur ist es auch, die nun Anklage wegen Mordes gegen dich erhoben hat, Bube“, mischte sich Contessina wieder ein. „In der Streitturmstadt haben wir noch genug Zeit um dich über diese Angelegenheit zu befragen – mit durchaus unangenehmeren Methoden als ein paar Maulschellen. Doch jetzt will ich wissen, was du hier im Taubental treibst. Planst du etwa einen weiteren Mord? Und was hat Baron Franco damit zu tun? Du kannst es uns ruhig erzählen, denn was auch immer du vorhattest, es ist gescheitert.“

Mit schmerzverzerrtem Gesicht lächelte Tito, so dass seine blutigen Zähne zum Vorschein kamen. „Im Gegenteil. Meine Zeit hat gerade erst begonnen. Mein Vater war Murcio von Taladur ä. H., der Gevatter hab ihn selig. Meine Mutter ist Phelicitas de Bejar, die letzte lebende Nachfahrin der Alena de Bejar, die Baronin im Taubental war. In mir fließt das Blut der Vivar, der Bejar, der Taladur und das derer vom Berg. Jahrelang haben meine Mutter und ich in der Gosse gelebt. Meine Mutter hat, ihres Standes unwürdig, in schmierigen Tabernas tanzen müssen, und ich habe sie auf der Vihuela begleitet. Wir haben Hunger gelitten, wir mussten vor raffgierigen Wirten fliehen und vor lüsternen Gardisten, die meiner Mutter die Röcke vom Leib reißen wollten. Wir haben gesungen, was das Publikum hören wollte. ‚Liebliche Maid, ayayay, mein Herz verzehrt sich in Liebe nach Euch!’ Abscheulich. Doch das hat nun ein Ende. Ich habe im Taubental gesungen und nun nimmt mein eigenes Lied seinen Lauf. Dom Franco wird dafür sorgen... Am Ende werde ich mit meiner Mutter auf jenem Balkon stehen, werde lächeln, während mir plumpe Bauernmädel Küsse zuwerfen.“

„Schöne Geschichte, Großling. Herzallerliebst. Nur dass du am Ende auf keinem Balkon stehen, sondern mit einem Strick um den Hals vom Turm der Familia von Taladur im Wind baumeln wirst.“

„Ha! Dazu müsst ihr zwei Helden mich erst mal aus Santa Catalina herausbekommen, ohne dass Dom Franco euch dabei entdeckt.“

Turogosch knirschte mit den Zähnen. „Das lass' nur unsere Sorge sein, du Großmaul.“ Um zu verdeutlichen, dass er es ernst meinte, schlug er noch einmal zu.


  1. Frei übersetzt nach Carl Michael Bellman (1740-1795): Så lunka vi så småningsom (Fredmans sång Nô 21).