Chronik.Ereignis1032 Die Herren von Pildek 11

Baronie Pildek, eines Nachts Anfang Rahja 1032 BFBearbeiten

Im Wald nahe Carhag-LoBearbeiten

Autor: Von Scheffelstein

Der TurmBearbeiten

Die Wolke zog vorüber und gab den Blick frei auf eine Turmruine. Die vordere Hälfte war bis auf einen mannshohen Mauerrest weggebrochen. Die hintere Hälfte war fast vollständig erhalten. Efeu rankte sich an den verfallenen Mauern empor, Mondlicht fiel durch Fensteröffnungen auf moosbewachsene Steine. Der Rabe flog durch das Tor des Turmes und hinauf zu den Zinnen. Dort saß er - unerreichbar für den jungen Mann.
Nado stieg auf die Mauer vor ihm und sah zu dem Vogel auf. Krah, machte der Rabe und hüpfte auf der Zinne entlang, als wollte er ihn verhöhnen, ihn locken. Vorsichtig kletterte Nado höher. Ein Stein löste sich unter seinen Füßen und fiel ins Innere der Ruine, sprang mehrmals auf und fiel, bis er mit leisem Rascheln liegen blieb. Der junge Mann sah nach unten - und erschrak. Der Turm hatte offenbar einen Keller gehabt. Fast sechs Schritt unter ihm konnte er Geröll und die Überreste einer zerbrochenen Treppe erkennen. Ein Sturz würde den Tod bedeuten. Was machte er hier? War er irre, einem Vogel zu folgen? Er blickte sich um, vermochte aber nirgendwo Feuerschein zu entdecken. Ja, er wusste nicht einmal mehr genau, aus welcher Richtung er gekommen war.
"Ich habe dich erwartet."
Nado fuhr zusammen. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren. Auf dem Absatz eines Zwischengeschosses, keine fünf Schritt von ihm entfernt, stand eine Frau. Ihr Haar umgab den Kopf wie eine Silberwolke, ihr Gesicht lag im Schatten. Sie trug einen dunklen Umhang und mehrere Röcke übereinander, in der Linken hielt sie einen gedrechselten Stab.
Der junge Mann fasste sein Messer fester.
"Du bist also gekommen, um mich zu töten, junger Maldonado." Ihre rauchige Stimme zerriss die Stille der Nacht.
"Woher kennst du meinen Namen?"
Sie antwortete nicht. Nado wog die Klinge in seiner Hand. Er würde sie treffen, mitten ins Herz, ehe sie sich nur zu bewegen vermochte. Er zögerte - einen Moment zu lange.
"Du bist mutig, herzukommen."
Pfeilschnell durchschnitt das Messer die Luft. Doch er traf nicht! Mitten im Flug wurde die Klinge abgelenkt, fiel - sich überschlagend - in die Tiefe und verschwand in der Dunkelheit.
"Und dumm."
Jetzt würde sie ihn töten. "Nur zu", sagte er und fuhr sich über die trockenen Lippen. "Ich habe keine Angst."
"Dumm", sagte sie. "Nur der Einfältige fürchtet sich nicht."
"Ich fürchte den Tod nicht", sagte er.
Der Wind spielte in ihrem Haar, wie Spinnweben umwehte es ihr Haupt. "Töten werde ich dich nicht", sagte sie. Jetzt hatte er Angst.
Sie hatte es nicht eilig, stand einfach da und sah auf ihn herab. Nado wartete. Wartete auf das, was passieren würde. Er konnte nichts gegen sie ausrichten. Wie war sie auf die Mauer gekommen? Wie hatte sie den tödlichen Wurf abgewehrt? Er würde nicht weglaufen, es wäre sinnlos.
"Das Leben hier draußen ist gefährlich", sagte sie.
Eine feine Gänsehaut legte sich auf Nados Arme.
"Du liebst es, dir Feinde zu machen."
Endlich fand er seine Sprache wieder. "Wer meine Freunde tötet, ist mein Feind."
"Dein Freund", sagte sie, "hat meine Tochter getötet."
"Esperanzada hat niemanden umgebracht."
Die Frau schwieg einen Moment. "Sie habe ich nicht getötet."
Er wusste nicht, ob er ihr glauben sollte. "Wer dann?"
"Wenn ich das wüsste", sagte sie, "wärst du nicht hier."
Er runzelte die Stirn.
"Wer meine Freunde tötet, junger Maldonado, lebt gefährlich."
"Willst du damit sagen ...?"
Wieder antwortete sie nicht gleich. "Sie haben das Mädchen hergebracht, damit ich es heile. Und nun glauben sie, ich hätte es getötet."
"Warst du es nicht?"
Sie lachte. Es klang nicht fröhlich. Nado fiel auf, dass der Rabe verschwunden war. Hatte er sich den Vogel nur eingebildet? "Esperanzada", sagte die Frau, "war etwas Besonderes."
"Oh ja!", machte Nado und biss sich auf die Zunge. Vielleicht spielte sie nur mit ihm. Der Wind hatte aufgefrischt und raschelte in den Bäumen. Eine Eule rief in der Nähe. Den jungen Mann fröstelte. Seine nassen Füße waren kalt.
"Du wirst dich nun für eine Seite entscheiden müssen", sagte die Frau. "Meine - oder die andere."
"Und wenn ich dir nicht glaube?"
"Dann wirst du gehen."
"Du wirst mich nicht töten?", fragte er.
"Dieses Mal nicht."
Sie wollte ihn gehen lassen? Und dann? Wenn er versagte, würde er sich vor dem Condottiere rechtfertigen müssen. So er dem Söldnerführer nicht einen Beweis für den Tod der Mhanah brachte, würde der ihn für ein Weichei halten. Es hieß, Fortezza habe schon einige seiner eigenen Leute erschlagen lassen, wenn sie ihm nicht gehorchten oder er ihrer überdrüssig war.
Doch jetzt hatte er keine Möglichkeit, die Silfide zu töten. Und wenn er nun ging und später wiederkehrte, war sie gewarnt. Er konnte aber auch nicht gehen und hoffen, dass die Zahori dem Condottiere nicht wichtig genug waren. Nein, das wäre wahrlich dumm!
Nado blickte zu der Frau hinüber. Sie hatte den Blick zum Himmel erhoben, zu den Sternen, die zwischen den Wolken hindurchschimmerten. Alt war sie, das konnte er jetzt erkennen. Viel älter, als ihre Stimme klang. Die Haut an ihrem Hals hing schlaff herab, der schmale Kiefer ließ ahnen, dass ihr Zähne fehlten.
"Erzähl' mir von Esperanzada", sagte der junge Mann.
Die Frau wandte den Kopf, dann plötzlich sprang sie in die Tiefe. Doch sie fiel nicht. Ihr Stecken, an dem sie festhielt, flog einen Bogen um den Turm herum. Kurz darauf hörte er sie sacht auf dem Waldboden aufsetzen. Nado sprang von der Mauer und lief ihr entgegen.
"Komm", sagte sie, "und du wirst mehr erfahren."
Er folgte ihr einige Schritte durch den Farn, dann blieb er stehen. "Ich habe nicht gesagt, dass ich mich für deine Seite entscheiden werde." Sie drehte sich nicht um.
"Dein Herz", sagte sie, "hat sich schon entschieden."


Chronik:1032
Die Herren von Pildek
Teil 11