Chronik.Ereignis1032 Die Herren von Pildek 10

Baronie Pildek, eines Nachts Anfang Rahja 1032 BFBearbeiten

Im Lager der Silfide-Sippe nahe Carhag-LoBearbeiten

Autor: Von Scheffelstein

Der RabeBearbeiten

Ein Zweig knackte unter den Hufen des Pferdes. Nicht zum ersten Mal. Zwar hatte Nado die Hufe mit Lumpen aus alten Säcken umwickelt, doch auf dem Waldboden vermochten diese den Tritt des Tieres nicht zu dämpfen. Der junge Mann ließ sich zu Boden gleiten und führte das Pferd am Zügel zwischen die Bäume links des Pfades. Ob es hier wilde Tiere gab? Er konnte sich nicht leisten, das Pferd zu verlieren, sie hatten nur noch das eine.
„Ich werde dich nur lose anbinden“, flüsterte er, während er die Zügel in einer Astgabel befestigte. „Aber lauf mir nicht weg, alter Junge.“ Nado tätschelte den Hals des Tieres, dann ging er zurück zum Weg und schlich weiter den Hang hinauf. Das Mondlicht drang nur schwach zwischen den Baumkronen hindurch, oft riet er mehr, wie der Pfad verlief, als dass er ihn sehen konnte. Rechts raschelte es im Unterholz – ein kleines Tier huschte über den Weg davon. Nado ging weiter. Ein Zweig zerbrach unter seinen Füßen. Vor ihm flog ein großer Vogel von einem Baum auf, eine Krähe oder ein Rabe. Zwischen den Sträuchern hindurch konnte der junge Mann nun erstmals Feuerschein ausmachen. Dort musste das Lager der Silfide sein.
Nado schlich näher, bis er den Waldrand erreichte. In der Mitte der Lichtung war eine Feuerstelle, doch das Lagerfeuer war fast heruntergebrannt. Anders als bei den Cruento standen die Wagen der Silfide nicht kreisförmig angeordnet, sondern kreuz und quer auf der Lichtung. Bis auf die nächtlichen Geräusche des Waldes war es still. Nado konnte keine Menschenseele ausmachen. Vierzehn Kastenwagen zählte der junge Mann. Wie nur fand er heraus, welcher der Mhanah gehörte?
Phex steh mir bei“, flüsterte Nado und fragte sich im selben Moment, ob Phex es guthieß, dass er vorhatte, einen Menschen zu töten. Aber einen Menschen, der selbst nicht vor Bluttaten zurückschreckte, dachte er.
Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben, und hüllte die weiter entfernt stehenden Wagen in Schatten. ‚Du hältst dich wohl für Fuldigor‘, hörte Nado Talfans Stimme in seinem Kopf, und für einen Moment verließ ihn der Mut. Aber Talfan hatte auch gesagt, dass niemand es schaffen könne, auch nur halb so lange wie der Trigorner auf dessen Stier zu reiten. Nado strich sich über das Kinn. Die viertägigen Bartstoppeln erinnerten ihn daran, wie wenig Zeit er zuletzt auf dem Hof verbracht hatte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Wagen für Wagen zu untersuchen und zu hoffen, dass er den richtigen fand, ehe jemand ihn bemerkte.
Im Schatten der Bäume näherte sich der junge Mann dem nächststehenden Fahrzeug. Er war in verschiedenen Farben angemalt, die jetzt im Zwielicht kaum auseinanderzuhalten waren. Die Muster erinnerten Nado an den Tonkrug, den der Condottiere den Cruento gezeigt hatte. ‚Maestro Álvaro Silfide‘ entzifferte Nado die Buchstaben, die halbkreisförmig über einem Fenster in der Seite des Wagens angeordnet waren. Hier würde er die Mhanah eher nicht finden, dachte der junge Mann.
Weiter schlich er, zum nächsten Fahrzeug, einem schmalen Wagen, an dessen Seite eine Leiter aufs Dach führte. Fenster gab es keine, nur eine Tür, und die war verschlossen. Ob er es wagen sollte, sie zu öffnen? Nado betrachtete das Fahrzeug. Wie das zuvor, war auch dieses angemalt, aber die Farbe blätterte vom Holz ab, und eine Speiche des linken Vorderrads war zerbrochen. War dies wirklich der Wagen der Mhanah?
Nein, beschloss er und wollte gerade weitergehen, als die Tür des nächsten Fahrzeugs aufschwang und ein Mann heraustrat. Nado verharrte wie angewurzelt, aber der Zahori blickte nicht in seine Richtung. Lautlos ließ der junge Mann sich ins Gras sinken und beobachtete, wie der Zahori sein Wasser an einem Baum abschlug. Irgendwo weiter weg schnaubte ein Pferd. Auf dem Rückweg blieb der Zahori stehen, streckte sich und gähnte, hielt dann plötzlich inne und hob den Kopf, als würde er lauschen. Nado duckte sich tiefer ins Gras. Einige Herzschläge vergingen. Dann verschwand der Zahori wieder im Wagen und schloss die Tür hinter sich.
Nado wurde auf einmal bewusst, wie wenig er von der Mhanah der Silfide wusste. Eigentlich nichts. Weder ihr Alter, noch wie sie aussah. Und erst recht nicht, ob sie allein lebte oder ihren Wagen oder auch nur ihr Bett mit jemandem teilte. Der junge Mann fluchte innerlich. Er hätte sich besser vorbereiten sollen. Die Cruento-Mhanah hatte er auch nicht als Sippenführerin erkannt, als sie nackt und schlafend vor ihm lag. Wie sollte es ihm hier gelingen? Die Deckenbilder kamen Nado in den Sinn, die er über der Schlafkoje von Jadira Cruento gesehen hatte. Auch von außen war ihr Wagen bunt bemalt gewesen. Aber durfte er sich wirklich darauf verlassen, dass die Mhanah einen prächtigeren, reicher verzierten Wagen besaß als die anderen Zahori?
„Gib mir ein Zeichen, Phex“, flüsterte er, als er auf den Wagen zuschritt, aus dem der Zahori gekommen war. Die Wolken rissen auf, und das Mondlicht erhellte plötzlich die Lichtung. Staunend blickte der junge Mann zum Himmel auf. Was, so schnell? Nado nahm all seinen Mut zusammen und legte die Hand an den Türknauf des Wagens. Fingerbreit um fingerbreit zog er die Tür auf. Verhaltenes Schnarchen kam aus der Dunkelheit. Im Licht des Mondes konnte Nado vier Schlafkojen erkennen, jeweils zwei übereinander an den Seiten des Wagens. Gegenüber der Tür war ein Fenster über dem Bock eingelassen. Schwach zeichneten sich seine Umrisse ab, da Licht durch die Ritzen des Ladens drang. Links neben der Tür stand ein Schrank, rechts der Tür stapelten sich Kisten, die mit Lederriemen an der Wand befestigt waren. ‚Lautlos‘, dachte Nado, ‚wenn sie hier drin ist, muss ich sie lautlos töten‘. Unmöglich! Man würde ihn erwischen! Vorsichtig setzte der junge Mann Fuß um Fuß in den Wagen, um zu erkennen, wer in den Betten lag. Im linken unteren Bett erkannte er den Zahori, der kurz zuvor ausgetreten war. Von ihm kam das Schnarchen. Über ihm im Bett lag ein weiterer Mann. Auf der anderen Seite lag oben ein Kind, das Gesicht in den Kissen verborgen. Unten lag eine Frau, die zwei Kleinkinder im Arm hatte. Nado betrachtete die Schlafende, die Hand an seinem Messer. Nein! Selbst wenn sie es wäre ... Aber, nein, sie war es gewiss nicht!
Nado beeilte sich, den Wagen zu verlassen und die Tür wieder zu schließen. Unweit flog ein Rabe vom Boden auf. Der junge Mann schloss die Augen und stieß leise die Luft aus. Wie könnte er eine Mutter töten, selbst wenn sie eine Mörderin war? Konnte eine Mutter überhaupt eine Mörderin sein? Er dachte an Maldiana, die acht Kinder geboren hatte, auch wenn zwei von ihnen schon früh gestorben waren. Nein, beim besten Willen konnte er sich nicht vorstellen, dass seine Mutter einen Menschen tötete.
‚Meine Mutter ist gestorben, als ich noch klein war‘, hörte er Esperanzada sagen. ‚In Gedanken erzähle ich ihr, was ich erlebt habe und was ich noch erleben will.‘ Ein plötzlicher Schmerz ergriff Nado, als er an das ungewöhnliche Mädchen dachte. Hatte er sich etwa in sie verliebt? Götter, er war ihr doch nur zweimal begegnet. Als er sie das dritte Mal gesehen hatte, war sie tot. Kalte Wut schnürte Nados Kehle zusammen. Man hatte sie ihm weggenommen, bevor er auch nur hatte hoffen dürfen, ihr Herz zu gewinnen. Sie hatte sie ihm weggenommen, die Silfide! Sie sollte es bereuen!
Nado zog das Messer und schritt auf den nächsten Wagen zu. Er zuckte zusammen, als er einen Schatten auf dessen Dach bemerkte. Der Rabe! Eine Warnung? Er durfte sich von seinem Zorn nicht hinreißen lassen, musste vorsichtig sein. Der Vogel trippelte über das Dach und sah den jungen Mann an. Dann erhob er sich krächzend in die Luft und landete auf dem nächsten Wagen. Nado war, als beobachte ihn das Tier. Er blieb stehen und schaute zu dem Vogel hinüber. Der Rabe flog abermals auf und ließ sich auf einem dritten Wagen nieder. Immer noch schien es, als sehe er zu dem jungen Mann herüber. Langsam näherte sich Nado dem Tier. Der Rabe wartete, bis Nado vor dem Wagen stand, dann erhob er sich in die Luft, flog dicht über den Kopf des jungen Mannes hinweg und setzte sich auf den Ast eines nahen Baumes. Nado verspürte den plötzlichen Wunsch, das Tier zu fangen. Er hielt auf den Baum zu, und auch diesmal flog der Vogel auf.
Nado setzte ihm nach. Wie ein Schatten glitt der Rabe dahin, nicht schnell – und doch schnell genug, dass der junge Mann ihn nicht erwischte. Nado beschleunigte seine Schritte und folgte dem Vogel zum Waldrand, wo ein schmaler Pfad sich den Hügel hinaufwand. Das Tier hielt ihn zum Narren! Längst hatten sie das Lager der Silfide hinter sich gelassen. Es ging weiter bergauf. Gespenstisch zogen Wolken zwischen den Bäumen dahin und dämpften Nados Schritte auf der feuchten Erde. Der Rabe flog immer voran, tief genug, dass der junge Mann ihn nie aus den Augen verlor, aber unerreichbar für seine Hände. Nado rannte. Taunasses Gras streifte seine Beine. Sein Atem ging keuchend. Um ihn war alles still. Lautlos verschwand der Rabe im Nebel.

Chronik:1032
Die Herren von Pildek
Teil 10