Chronik.Ereignis1028 Die silberne Witwe
Baronie Taubental, 27. Praios 1028 BFBearbeiten
Auf Junkergut Vivar (2. Traviastunde)Bearbeiten
Autor: vivar
Missmutig auf einem Stück Süßholz kauend besah sich Lodovico di Dalias vom Rücken seines Pferdes aus seine neue Heimat.
Von ihm durch ein gut sechs Schritt breites Bächlein getrennt, erstreckte sich ein gen Firun sanft ansteigendes Tal, dessen höhere Lagen – in etwa einer Meile Entfernung – von dunklem Wald bedeckt waren. In den Niederungen wechselten sich Kornfelder und brachliegende Äcker mit grünen Wiesen, auf denen sich Schafe gütlich taten, und kleinen Obsthainen ab.
Etwa 200 Schritt von seinem Standpunkt aus kauerte sich eine Ansammlung ummauerter Gehöfte, Häuser und Hütten um einen gedrungenen Turm aus grauem, unbehauenen Stein. Einige Umfassungsmauern waren eingestürzt oder eingerissen, was den winzigen Weiler zusammen mit dem schäbigen Grau des Gesteins und den wenigen schmalen Zugängen zwischen den Mauern heruntergekommen, öde und fast feindselig wirken ließ. Wahrlich, ein trostloser Ort!
„Wir haben es also geschafft, Dom! Wir sind in Vivar! Ich dachte schon, dieser garstige Wald nähme nie ein Ende!“
Dom Lodovico sah gelangweilt auf seinen Begleiter, den Schreiber Pribaldo Tracodi, herab. Seit ihrem Aufbruch aus Benedictia hatte der pomadisierte Mittdreißiger, an dem sein beiger Gehrock lächerlich weit wirkte, kaum einmal den Mund gehalten. Entweder hatte er höchst uninteressante Anekdoten über die bereisten Ortschaften zum Besten gegeben, sein störrisches Muli beschimpft oder sich bei ihm anzubiedern versucht. Dabei wusste der junge Dalias genau, dass sein Halbbruder ihn nur als Aufpasser und Berichterstatter mitgesandt hatte. „Wahrlich kein Grund zur Freude, Pribaldo“, brummte er. „Sieh’ dir diesen Haufen Steine doch an! Ich will überhaupt nicht über diesen verdammten Bach.“
„Das wird auch schwer möglich sein, Dom“, entgegnete Pribaldo spitz. „Die Brücke ist nämlich zerstört.“
Das stimmte. Der hölzerne Steg, der den Waldweg, auf dem sie sich befanden, mit dem zum Weiler führenden Karrenpfad verband, war eingestürzt. Es war offenkundig, dass das Holz durchgefault war.
„Wir sind wohl nicht willkommen“, sprach Dom Lodovico angesichts des Hindernisses. „Umso besser. Dann drehen wir wieder um.“
„Aber Dom! In diesem Wald“ – der Schreiber wies entsetzt hinter sich – „wimmelt es gewiss von Wurzelbolden und Waldgeistern! Dort möchte ich nicht übernachten!“
„Nicht zu vergessen die räuberischen Trolle!“, spottete sein Herr und fügte im Stillen hinzu: ‚Das ist mir allemal lieber als ein ewiges Leben auf diesem öden Flecken Land.’
Aber Pribaldo war bereits von seinem Reittier geklettert und besah sich das Flüsschen. Sogleich rief er: „Seht doch, Dom! Hier gibt es eine Furt!“
So ritt Dom Lodovico, begleitet von seinem Schreiber, durch den Fluss auf das Land, auf dem er bis zu seinem Tode bleiben sollte, um den Besitz eines Mannes zu verwalten, den er nur dem Namen nach kannte. Sein Halbbruder hatte ihm nämlich verboten, die Baronie jemals wieder zu verlassen – zu seiner eigenen Sicherheit natürlich.
Als sie auf den asymmetrischen Vorplatz des wie jedes Gebäude hier von einer Steinmauer umgebenen Turmes gelangten, blickten einige vor Schmutz starrende Kinder von ihrem Spiel auf. Dom Lodovico zügelte sein Ross, und wie auf ein geheimes Zeichen öffneten sich Tore und Türen in den Mauern der umliegenden Gehöfte. Mehrere Erwachsene, ihrer Kleidung und ihres kurzen Haares nach wohl Kleinbauern oder Eigenhörige, kamen, um die Neuankömmlinge mit einer Mischung aus Staunen und Feindseligkeit anzustarren.
Es wurden immer mehr, bis schließlich das große Tor des an den Turm angrenzenden Gehöfts aufging und eine zierliche kleine Frau auf einem großen Rappen heraus geritten kam. Sie mochte an die 60 Götterläufe zählen und trug das schwarze Kleid einer Witwe, dazu jedoch Reiterstiefel. Ihr silbergraues Haar fiel offen und glatt herab und reichte ihr bis auf den Rücken. Und obwohl die Falten und vor allem der verkniffene Zug um die Mundwinkel ihr Gesicht verbittert und hart machten, war ihr anzusehen, dass sie früher wohl recht schön gewesen sein musste.
‚Irgendwie wie eine Fürstin’, dachte der junge Dalias bei sich. Dass sie von Adel sein musste, hatte er bereits an dem Rapier an ihrer Seite erkannt. Was ihn dagegen verdutzte, war die lange Lederpeitsche, die sie in der behandschuhten Rechten hielt.
Ohne ihn oder Pribaldo auch nur eines kurzen Blickes zu würdigen, begann sie, damit auf den nächstbesten Burschen einzuschlagen und schrie mit einer für ihr Alter erstaunlich lauten und für ihre Größe erstaunlich dunklen Stimme: „Elendiges Lumpenpack! Was gafft ihr denn so, ihr Erdkröten? Zurück an die Arbeit, aber plötzlich!“
Furchtsam duckten sich die Dörfler unter den knallenden Hieben weg und liefen in ihre Häuser, auf die Felder oder von wo auch immer sie hergekommen waren, zurück.
Nun erst machte sich die Reiterin die Mühe, die beiden Yaquirtaler von oben bis unten zu mustern. Sie tat dies ausgiebig, mit einer grimmigen Strenge und verlor dabei eine ganze Weile kein einziges Wort. „Wer seid ihr?“, fragte sie schließlich mit ihrem rauchigen Organ, das so gar nicht zu ihrem Äußeren passen wollte.
Dom Lodovico zog den Hut. „Lodovico Almanzo di Dalias und sein Schreiber Pribaldo Tracodi, zu Euren Diensten, Domna!“
„Die Zwölfe zum Gruße, Praios voran!“, zog letzterer die Mütze.
„Und was sucht Ihr hier?“, fragte die Silberhaarige ungerührt weiter, ohne den Gruß zu erwidern.
Dom Lodovico starrte sie mit offenem Mund an. Wollte sie ihn auf den Arm nehmen? „Ich… äh.“
„Seine Wohlgeboren Lodovico sind der Administrador der vivar’schen Ländereien“, half ihm der Schreiber aus.
„Ach ja? Meines Wissens verwalte ich, Inarés von Viryamun, Gut Vivar für den Soberan.“
„Viryamun! Deshalb die fürstliche Aura!“
„Oho, Ihr seid ein übler Schmeichler, junger Mann! Hütet besser Eure Zunge, wenn Ihr sie behalten wollt!“
Der Dalias schluckte. Hatte er das laut gesagt?
Doch noch ehe zu einer Korrektur ansetzen konnte, öffnete Pribaldo schon wieder sein vorlautes Mundwerk. „Ihr haltet Euch für die Administradora? Dann lest Euch einmal dies durch, wohlgeborene Domna Inarés!“ Er zog Dom Lodovicos Ernennungsurkunde aus der Rocktasche und hielt es der Magnatin vor die Nase.
Domña Inarés starrte kurz auf das Pergament, dann schrie sie einen Namen.
Kurz darauf erschien im Laufschritt eine Frau mittleren Alters mit zwei dicken Zöpfen in der Hofeinfahrt. „Ja, Domna? Ihr wünscht?“
Die Schwarzgewandete deutete mit der Peitsche auf das Pergament in Pribaldos Hand. „Lies vor!“, befahl sie.
Der Schreiber reichte der Frau mit den Zöpfen das Schriftstück und diese begann laut zu lesen:
„Hiermit sei kundgetan, dass mit sofortiger Wirkung die Administradora von Vivar, Caballera Inarés von Viryamun, von all ihren Rechten und Pflichten entbunden ist. Zum neuen Administrador von Vivar bestallt sei Lodovico Almanzo di Dalias. Ihm seien alle Pflichten und Rechte des Administradors übertragen. Der bisherigen Administradora sei auch weiterhin das Wohnrecht auf Vivar auf Lebenszeit gewährt.
[Siegel des Hauses Vivar]
Für den Soberan der Vivar Amando Dhachmani de Vivar am 8. Tag des Mondes der Rahja im Jahre 1027 nach dem Falle Bosparans.“-Der Brief Dom Amandos
Der Text war nur kurz; Dom Lodovico kannte den Inhalt. Warum also hatte Domna Inarés eigens eine Vorleserin herbeigerufen? Aus Standesbewusstsein? Um mit ihrer Macht zu prahlen? Wohl kaum. Es gab nur eine einzige mögliche Lösung: sie konnte nicht lesen! Bedeutungsvoll sah er Pribaldo an.
Dieser hatte wohl den gleichen Gedanken gehabt und grinste.
Doch die Dame aus altem Fürstengeschlecht hatte scharfe Augen. „Ihr amüsiert Euch wohl darüber, dass ich des Lesens nicht mächtig bin?“, zischte sie kalt. „Ihr eingebildeten Laffen wisst nichts vom Leben in der Waldwacht! Glaubt ihr denn, Lesen und Schreiben wären von Nöten, um Vivar zu regieren? Nein, hier braucht man das“ – sie schwang die lange Peitsche – „und im Zweifelsfall das.“ Dabei klopfte sie auf den Raufedegen an ihrer Seite.
„Gute Domna, wir –“, setzte Pribaldo zu einer Antwort an.
Doch die Viryamunerin funkelte ihn an und fuhr ihm zornig über den Mund: „Rede Er, wenn Er gefragt wird, Tintenkleckser!“ Dann wandte sie sich, nur wenig freundlicher, an Dom Lodovico. „Wo kommt Ihr überhaupt her, Junge?“
„Aus der Daliaza, Verehrteste.“ ‚Nur nicht die Geduld verlieren.’
„Yaquirtaler!“ Sie schnaubte verächtlich, beließ es aber dabei. „Nun gut. Hiermit übertrage ich Euch Eure Pflichten und Rechte.“ Mit diesen Worten warf sie ihm die Peitsche zu. „Werdet glücklich damit.“
Geschickt fing der junge Mann das Zeichen seiner Würde auf und bedankte sich höflich. Dann sagte er: „Als wir vorhin an den Fluss kamen, fanden wir die… Brücke zerstört. Sagt an, Domna Inarés, weshalb wurde sie nicht repariert?“
Mit einer Mischung aus Hohn und Mitleid blickte die Alte ihn an. „Weil im Sommer der Rôn kaum Wasser führt und im Winter niemand Vivar verlässt, Junge.“
„So ist der Fluss bereits die Grenze Vivars, Domna?“, fragte er enttäuscht.
„Am anderen Ufer beginnt der Wald von Leire, dem Waldgeist. Einst erstreckte sich das Land der Junker von Vivar vom Rôn bis zur Escarra, aber in Punin gefiel es ihnen neue Striche über das Papier zu ziehen, und jetzt herrsche ich, äh, herrscht Ihr von den Ufern des Rôn bis zu den Bergen da drüben. Und jetzt folgt mir. Ich werde Euch nachher noch alles zeigen. Zuerst solltet Ihr Euch mit Eurem Quartier vertraut machen.“ Damit wendete sie ihr Pferd und ritt auf das Gehöft zu.
Als Dom Lodovico und Pribaldo ihr folgten, zuckte die bezopfte Frau angsterfüllt vor der Peitsche in des ersteren Hand zurück.
„Mit Verlaub, Dom“, wisperte Pribaldo, „Eure Vorgängerin scheint mehr mit der Peitsche als mit dem Verstand geherrscht zu haben…“
„Kannst Ihr ja Cortezia beibringen, wenn’s dich stört. Ansonsten halt’ besser dein dummes Schandmaul, ehe mir die Peitsche ausrutscht“, zischte der Dalias ungehalten zurück und schloss zu Domna Inarés auf.
(2. Firunstunde)Bearbeiten
Der neu bestallte Administrador von Vivar saß auf dem Doppelbett, das seine Kammer im Obergeschoss des Gutshauses beinahe völlig ausfüllte und verfluchte sein Schicksal. Er musste in einem von allen Zwölfen verlassenen Tal der Waldwacht mit einem Haufen Bauerntölpel zusammenleben, auf einem völlig heruntergewirtschafteten Gutshof, auf dem es nur Schweinekot und Blutsuppe gab, wohnen, weil die Wohngeschosse des Wehrturmes einsturzgefährdet waren, dabei mit diesem Spitzel und Speichellecker Tracodi auskommen und, was am schlimmsten war, mit der Witwe des alten Soberans unter einem Dach leben.
Diese Hexe hielt ihn allein seiner Herkunft wegen für einen stinkfaulen Besserwisser und würde ihn wohl am liebsten sofort erschlagen – er würde aufpassen müssen, was er aß. Und er würde sich Respekt verschaffen müssen. Angeekelt starrte er auf die Peitsche. Keiner mochte ihn, keinem konnte er sich anvertrauen. Er war allein.
Dom Lodovico entkorkte den aus der Daliaza mitgebrachten Wein - de la noche y del día - und setzte die Flasche an den Mund.
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