Chronik.Ereignis1032 Die Herren von Pildek 09
Baronie Pildek, eines Nachts Anfang Rahja 1032 BF
Auf Maldianas Hof nahe Carhag-Lo
Autor: Von Scheffelstein
Der Freund
Talfan war tot. Heute hatten sie seinen Leichnam begraben, auf dem Boronanger von Carhag-Lo. Der Wind spielte mit dem Leinentuch vor dem Fenster und gab den Blick frei auf den nächtlichen Himmel. Nado lag auf dem Rücken und betrachtete den Mond, der als schmale Sichel über dem Wald stand.
Innerhalb weniger Tage waren zwei Leute gestorben, die ihm etwas bedeutet hatten. Esperanzada. Es gelang ihm nicht, sie zu vergessen. Weder ihre verträumten Augen – noch ihren entstellten Körper. Und jetzt Talfan. Talfan, mit dem er sich als Junge geprügelt, mit dem er den Mädchen nachgepfiffen hatte. Talfan, der ihm so manchen Rat erteilt hatte, wie man die Herzen der Mädchen – und ihre Körper – für sich gewann.
Drei Tage waren vergangen, seit der Condottiere ihn hatte gehen lassen. Drei Tage, in denen so vieles sich ereignet hatte. Die Aguerridos hatten sich von den Zahori losgesagt und deutlich gemacht, dass diese nicht mehr ihren Schutz genossen, wenn sie Reisende überfielen oder die Bauern erpressten. Nicht, dass es seither besser geworden wäre, im Gegenteil! Die Mercenarios erpressten nun selbst Wegegeld von Reisenden und Händlern und gingen dabei weitaus skrupelloser und brutaler vor als die Zahori.
Nun, da die Zahori die Söldner nicht mehr im Rücken hatten, ließen die Bauern ihren Zorn an den Fahrenden aus. Den Zorn über Talfans Tod, für den sie ihnen die Schuld gaben. Rinaldo hatte Talfan und Obidos erzählt, dass die Zahori Nado gefangen genommen hatten, und als der Morgen graute, wusste es das ganze Dorf.
Am Vormittag kamen zwei Zahori nach Carhag-Lo, um den Bauern Hühner zu bringen, die sie aus Schelak gestohlen hatten, wie sie sagten. Aber sie kamen nicht weit. Am Ortseingang begegneten sie einigen Bauernsöhnen und -töchtern, die auf dem Weg zu den Feldern waren. Unter ihnen Talfan und Obidos, die aufgeregt besprachen, wie sie Nado aus den Händen der Zahori befreien konnten.
Als sie die beiden Frauen sahen, fiel Talfan die Fußkette auf, die die ältere der beiden trug. Hatte Rinaldo nicht etwas von einer Frau mit einer solchen Kette erzählt, die Nado gefangen hielt? Talfan ließ seinen Brotkorb fallen und packte die Frau. Wo sie Nado versteckt halte, fragte er. Sie wehrte sich und sagte, sie wisse von keinem Nado. Er glaubte ihr nicht und schüttelte sie. Es kam zum Streit. Obidos, der Nado die Geschichte später erzählte, konnte sich nicht mehr an alle Einzelheiten erinnern. Nur daran, dass die Frau bei dem Streit gestürzt sei, dass sie mit dem Kopf auf einem Stein aufschlug und sofort tot war. Daran, dass Talfan geweint und gesagt habe, dass habe er nicht gewollt. Und daran, dass die andere Zahori sich schreiend über die Tote geworfen hatte, die wohl ihre Mutter war. Dann seien sie weggelaufen, Obidos, Talfan und die anderen, aber die Zahori habe Talfan nachgebrüllt, dass er verrecken solle. Verrecke, du Schwein, verrecken sollst du! – das habe sie gerufen, sagte Obidos.
Und dann, auf den Feldern, war Talfan ganz bleich geworden und schwindelig und immer schwächer. Bis er sich hinlegen musste, weil er nicht mehr stehen konnte, nicht einmal mehr sitzen. Dass er nicht sterben wolle, habe er immer wieder gesagt, dass es ihm leid tue. Und dann, ganz plötzlich, sei er tot gewesen. Einfach so.
Obidos war klar, dass es die junge Zahori war, die den Freund verflucht hatte. Die Bauern waren sich ebenso sicher. Erst Esperanzada, dann Talfan. Getötet von diesen finsteren Hexenweibern! Aber die Bauern trauten sich nicht, offen gegen die Zahori vorzugehen. Zwar warfen sie mit Steinen nach ihnen, wenn sie sie sahen. Oder prügelten die Pflücker und Mietsknechte von ihren Höfen, die sie für die Obst- und Heuernte eingestellt hatten. Aber niemand wollte den ersten Schritt tun, den entscheidenden Schritt, um die Fahrenden endlich aus Pildek zu vertreiben. Zu sehr fürchtete sich jeder, das nächste Opfer zu sein.
Nado fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Warum zögerte er? Esperanzada war tot. Talfan war tot. Der Condottiere hatte ihm einen eindeutigen Auftrag erteilt. Und alles deutete darauf hin, dass die Silfide Hexen waren, die finstere Magie betrieben und Menschen den Tod brachten. Hatten sie, um sich an Majuelo zu rächen, sein Amulett der toten Bauerstochter in die Hand gedrückt, nachdem sie sie getötet hatten? Hatten sie Majuelo dann selbst versucht umzubringen, damit er sie nicht verraten konnte? Ja, Jamal hatte erwähnt, dass Majuelo Streit mit den Silfide hatte. Und dass Talfan nur eine Stunde nach dem unglücklichen Tod der Zahori selbst starb, konnte kein Zufall sein. Und diese Zahori war eine Silfide gewesen, keine Cruento. Warum konnten seine Freunde nicht einmal zuhören, wenn er etwas sagte? Warum verstanden sie nicht, dass eine Zahorisippe mit der anderen nicht mehr miteinander gemein hatte als ein Pildeker mit einem Carhag-Loer? Aber zu spät. Zu spät für Talfan.
Nado stöhnte leise und richtete sich auf. Er musste etwas tun. Er musste es tun. Es würde weitere Tote geben, wenn die Bauern sich an den Zahori vergriffen. Doch wenn deren Mhanah tot war – vielleicht hatte dann das Morden ein Ende, vielleicht zogen die Zahori endlich aus Pildek fort.
Nado band sich sein Messer um das Bein und streifte sich das Hemd über den Kopf. Leise öffnete er die Tür und blickte noch einmal zurück in die Kammer. Auf Batistar, der auf dem Bauch in seinem Bett lag, ausgestreckt wie ein riesiger Hund, den Kopf auf einer Hand. Und auf Maldiana, seine Mutter, die kleine alte Frau, deren Haar weiß im Mondlicht leuchtete. Vielleicht würde er sie nie wiedersehen ...
Unsinn!, sagte er sich. Er würde nicht scheitern! Er würde Talfan rächen. Und Esperanzada.
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