Chronik.Ereignis1036 Besuch im Vanyadâl 32
Mark Ragathsquell, 10. Tsa 1036 BF
Grafenwald, am späten Nachmittag
Autor: von Scheffelstein
Bald nach ihrem Aufbruch aus Harmamund hatte es zu schneien begonnen. Dicke Flocken bedeckten die Kapuzen und Schultern ihrer Mäntel und hingen nass und schwer in den Mähnen der Pferde.
Richeza fluchte leise. Der Grauschimmel, auf dem sie saß, war ein Arbeitstier, alt, behäbig, unbequem zu reiten. Zumal er den Damensattel, den man ihm aufgeschnallt hatte, ebenso wenig gewohnt zu sein schien wie sie selbst. Richeza verfluchte das Kleid, das sie trug, den Schnee, den Wind und die hereinbrechende Dunkelheit. Argwöhnisch spähte sie zu den schneegebeugten Spitzen den Fichten hinauf, weiße Zipfelmützen vor der rasch hereinbrechenden Nacht.
Welch ein Irrsinn, zu so später Stunde aufzubrechen. Selbst Belisetha hatte ihr verzweifeltes Loblied auf die baldige Heimkehr zu singen aufgehört und ritt schweigend dicht hinter ihr, eine kleine gebeugte Gestalt auf dem weißen Zelter, der sich kaum vor dem verschneiten Weg abzeichnete. Hinter Belisetha ritten drei bewaffnete Gardisten der Harmamund, schwer gerüstet und auf Kriegspferden. Ein weiterer Mann und eine Frau flankierten die beiden da Vanyas, die Capitana ritt voran.
Richezas sehnsüchtiger Blick wanderte zum Sattelknauf der Hauptfrau, an dem ihr Degen festgemacht war. Auf Quazzano werde sie ihn zurückerhalten, hatte man ihr gesagt. Richeza glaubte nicht daran, ihn je wieder führen zu werden. Zorn und Angst verspürte sie bei dem Gedanken an das, was sie ihrer Ansicht nach erwartete: ein rascher, grausamer Tod. Sechs ihrer besten Gardisten hatte die Harmamund ihnen an die Seite gestellt. Als Bedeckung, wie es geheißen hatte. Als Henker, glaubte Richeza. Selbst unter anderen Umständen, in besserer Verfassung, in geeigneter Kleidung, mit ihrer Waffe in der Hand, auf einem schnellen, kampferprobten Ross, wäre es schwer geworden gegen sechs Gegner, die ihr Handwerk verstanden. Aber so? Und mit Belisetha als Klotz am Bein? Und dem Kind ...
Der schneidende Wind fuhr Richeza unters Kleid und ließ sie erschauern. Sie zerrte den Stoff fest und starrte bitter in den verschneiten Wald. Wo würden sie es tun? Gewiss nicht direkt auf dem Weg, oder? Vielleicht würden sie sie in eine Senke führen, in der Hoffnung, dass der jungfräuliche Schnee die Spuren ihres Todes bald verwehen würde. Vielleicht würden sie sie an einen Abgrund führen und hinab stoßen, dorthin, wo niemand sie fände, selbst wenn es bald zu tauen beginnen sollte, auch wenn es derzeit schien, als wolle der Winter doch kein so rasches Ende nehmen. Gab es hier solche Schluchten oder war die Mark zu flach? Oder würde man sie in Stücke hacken, in einen Sack stopfen und irgendwo verbrennen?
Je mehr Richeza sich ihren Gedanken hingab, desto wütender wurde sie. Doch der Zorn richtete sich erstaunlicherweise nicht gegen ihre Bewacher, nicht einmal gegen Morena von Harmamund. Werdet Ihr mir nur eine Träne nach weinen, dachte sie, wenn es zu spät ist? Oder Eurem Kind?
Nein, sie wollte sich nicht kampflos ergeben! Andererseits: Wäre es nicht doch besser zu leben als einen sinnlosen, zornigen Tod zu sterben, einen derart erbärmlichen, dass nicht einmal ihre Tante ihre Todesverachtung preisen würde? Nur: Wie durfte sie hoffen zu entkommen, zu Fuß im dichten Schneetreiben mit dem unbequemen Kleid, das sich sofort voll Wasser saugen würde? Da wäre ein Gerüsteter vielleicht noch schneller als sie!
Der Wind rauschte in den Bäumen; er hatte an Stärke zugenommen. Schnee wirbelte vom Boden auf. Richeza nagte an ihrer Unterlippe, die Handschuhe fest um die Zügel des Gauls geschlossen, den Blick auf den Rücken der Capitana geheftet. Gerade überlegte sie, wie es einer Unbewaffneten gelingen sollte, eine geharnischte Reiterin zu töten, als etwas gänzlich Unvorhergesehenes geschah ...
Autor: von Scheffelstein
Eine Bewegung aus den Augenwinkeln ließ Richeza zusammenzucken. Instinktiv duckte sie sich über den Hals des Tieres. Zeitgleich war aus Richtung der Capitana vor ihr ein hässliches Schmatzen zu hören, begleitet von einem Krachen, als spalte eine Axt einen Brennholzscheit. Mit einem erstickten Gurgeln kippte die Gardistin aus dem Sattel und stürzte rücklings in den verharschten Schnee, der sich sofort dunkel färbte. Ein Fuß hing noch im Steigbügel, aus dem, was mal ihr Gesicht gewesen war, ragte der Schaft eines Armbrustbolzens. Der Helm hatte ihr nichts genützt, zumal sie das Visier wegen der Dunkelheit offen getragen hatte. Das Pferd schnaubte, trabte an, schleifte die Tote hinter sich her, blieb stehen und tänzelte auf der Stelle.
"Schilde hoch!" – "Das kam von vorne!" – "Da, rechts, Achtung!", schrien die Soldaten durcheinander. Gegen das flackernde Licht der Fackel war in der Dunkelheit niemand zu sehen.
Richezas Herz raste, in ihrer Magengrube flatterte die Angst. Dennoch zögerte sie keinen Augenblick. Sie trieb ihr Pferd an das der toten Capitana heran, ließ sich aus dem Sattel gleiten und stürzte geduckt zu der gefallenen Soldation hinüber, zerrte – die Deckung, die das Ross ihr gab, nutzend – an deren Stiefel, bekam den Fuß frei, schwang sich in den Sattel. Vom Waldrand her vernahm sie ein mehrstimmiges Brüllen. Richeza trat dem Pferd die Hacken in die Flanken, tief über den Hals des Tieres gebeugt, versuchte zugleich, den Degen blank zu ziehen, fluchte, weil sie die Klinge nicht frei bekam.
"Schützt die da Vanyas!", schrie jemand hinter ihr.
Erleichterung mischte sich in die Furcht: Jemand kam, sie zu befreien! Den Göttern – oder besser noch: den Rettern – sei Dank! Jetzt nur rasch aus dem Kampfgetümmel heraus, aus der Schusslinie, den Degen ziehen ...
Das Tier sprang vorwärts, schnell auf dem unebenen Weg. Wenn nur jemand die Harmamunder aufhielt!
Richeza warf einen Blick zurück; das Blut gefror ihr in den Adern ...
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