Chronik.Ereignis1032 Besuch aus Albernia 01: Unterschied zwischen den Versionen

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Nur noch wenige Stunden trennten Selina Castos von dem ragathischen Städtchen Yasamir. Ob es einen ebenso sauberen Eindruck machen würde, wie die anderen Landstädte mit ihren weiß gekalkten Wänden? Hier wirkte alles so beschaulich - friedlich und das nicht nur während der Mittagsstunden, wenn die Einheimischen für einige Zeit ihr Tagwerk zu unterbrechen beliebten.
Nur noch wenige Stunden trennten [[:alb:Selina Castos|Selina Castos]] von dem ragathischen Städtchen [[Yasamir]]. Ob es einen ebenso sauberen Eindruck machen würde, wie die anderen Landstädte mit ihren weiß gekalkten Wänden? Hier wirkte alles so beschaulich - friedlich und das nicht nur während der Mittagsstunden, wenn die Einheimischen für einige Zeit ihr Tagwerk zu unterbrechen beliebten.


Alles schien soviel leichter, müheloser unter der Sonne Almadas, die dem Land relativem Reichtum und gute Weine brachte. Kurzum: Es hätte keinen größeren Kontrast zu dem vom Krieg verwüsteten Albernia geben können.
Alles schien soviel leichter, müheloser unter der Sonne Almadas, die dem Land relativem Reichtum und gute Weine brachte. Kurzum: Es hätte keinen größeren Kontrast zu dem vom Krieg verwüsteten Albernia geben können.


Vieles lag schon hinter ihr. In Kuslik war sie mit einem Segler der Albernischen Handelscompagnie angekommen. Galydia hatte ihr geraten, von dort ein Flussschiff bis Punin zu nehmen. Selina hätte freilich auch weiter fahren können. Hoch den Yaquir bis nach Pertakis.
Vieles lag schon hinter ihr. In [[:lfwiki:Kuslik|Kuslik]] war sie mit einem Segler der Albernischen Handelscompagnie angekommen. Galydia hatte ihr geraten, von dort ein Flussschiff bis [[Punin]] zu nehmen. Selina hätte freilich auch weiter fahren können. Hoch den [[Yaquir]] bis nach [[:lfwiki:Pertakis|Pertakis]].
Doch ihrer Schwägerin war in letzter Minute eingefallen, dass Selina noch einige weitere Besorgungen erledigen könnte – wenn sie schon einmal in Kuslik vorbeikam. Was blieb ihr übrig als zuzustimmen? Beinahe bereute sie, dass sie Aelfwyns Bitte sie begleiten zu können, ausgeschlagen hatte. Er hätte diese ganzen Besorgungen gut erledigen können. Aber es war wichtiger, dass er hier in Havena blieb, falls in der nächsten Zeit eine Entscheidung über Retos Schicksal gefällt würde.
Doch ihrer Schwägerin war in letzter Minute eingefallen, dass Selina noch einige weitere Besorgungen erledigen könnte – wenn sie schon einmal in Kuslik vorbeikam. Was blieb ihr übrig als zuzustimmen? Beinahe bereute sie, dass sie Aelfwyns Bitte sie begleiten zu können, ausgeschlagen hatte. Er hätte diese ganzen Besorgungen gut erledigen können. Aber es war wichtiger, dass er hier in Havena blieb, falls in der nächsten Zeit eine Entscheidung über Retos Schicksal gefällt würde.


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Er lachte - und fuhr mit dem verschmitzten Lächeln eines alten Magisters fort.
Er lachte - und fuhr mit dem verschmitzten Lächeln eines alten Magisters fort.


"Bin ich doch so alt geworden, dass man mich nicht mehr erkennt. Meister Abraxas - Baron Elvek Ida von Yasamir wenn Ihr so wollt. Der Lehrer Eurer Töchter. Wenn mich nicht alles täuscht, haben sie im Moment allerdings Unterricht bei einem geschätzten Kollegen."
"Bin ich doch so alt geworden, dass man mich nicht mehr erkennt. Meister Abraxas - Baron [[Elvek Ida]] von Yasamir, wenn Ihr so wollt. Der Lehrer Eurer Töchter. Wenn mich nicht alles täuscht, haben sie im Moment allerdings Unterricht bei einem geschätzten Kollegen."


Wie oft hatte sie den Altbaron von Yasamir gesehen? Zwei-, dreimal vielleicht? Sie erinnerte sich an einen noch nicht grauhaarigen Mann, der ihr des langen und breiten von seinen alchemistischen Studien erzählt hatte, um dann unvermittelt das Thema zu wechseln und noch begeisterter über seinen Erstgeborenen zu sprechen, ein wahres Wunderkind, wenn man dem Vater glauben durfte. Leider hatte er nicht das magische Talent des Vaters geerbt.
Wie oft hatte sie den Altbaron von Yasamir gesehen? Zwei-, dreimal vielleicht? Sie erinnerte sich an einen noch nicht grauhaarigen Mann, der ihr des langen und breiten von seinen alchemistischen Studien erzählt hatte, um dann unvermittelt das Thema zu wechseln und noch begeisterter über seinen Erstgeborenen zu sprechen, ein wahres Wunderkind, wenn man dem Vater glauben durfte. Leider hatte er nicht das magische Talent des Vaters geerbt.


„Verzeiht meine Unaufmerksamkeit, Hochgeboren. Ich bin es tatsächlich Doch ich hatte nicht erwartet, jemand Bekanntem hier zu begegnen." Sie wirkte nicht sonderlich zerknirscht bei diesen Floskeln, wozu auch. Es waren die Dinge, die Leute halt hören wollten.
„Verzeiht meine Unaufmerksamkeit, Hochgeboren. Ich bin es tatsächlich. Doch ich hatte nicht erwartet, jemand Bekanntem hier zu begegnen." Sie wirkte nicht sonderlich zerknirscht bei diesen Floskeln, wozu auch. Es waren die Dinge, die Leute halt hören wollten.


„Die Mädchen haben davon berichtet, dass Ihr zu ihren Lehrern gehörtet."
„Die Mädchen haben davon berichtet, dass Ihr zu ihren Lehrern gehörtet."
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Die Tage – und einige Nächte - vorher waren mit verschiedenem ausgefüllt gewesen, sie hatten die Tempel der Stadt besucht, waren im Observatoriumsturm des Akademie gewesen, und auch an zwei Tagen in Gestüten vor der Stadt, weil ihre Mutter erwähnt hatte, dass sie sich bald ein neues Pferd kaufen wollte. Die Pferde waren ihr zu eigenwillig gewesen – wunderschöne, leichte, wendige Tiere, pures Vergnügen, auf ihnen über den Boden zu schweben– aber sie bevorzugte aus alter Erziehung willig dienende Pferde, auf die man sich blind verlassen konnte, die nichtmutwillig prüften, wer der Herr in dieser Partnerschaft war.
Die Tage – und einige Nächte - vorher waren mit verschiedenem ausgefüllt gewesen, sie hatten die Tempel der Stadt besucht, waren im Observatoriumsturm des Akademie gewesen, und auch an zwei Tagen in Gestüten vor der Stadt, weil ihre Mutter erwähnt hatte, dass sie sich bald ein neues Pferd kaufen wollte. Die Pferde waren ihr zu eigenwillig gewesen – wunderschöne, leichte, wendige Tiere, pures Vergnügen, auf ihnen über den Boden zu schweben– aber sie bevorzugte aus alter Erziehung willig dienende Pferde, auf die man sich blind verlassen konnte, die nichtmutwillig prüften, wer der Herr in dieser Partnerschaft war.


So viel war also schon passiert - Kuslik, Pertakis, Punin. Doch das eigentliche Ziel der Reise lag noch vor ihr. Linkerhand führte ein recht passabler Pfad von der Reichsstraße ab. Ein relativ neuer Wegweiser wies unter anderem Yasamir in wenigen Meilen Entfernung aus.
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Sie bog ab - weg vom Yaquir, der wenig entfernt im Sumiswald bei den Ruinen Yaquirquells entsprang. Nach Norden hin sah sie eine Hügelkette - wohl ein Ausläufer des Amboß und Selina meinte dort Weinberge zu erkennen. Dorthin führte wenig später ein zweiter Wegweiser.
 
Der Weg wurde etwas schmaler und steiler. In weiten Schlangenlinien wand er sich auf einen Hügel mit zwei Gipfeln. Schließlich wurde der Anstieg flacher und die Spur der Schlange zielte auf die Lücke zwischen den Gipfeln.
 
Dort war eine Stadt, gespannt über den linken Hügel und von einer Mauer umschlossen. Auf dem rechten Hügel freilich erhob sich eine Burg mit der schmaleren Seite zu ihr. Banner mit Silber und Grün wehten auf ihren Zinnen.
 
Selina schlug den Weg dorthin ein: Eine reiche Burg schien es, fast wie aus dem Märchen. Das Gefühl der Unwirklichkeit beschlich sie wieder wie schon so oft auf dieser Reise, das Glück in diesem Land wirkte in seinem Gegensatz zu den Verhältnissen in Albernia wie künstlich, wie gespielt Immer wieder, gerade in der Stadt Punin mit ihrer sorglosen Lebensweise, die ihre Töchter vollauf teilten, hatte sie dieses Gefühl beschlichen, hier völlig falsch zu sein. Oder das Land war falsch, wer vermochte das schon zu sagen.
 
Ihre Hoffnung, dass ein Pfad um die Stadt herum zur Burg führen würde, erfüllte sich nicht. Sie war gezwungen, durch die Stadt hindurch zu gehen, die Pferde kurz am Zügel führend.
 
Niemand hielt sie am Tor auf und so war sie schnell im Treiben des Städtchens, welche Abilacht wohl kaum nachstand. Vom Marktplatz mit den weißgekalkten Gebäuden führten Treppen zu Häusern, die sich mehrfach gestaffelt die Hänge hoch erstreckten. Unter ihnen waren Marktstände, manche wohl fest eingerichtet. Bäcker, eine Garküche, ein Stoff- und ein Weinhändler, Krämer.
 
Sie ging weiter die Allee gen Osten am Weinhändler mit seinen Glaskaraffen und schweren Eichenfässern vorbei. Geruch schweren Weines und von Schnäpsen zogen herüber. Altbaron Elvek, dessen Gesellschaft Jana und Lyn ihre Mutter einen Tag lang anvertraut hatten, um ihre Studien nicht zu vernachlässigen, hatte vom Yasamirer Wein geschwärmt, besonders von dem des Winzers Yanncra Eltzek. Und erst der Brannt, den er aus den süßen, spät gelesenen Trauben herstellte! Sie suchte dessen Haus auf und erstand schließlich eine kleine Flasche Brannt, ohne zu wissen, was sie eigentlich damit wollte.
 
Schließlich die letzten Häuser und das freie Feld vor der Burg, ein Rechteck mehr als doppelt so lang wie breit. Hoch erhoben sich die Mauern über ihr mit einem guten Blick über die Umgebung und doch schien diese Burg nicht nur Wehranlage. Die Vorderfront schien ein einziges Gebäude, mit vergitterten Fenstern. Sie spiegelten das Sonnenlicht. Verglaste Fenster und das in diesem warmen Land. Ja, es war wahrhaftig warm hier, selbst in der Nacht in der sie die Sterne betrachtet hatten, war ihr Rheuma ferngeblieben.
 
Sie trieb das Pferd den Weg zur Burg hinauf, hoffend, dass der Baron anwesend sein würde. Dann könnte sie in wenigen Tagen schon wieder auf dem Rückweg sein. Ob inzwischen wohl Nachricht über die Königin und ihre Begleiter gekommen war? Und von Reto, der im Gefolge der Kaiserin – sie stöhnte fast hörbar auf – zum Zusammentreffen gereist war?
 
Der einzige Weg war eine Rampe im Schatten des Torhauses. Ein robustes Eisengitter und ein dahinter liegendes Eichenportal versperrten den Weg hinein. Hier war der Weg zu Ende. Unwillkürlich glitt der Blick nach oben und sie bemerkte eine Bewegung hinter einer Schießscharte oberhalb des Tores.
 
Weshalb war das Tor versperrt, wunderte sie sich. Das Städtchen wirkte nicht sonderlich kriegerisch und auch auf dem Weg hierher war es friedlich gewesen, hatten die Bauern, die die Dreschflegel schwangen, nur im Sinn, das Korn zu schlagen und nicht die Köpfe von Feinden.
 
Sie ließ das Pferd halten. „He, Ihr da!" rief sie nach oben. „Öffnet das Tor. Ich bin Selina Castos und bringe Nachricht von Galydia Toras-Helman aus Havena!"
 
Ein Gesicht erschien hinter der Schießscharte. Jemand winkte ihr kurz zu und verschwand. Sie hörte Schritte von Stiefeln auf Steinboden. Ein Soldat mit sauber gestutztem Kaiser-Reto-Bart kam von links und blickte sie neugierig an.
 
"Eine Botin seid Ihr, Domna Castos? Von wem sagtet Ihr, ist die Nachricht?"
 
Selina sah den prächtig aufgemachten Soldaten ruhig an. „Die Nachricht ist von Galydia Helman, der Tante des Barons Jan Ida von Yasamir. Nebenbei soll ich ihm Grüsse von seinem Vaterausrichten."
 
Der Soldat nickte.
 
"Domna Helman - aus Lyngwyn - ah! Verzeiht – Domna Castos! Ich werde Euch öffnen lassen."
 
Er machte ein Zeichen nach oben. Langsam unter dem Rasseln von Ketten wurde das Fallgitter hochgezogen, sodass sie hindurchgelangen konnte. Als der Lärm verklungen war, fuhr der Soldat fort: "Aber verzeiht: Ich bin Leutnant Rinaldo von Torrefalcó. Ich werde Euch ankündigen lassen. Vielleicht habt Ihr Glück und man hat sofort für Euch Zeit. Darf ich einstweilen nach einem Stallknecht schicken lassen?"
 
Während er das sagte, öffnete sich auch das Eichenportal.
 
„Danke, Leutnant. Für beides. Sagt, warum verriegelt man bei Euch das Tor wie zu Kriegszeiten?"
 
Der Leutnant nickte.
 
"Ganz verstehe ich es selbst nicht. Der Hauptmann hat es angeordnet, solange die Burgbesatzung nicht vollzählig ist. Ein Teil der Soldaten ist unten am Markt. Ihr müsst wissen, es gab eine Schlägerei letzte Woche dort und das soll sich nicht wiederholen."
 
Er wies auf das Tor und Selina sah dahinter eine Rampe, die rechts abbog. Frontal darüber befand sich ein schlichteres Gebäude - wohl Stallungen und Gesindehaus. Jenseits der Rampe am Ende eines großen Hofes war ein zweigiebliges Herrenhaus. Das Wachhaus hingegen fand seine Fortsetzung parallel dazu in einem hohen Gebäude mit einem deutlich abgesetzten Rundturm.
 
Rinaldo winkte zwei Bedienstete heran, einen Knecht und eine Magd.
 
"Domna Castos - Alricio wird sich um Euer Pferd kümmern - wenn Ihr wünscht. Und Lina wird Euch führen, damit Ihr Euch ankündigen könnt. Mir hingegen mögt Ihr Eure Waffen anvertrauen, wenn sie Euch allzu hinderlich sein sollten."
 
Sein Ton war nicht zu interpretieren, als er das Letzte sagte.
 
Wie geschnörkelt formuliert! Oh ja, die Sprachgewandheit des Leutnants stand hinter der Kunstfertigkeit, mit der sein Bart gestutzt war, kein bisschen zurück. Selinas Schwager Throndwig verlor sicher viele Worte, doch schließlich meinte er damit immer noch, was er sagte. Hier sagte man nicht direkt, was man meinte, wenn man nicht als grob und ungehobelt gelten wollte.
 
Lyn, die Zweitgeborene, hatte dem Besoffenen, der vor dem Fenster gegrölt hatte, kein„Halt’s Maul" zugeworfen, sondern ihn stattdessen freundlichst ersucht, doch etwas leiser zu singen, wenn es ihm nichts ausmache. Oh, es machte ihm etwas aus, er hatte genug geladen, um mit Vergnügen grob und ungehobelt zu werden. Daraufhin hatte Lyn ihm ohne Umschweife den Inhalt des Nachttopfs ins Gesicht gekippt und die Läden abrupt geschlossen. Vermutlich hatte eine der beiden auch noch gezaubert, denn es war doch verdächtig still geworden auf der Strasse.
 
Und wenn man hier genauso geziert sprach und unverblümt handelte, dann hatte sie wohl keine Wahl, als die Waffe abzulegen. Was – phexverdammt – ging hier vor? Zeit gewinnen. Erfahren, was hier gespielt wurde.
 
„Danke, Leutnant, zu freundlich von Euch. Wenn Ihr gestattet, schaue ich selbst noch rasch mit in den Stall, so muss ich später nicht fragen, wo das Pferd steht. Nichts ist peinlicher, als wenn man nicht weiß, wo das eigene Pferd ist."
 
Der Leutnant lächelte und betrachtete das Pferd mit einem - wie es schien - erfahrenen Blick.
 
"Ich verstehe", sagte er. "Ein robustes Reisepferd, hm? Man züchtet etwas Ähnliches in der Gegend hier für schwere Arbeiten. Und Eure Waffe?"
 
Ah, Streit? Gerne doch, Herr Leutnant Aalglatt. Wäre es ihre Thalionmel gewesen, über die dieses unangemessene Urteil gerade gefällt worden war, der Leutnant hätte sich einer wütenden Löwin gegenüber gesehen. Doch es war ja nur ein Mietpferd, und so fiel es Selina leichter, mit wutfunkelnden Augen, aber mit einem verständnisvollen Nicken zu antworten: „Ja, ich habe bereits bemerkt, dass hier vielerorts zu leichte Pferde für zu schwere Arbeiten eingesetzt werden. Vermutlich gehen die Liebe zu edlen Pferden und der Traum von einem Renner vielen über die Vernunft. Ich hoffe, es werden nicht allzu viele von ihnen auf diese Weise zuschanden gemacht."
 
Rinaldo nickte - und wollte es scheinbar auf keinen Ärger ankommen lassen, wenn er auch in seiner Ehre etwas gekränkt schien.
 
"Oh - der Almadaner an sich liebt Pferde, aber die einen werden für die Arbeit, andere für die Jagd, wiederum andere für den Krieg gezüchtet Und kein Adeliger, der etwas auf sich hält, kennt sich nicht auf die eine oder andere Weise mit der Pferdezucht aus. Aber wem sage ich das, Domna Castos?"
 
Selina bestätigte mit einem Nicken die ihr unterstellte Pferdekenntnis, diese neue Spitze nicht bemerkend, dann berührte sie flüchtig den Griff ihres Säbels, der als einzige Waffe an ihr zu sehen war, wenn man das Messer nicht mitzählen wollte, doch ein Messer trug nun wirklich jeder, selbst Unfreie.
 
„Aber diese Waffe… nun, ich gebe sie nicht aus der Hand. Ich habe sie von meiner Mutter erhalten, sie hat Leben gerettet und Leben genommen und ich habe mich auch schon einmal in Lebensgefahr begeben müssen, um sie wieder zu erlangen. Nennt es Aberglaube, doch ich vertraue sie keinem anderen an Ihr habt sicher nichts dagegen, wenn ich sie stattdessen bei meinen Sachen lasse?"
 
Offen sah sie Rinaldo von Torrefalcó an, erwartend, dass ihrem Vorschlag stattgegeben würde.
 
Dieser schüttelte leicht den Kopf.
 
"Domna Castos, ich wusste nicht, dass Euch soviel daran liegt. Wohlan - solltet Ihr noch etwas zur Waffenpflege brauchen, wendet Euch an Lina. Habt Ihr noch etwas auf dem Herzen?"
 
„Jetzt, wo ich angekommen bin, merke ich erst, wie warm es auf der Reise war. Wenn ich mich noch etwas waschen könnte, bevor ich meine Botschaft überbringe? Lina, würdest du mir dabei behilflich sein."
 
Die wohl erst sechzehnjährige Magd knickste einmal.
 
"Ja, Domna Castos", sagte sie mit etwas leiserer Stimme und Rinaldo schien noch einmal Hilfestellung geben zu wollen.
 
"Sprich am besten mit dem Majordomus - sag ihm, eine Botin der Baronin von Lyngwyn bittet um Gastung und ein Gespräch mit dem Herrn Baron. Am besten holst Du sie am Stall ab, sobald Du weißt, welches Zimmer frei ist." Ernickte. "Domna Castos, man wird Euch ohne Zweifel so schnell wie möglich eine Unterkunft zur Verfügung stellen und sehen, wann Ihr Eure Botschaft überbringen könnt. Verzeiht, wenn das Ganze ein wenig dauert, aber Euer Besuch war nicht angekündigt. Ihr entschuldigt mich? Die Pflicht ruft. Oder habt Ihr noch einen Wunsch?"
 
„Danke für Eure Freundlichkeit, Leutnant, ich denke nicht."
 
Sie wandte sich um: „Alricio?"
 
Der Knecht führte sie zu den Stallungen, wo sie sich erst einmal in aller Ruhe um ihr Reisepferd kümmern konnte.
 
Ganz gegen ihre Gewohnheit begann Selina ein Gespräch mit dem Knecht. „Sag, Alrik -Alricio, was ist das für ein Aufruhr in der Stadt, dass ihn nur die Wachen des Barons in Zaum halten können? Gibt es dort keine Büttel? Und wovor fürchtet sich dein Herr? Selbst in Kriegszeiten waren in Albernia die Tore zwar bewacht, aber selten verriegelt, es hätten ja Flüchtlinge kommen können… und hier gräbt man sich ein. Dabei wirkt das Land glücklich", setzte sie im kläglichen Versuch, ihre direkten Fragen hinter Plauderei zu verstecken, hinzu.
 
"Nun - das ist mehr als ich weiß. Ich habe nur gehört, dass der Bürgermeister selbst den Baron um Hilfe gebeten hat", sagte der Knecht, während er beim Absatteln half. "Ich bin leider noch nie aus Yasamir rausgekommen. Aber ich hörte, inGareth soll es auch schlimm aussehen - dort gibt es Briganten und Hunger."
 
Selina schnaubte. Was war das hier? Das verheißene Land, in dem die Dienstboten nicht über die Angelegenheiten ihrer Herrschaften tratschten? Dann wäre es wahrhaftig einen zweiten Gedanken wert, sich hier niederzulassen.
 
Doch sie musste immerhin einräumen, dass es Gareth schlimmer getroffen habe als Albernia.
 
„Seit wann sind die Soldaten unten in der Stadt? Wechseln sie mit der Wache der Burg ab? Ist die Burg schon seit letzter Woche so verriegelt? Hat der Baron selbst in der Stadt nach dem Rechtengesehen?" Selina hatte viele kleine Fragen, die sie aber nicht mit dem Klang kleiner Münzen untermalte.
 
Der Knecht zögerte.
 
"Die Soldaten sind seit letzter Woche unten. Wie gesagt, der Herr Baron konnte es dem Bürgermeister wohl nicht abschlagen. Immerhin ist er ein wichtiger Kaufmann hier und er fürchtet wohl, der Rat könne ihn beim nächsten Mal nicht wieder wählen, wenn er nicht auf die oder andere Weise dafür sorgt, dass durchziehende Fremde keinen Ärger machen." Er zögerte und stellte schnell klar: "Eigentlich könnte es dem Baron gleich sein, aber so schuldet der Bürgermeister ihm halt einen Gefallen. Na ja - was der Burghauptmann, Baronet Trutz, daraus wieder macht, ist eine andere Sache. Der sagt ja, früher oderspäter käme die Kaiserin hierher - und man solle frühzeitig üben."
 
„Hoffen wir, dass der Burghauptmann sich irrt." Klang dieser Satz auch für Alricio so verlogen, wie er sich für sie selbst anfühlte? Die Kaiserin würde kommen. Aber vielleicht hatte Retos Vetter ebenfalls dessen Talente, sein Mäntelchen nach dem Windezuhängen.
 
Wenig später kam auch Lina wieder und verkündete, dass ihr Zimmer bereit sei und sie sich frisch machen könne. Auch ein Mahl würde angerichtet, so sie hungrig sei von der Reise. Danach würde der Majordomus gerne mit ihr sprechen.
 
Lina konnte den Informationen Alricios nichts hinzufügen – außer der in dieser Situation verdächtigen Tatsache, dass der Majordomus sie sprechen wolle und nicht der Baron selbst.
 
Selina ließ sich Zeit mit dem Waschen, um Zeit zu haben nachzudenken, denn essen wollte sie jetzt nichts, und sie fragte Lina, ob der Baron etwa nicht anwesend sei.
 
Ihren Säbel ließ sie wie zugesagt zurück – eingeschlossen in die Kiste mit ihren Sachen. Wohl war ihr nicht dabei angesichts der Umstände hier.
 
Dann bat sie die Magd, sie zum Majordomuszuführen.
 
Der Majordomus - ein Mann mit unverkennbar tulamidischem Einschlag - begrüßte sie mit ausgesuchter Höflichkeit. Er hörte sich Selinas Ansinnen an, dem Baron eine persönliche Nachricht zu überbringen. Dann bat er kurz darum, sich das Siegel ansehen zu dürfen, welches er eingehend studierte. Anschließend gab er den Brief ungeöffnet zurück.
 
"Nun - Ihr braucht nicht zu berichten, was im Brief steht. Ich denke, dass Euch Baron Ida gerne am Morgen empfangen wird."
 
Selina erwiderte den Gruß des Majordomus eher knapp - Tulamiden und Novadis waren für sie eins, und seine übertriebene Höflichkeit konnte ihre spontane Abneigung nicht mindern, eher war das Gegenteil der Fall. So gab sie ihm nur zögernd den Brief, überzeugt, dass er ihn trotz seiner Zusicherung jeden Moment öffnen würde.
 
Sie steckte den Brief rasch wieder ein, als er ihn ungeöffnet zurückgab, und antwortete dem Majordomus mit einem trockenen: „Danke", und empfahl sich wieder.
 
Sicher würde sie den Burghauptmann finden können und ihn fragen, weshalb er die Burg für bedroht hielt. Sie suchte auf dem Hof jemanden, der ihr weiterhelfen konnte.
 
Dabei sah sie vor allem Bedienstete wie Alricio am Stall, aber auch einige Hausdiener. Nachdem sie eine Weile gewartet hatte, sah sie schließlich auch einen Mann mit prächtigem Kürass. Der Mittdreißiger trug Bart und Haupthaar nach Almadaner Mode. Seine schnellen Schritte führten ihn die Rampe vom Wachhaus hoch.
 
Kurz begegneten sich ihre Blicke und Selina vermeinte ein vage vertrautes Gesicht zu erkennen. Es erinnerte an den alten Magus. Und es war nicht Baron Jan. Es konnte nur sein Bruder Trutz sein - natürlich Baronet Trutz! Der Burghauptmann.
 
Sie ging mit raschen Schritten auf ihn zu. „Ihr seid Burghauptmann Trutz Ida? Ich bin Selina Castos, mit einer Botschaft von Galydia Helman hierher gesandt. Könntet Ihr mir wohl einige Augenblicke erübrigen?"
 
Der Gerüstete hielt an. In seinem Gesicht war ein überraschter Ausdruck.
 
"Nachricht von meiner Tante? Selina Castos? Natürlich, Völs! Ein weiter Weg. Muss eine wichtige Botschaft sein, so mitten im Krieg. Ich hoffe, Eure Reise war angenehm." Er streckte die Hand aus. "Ein wenig Zeit habe ich, ja."
 
Es beeindruckte Selina sehr, dass der Baronet offensichtlich nicht nur die engere Familie kannte, sondern sich auch mit den entfernteren Verwandten und Verbindungen beschäftigt hatte. Sie ergriff seine Hand und drückte sie fest. „Nun, immerhin fand Eure Tante sie wichtig genug, ich kenne mich mit diesen Geschichten zuwenig aus. Handel, Beteiligungen…" Sie zuckte die Schultern und sah dann einen Moment zu Boden, ehe sie Trutz wieder ansah. „Der Krieg wird jetzt zu Ende sein, wie auch immer. Als ich Havena verließ, war die Königin auf einem Bußgang, um das Knie vor der Kaiserin zu beugen. Was dann geschehen ist… Ich hoffe, das bleibt Almada erspart. - Doch verzeiht, damit wollte ich Eure Zeit gar nicht vergeuden." Sie schüttelte den Kopf über ihre Schwatzhaftigkeit. „Ich war nur sehr verwundert, dass Ihr das Tor habt schließen lassen, weil in der Stadt Unruhen waren. So hörte ich es zumindest von Leutnant von Torrefalcó. Deshalb wollte ich Euch nach den Hintergründen fragen."
 
Der Baronet schien ob Selinas Worten zusehends besorgter zu werden.
 
„Unruhen? Das hat Rinaldo wirklich so gesagt? Hat er sich doch von der Sorge des Bürgermeisters anstecken lassen… Der hat doch nur Angst um seine Wiederwahl. Und mal ganz ehrlich? Fünf betrunkene Questadores, mit denen die städtischen Büttel nicht zurechtkommen, sind keine Unruhen. Aber mein Bruder hat sich nun mal entschlossen, Meister al Rafim aus der Patsche zu helfen."
 
Er strich beiläufig eine Fluse von seinem Ärmel und seufzte.
 
„Das Tor ja – ich hielt es für eine gute Idee, solange ich nicht alle Soldaten auf der Burg habe. Zudem sollten die Soldaten der Burgwachegelegentlich daran erinnert werden, dass Almada gegen das Reich steht. Und wenn ich Euch richtig verstanden habe: Ganz allein. Es sind keine guten Nachrichten… Nun– ich hoffe, Ihr habt noch Besseres zu berichten als dies."
 
„Leutnant von Torrefalcó sprach genau gesagt von einer Schlägerei, die letzte Woche in der Stadt stattgefunden hätte. Von nicht mehr. Es klang nach solch einer Nichtigkeit, dass mich das verschlossene Tor erstaunte und ich mehr dahinter vermutete. So wollte ich Euch selbst nach dem Grund dafür fragen. Und ja –Almada dürfte jetzt allein gegen das Kaiserreich stehen, von daher scheint es gut zu sein, dass die Soldaten merken, wie es sich in einer eingeschlossenen Burg anfühlt. Die guten Nachrichten?" Selina lächelte schwach:„Eure Tante Galydia hat große Pläne angesichts des Kriegsendes und Euer Vater ist wohlauf und mit Feuereifer an seiner Arbeit."
 
Ihre Töchter fielen ihr ein, die ihr Studium gut beendet hatten und für Elvek Idas außergewöhnliche Studien arbeiteten, und dann gab es ja noch ihren Enkel. Ihr Lächeln vertiefte sich. „Es gibt noch das eine oder andre, was für mich wichtig ist, aber weniger für Euch. Ich danke Euch für Eure Auskunft."
 
Trutz nickte.
 
"Gut zu hören, dass mein Vater bei seinen Studien ist. Es ist gut, eine Aufgabe zu haben." Er zuckte mit den Schultern und ging langsam einige Schritte. "Für das Andere - gerne - wenn es Euch gefällt, so geheimnisvoll zu tun. Seid gewiss, ich werde ohnehin alles erfahren, auch wenn die Botschaft für meinen Bruder - den Baron - sein sollte. Da ich ansonsten vermute, dass Ihr gut untergebracht seid, schaut Euch hier ruhig weiter um."
 
Selina nickte: „Daran zweifle ich nicht, Hauptmann, doch es würde sich nicht geziemen, wenn Ihr vor Eurem Bruder vom Inhalt der Botschaft wisst, die an ihn gerichtet ist. Wenn er Euch über alles in Kenntnis setzen möchte, ist es um so besser. Doch es ist nicht an mir, ihm vorzugreifen"
 
Götter, der eine befand, dass sie ihn nicht über den Inhalt des Schreibens informieren müsse, der andre würde sehr gern… wie war das, was hatte sie noch gedacht, als der Leutnant sie um ihre Waffe gebeten hatte: Die Almadaner sagten nie, was sie meinten? Irgendetwas rastete in ihrem Kopf ein. Warum bei allen Zwölfen waren der Majordomus und der Bruder des Barons so erpicht darauf, den Inhalt des Schreibens zu erfahren?
 
„Ja, die Burg scheint mir interessant angelegt und ich werde mich gerne noch etwas umsehen. Ist es mir gestattet, mich auch auf den Mauern umzusehen?"
 
Trutz nickte. Er zeigte zur Mauer hinter ihr.
 
"Sicher doch. Der Anblick ist wirklich atemberaubend. Wir sind hier auf der Falkenkuppe genau zwischen Caldaia und Ragatien. Wenn Ihr also nach Norden schaut, seht ihr Heide. Die geht bis zur Horasfeste. Im Osten wiederum ist der Sumiswald und dieYaquirquellen und gen Süden die Weinberge Dom Eltzeks."
 
Sein Gegenüber wusste einfach nicht, woran sie war. War ihr Misstrauen nach den ersten gewechselten Sätzen mit Trutz Ida wie weggewischt gewesen, so war es jäh wieder aufgeflammt, als auch er sich nach dem Inhalt des Briefes erkundigte. Und so hörte sie jetzt übergenau heraus, dass er die Aussicht nach Westen nicht erwähnte, die natürlich auch von der gegenüberliegenden Mauer viel besser aus sein würde. Nun, sie würde auch diese Aussicht prüfen und den Weg anschauen, den sie hierher genommen hatte. Vermutlich war diese Landschaft wirklich lieblich und eine Freude anzusehen. Nun gut, räumte sie sich selbst gegenüber ein, es war ein Fehler gewesen, den Aelfwyn nicht mitzunehmen, er würde hier sicherlich gut Informationen einholen können. Doch wer hätte das ahnen können? Selina sah in Trutz’ offenes Gesicht und schämte sich fast für ihre wirren Verdächtigungen.
 
„Dann will ich Euch nicht länger aufhalten, Hauptmann. Habt Dank für Eure Zeit." Sie streckte ihm die Hand hin, die der Hauptmann auch kurz ergriff, dann stieg sie die Stufen zur Mauerhoch, die wirklich großartige Aussicht an diesem klaren Spätsommertag genießend und nach jemandem Ausschau haltend, dem sie ein, zwei weitere Fragen stellen konnte.
 
Irgendwann kam Lina hinzu, um sich zu erkundigen, ob denn Selina noch etwas zum Abendmahl wünsche.
 
Selina tauschte gerade mit den Soldaten am Tor mehr oder weniger nichts sagende Bemerkungen über deren Dienst aus, wie lange sie schon da auf der Burg dienten, an welchen Waffen sie ausgebildet würden, ob der Baron sich regelmäßig für ihre Ausbildung interessieren würde…
 
„Ja, gern, Lina", antwortete sie der Magd. „Wo werde ich etwas finden? Kannst du mich hinführen?"
 
Die Magd brachte Selina in einen kleinen Salon im Gästetrakt. Dort war bereits ein Platz eingedeckt. Auf dem Tisch stand frisches Obst, Brot, Käse, Schinken, Braten und Schmalz. Sie hatte sich kaum gesetzt, als ein Mann, der sich als Mundschenk vorstellte, sie befragte, welchen Wein oder Schnaps oder Bier sie wünsche. Und allein die präsentierte "kleine Auswahl" ließ auf einen gut gefüllten Keller schließen. Denn - so der Mundschenk - es sei der Wunsch des Barons, dass es ihr an nichts fehle. Im Übrigen habe dieser ihm aufgetragen auszurichten, dass er sich freue, zur ersten Ingerimmstunde ihre Botschaft zu vernehmen.
 
Der Rest des Abend verging ereignislos, abgesehen von Baronet Trutz, der noch einmal kurz nach dem Rechten sah. Man schien ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen zu wollen.
 
Selina wusste nicht, was sie von diesem ganzen halten sollte. Redete sie sich wirklich nur etwas ein wegen des seltsamen Brauches, das Burgtor zu verriegeln?
 
Sie nahm ihren Säbel aus der Kiste und ging mit ihm auf den Hof, ging ihre Angriffe und Paraden durch, um sich zu sammeln, bis schließlich der Mond unterging.
 
Geweckt wurde Selina am nächsten Morgen von den Sonnenstrahlen, die durch die Spalten in den Fensterläden fielen. Sie war ein wenig spät, stellte sie fest, als sie sah, dass bereits alles hergerichtet war, damit sie sich frisch machen konnte. Zudem schien jemand ihr am Vortag noch staubiges Schuhwerk geputzt zu haben. Als sie heraustrat, fand sie den kleinen Salon ähnlich vor wie am Abend.
 
Schließlich zur vereinbarten Stunde erschien auch der Haushofmeister, um sie zum Baron zu führen. Es ging hinaus aus dem Gästehaus über den Hof, zu dem langen Trakt, der sich an das Wachhaus anschloss. Eine zweiflüglige Tür führte in das Gebäude hinein.
 
Drinnen war ein hoher Saal, der sich über zwei Stockwerke erstreckte. Sie musterte ihn aufmerksam, auch hier dieser Prunk, wenn auch ganz anderer, als im Stadthaus von Galydias Onkel. Eine breite, geschwungene Treppe führte jedenfalls weiter nach oben. Die Einrichtung des Raumes bestand neben Rüstungsständern in den Ecken vor allem aus Gemälden. Einige zeigten sonnendurchflutete Landschaften, andere Bildnisse verschiedener Personen. Neben Trutz erkannte sie ein Paar, beide im vollen Gewand eines Gildenmagiers. Die Frau sah Galydia recht ähnlich - und der Mann unzweifelhaft Elvek Ida, wenn auch Jahrzehnte jünger Beide lächelten.
 
Daneben ein weiteres Paar - der Mann sah Trutz und Elvek ähnlich, die Frau die er eingehakt hatte, kannte Selina nicht. Während der Mann ungezwungen lächelte, hielt sich die Frau etwas zu aufrecht. Es gab ihr einen selbstbewussten, stolzen Ausdruck. Wahrhaftig eine Domna. Es musste mit dem Wappen zusammenhängen, das auf einem ihrer Handschuhe gestickt war.
 
Fast noch bemerkenswerter war ein Bild mit einigen lachenden Männern - nur einer erkennbar über Dreißig. Sie standen im Halbkreis nebeneinander. Den Hintergrund bildete ein Saal, der nur undeutlich zu erkennen war. Sie erkannte Elvek als jungen Magus im Festgewand. Daneben war ein unbekannter, ernst dreinblickender Mann mit rotem Bart und Haupthaar. Rechts davon ein schwarzhaariger Elf - Argos Birkenstamm. Wie wenig er sich verändert hatte! Daneben zwei Männer, Brüder ganz offensichtlich und beide waren Rondrageweihte. er Schwarzhaarige schien im Scherz einen Arm um den älteren, rothaarigen gelegt zu haben. Ihr Schwager Throndwig und ihr Gemahl Petroq. Sie verharrte für einen Moment, völlig überwältigt von der jähen Erinnerung an ihren Mann. Sie brauchte viel zu lange Zeit, um ihr Gleichgewicht wieder zu finden, und blinzelte heftig, um die Augen wieder frei zu bekommen. Dann betrachtete sie die letzten drei Personen. Einen kraushaarigen Mann mit dunklem Haar, einen alten Rondrageweihten - und einen Zwerg mit einer einzigen breiten und auffälligen Strähne in Bart und Haupthaar.
 
Ihr wurde bewusst, dass sie eine Weile dagestanden hatte. Oder war es doch die Stimme des Haushofmeisters, die sie aus ihren Gedanken riss?
 
"Ihr werdet sicher noch Gelegenheit bekommen, alles zu betrachten. Bitte, Seine Hochgeboren wartet!"
 
Er wies auf den Nebenraum - mehr ein gemütlich eingerichteter Salon mit Bücherregalen und schön geschnitzten Möbeln.
 
Selina atmete tief durch und betrat den Raum.
 
Drinnen befand sich bereits ein Mann in einem eleganten Wams. Der Schnitt erinnerte ein wenig an die Kluft eines Jägers. Er war dunkelhaarig, wie Elvek es einst gewesen war, und lächelte, als er sie erblickte.
 
"Domna Castos. Ich hörte, Ihr bringt Nachricht von meiner Tante?"
 
Er bedeutete dem Haushofmeister sich zurückzuziehen, woraufhin dieser die Tür hinter ihr schloss.
 
Sie verbeugte sich vor Jan Ida: „Hochgeboren, es freut mich, Euch bei guter Gesundheit zu sehen." Sie zog den Brief vor und reichte ihn dem Baron. „Sie kann ihre Nachrichten viel besser formulieren, als ich das je könnte. Natürlich lässt sie Euch Ihre besten Grüsse ausrichten."
 
Der Baron von Yasamir lächelte und deutete seinerseits eine leichte Verbeugung an.
 
"Domna Castos. Nicht doch - Ihr kommt als Botin meiner Tante und Ihr seid die Tante meines Vetters. Hier in Almada bedeutet das etwas. Außerdem kommt Ihr mit willkommener Botschaft. Ich hoffe, Ihr bleibt auch lang genug, um meine Antwort zu übermitteln."
 
„Gerne doch, wenn Ihr das wünscht", - und warum sollte sie auch nicht ein paar Tage warten, zurückreisen musste sie eh, warum nicht wieder einen Brief mitnehmen. Als Händler, wie Galydia den Baron geschildert hatte, würde der Baron die Sache nicht auf die lange Bank schieben.
 
Er erbrach wie beiläufig das Siegel und überflog das Schreiben - und sein Lächeln wurde noch ein wenig breiter.
 
"Das sieht Tante Galydia ähnlich...", sagte er halb zu sich selbst. "Kennt Ihr eigentlich den Inhalt des Schreibens?"
 
Er blickte kurz über den Rand des Briefes. Die Höflichkeit schien ihm zu gebieten, sich nicht gänzlich dem Brief sondern auch der Überbringerin zu widmen.
 
„Galydia erzählte mir, dass Sie Euch zu Handelsunternehmungen einladen wolle, dazu, Geld in diese Manufaktur zu stecken... Dinge, die wieder Geldabwerfen, wenn alles geht wie gedacht. Sie scheint große Pläne zuhaben, jetzt…" Selina ließ den Satz in der Schwebe enden und fuhr fort: „Für Händler brechen vielleicht bessere Zeiten an."
 
Jan Ida nickte nachdenklich und faltete den Brief zusammen.
 
„Das ist gut möglich. Obwohl ein Händler mit den richtigen Instinkten… Es ist durchaus ein riskantes aber verlockendes Angebot muss ich sagen Ich werde das prüfen." Er lächelte.„Ich dachte nicht, dass sie so weit vorausplant… Ihr wisst natürlich worüber ich spreche, Domna Castos?"
 
„Domna Castos" zögerte.
 
„Nun, ich weiß es nicht, Hochgeboren. Ich kann Vermutungen anstellen, doch das ist schon alles. Ich habe keinen Anteil an ihren Unternehmungen"
 
Der Baron nickte verstehend.
 
"Nun - gut. Dann helfe ich einmal aus. Anteile an einer Waffenmanufaktur und Geschäfte mit Holz. Klingt für mich nach Schiffen. Angesichts der wohl zu erwartenden Besetzung Albernias durch Kaiserliche Truppen...Wisst Ihr, wonach das klingt? Nach einer Flotte."
 
Selina sah ihn verständnislos an:„Da seht Ihr den Unterschied zwischen einem Händler und mir– für mich klingt Waffen und Holz nach Waffen und Holz. Wer sollte diese Flotte wohl brauchen?"
 
Jan strich sich nachdenklich über das Kinn.
 
"Nun - ich glaube, dass einige Parteien in Frage kämen. Vor allem das Mittelreich - es dürfte ja wohl bald einen neuen Hafen besitzen. Nun gut - ich werde eine Antwort an meine Tante formulieren. Und nun lasst uns über Anderes reden. Wie geht es meinem Vetter Reto? Meine Tante war, was das angeht, ein wenigzögerlich."
 
„Eure Tante weiß eher mehr darüber als ich." Selina runzelte die Stirn und überlegte einen Moment, wie sie Jan Ida das folgende sagen könnte: „Reto hat sich auf Gnade und Ungnade der Kaiserin ausgeliefert, das letzte, was ich erfahren habe, war, dass es ihm‚gut ginge’, so schrieb sein Vater, der zu der Zeit beim ihm war. Seitdem habe ich nichts mehr vom ihm gehört."
 
Der Baron seufzte. Er zögerte mit der Antwort.
 
"Gnade von der Kaiserin. Wie gnädig sie ist, dazu will ich mir kein Urteil anmaßen. Die Almadaner und besonders mein Schwager haben da ihre eigene Meinung. Aus dem Kaiserpalast in Punin sieht die Sache anders aus."
 
„Ich bin mit Euch einer Meinung, was die Gnade aus Gareth angeht. Doch Euer Onkel Throndwig war zuversichtlich, dass Retos Leben nicht in Gefahr sei und redete ihm zu, diesen Weg zu gehen."
 
Ihre Gedanken spazierten derweil ihre eigenen Wege: Händler! Die Kaiserin ablehnen, aber nicht zögern, mit ihr Geschäfte zu machen, es sogar vorauszuplanen. Darauf konnten nur sie kommen.
 
"Nun - er hat sicherlich mehr Einsichten in die Politik des Reiches als ich. Aber - ohne allzu sehr auf Politik eingehen zu wollen - bin ich nicht ganz sicher, ob Euch der Unterschied bewusst ist. Albernia war abtrünnig. Dies hier - Almada - ist genauso Teil des Reiches wie Gareth. Wir sind uns nur ein wenig uneinig, wer der rechtmäßige Herrscher ist. Im Moment kann ich die Frage recht bequem ignorieren. Wir wollen uns aber nicht weiter mit solchen Dingen aufhalten. Es sei denn, Ihr besteht darauf?" Es war eine rhetorische Frage und Selina war nicht darauf erpicht darauf, Haare zu spalten darüber, gegen welche Machtanmaßung ihrer Verwandtschaft die Kaiserin nun härter vorgehen musste und würde. Dass Retos Verbrechen noch einmal ein ganz anderes war, tat dabei nichts zur Sache.
 
"Hattet Ihr bereits hinreichend Zeit Euch im Palas umzusehen?"
 
„Ja, danke, die hatte ich." Sie fügte nach einem Moment hinzu: „Es ist eine sehr schöne Anlage… und gut gelegen, um das Umland überwachen zu können."
 
"Das ist sie", räumte er ein. "Und ruhig ist es geworden, seit mein Vater in Punin ist. Keine 'leichten Verpuffungen' im Turm mehr. Auf der anderen Seite ist er noch immer hier - auf einigen Gemälden. Ich meine, auf einem ist er sogar mit Onkel Throndwig und einigen Freunden. Verzeiht - ich schwatze."
 
Er winkte ab.
 
„Oh, Euer Vater hat noch nicht davon abgelassen, das eine oder andre Experiment zu versuchen. Er versicherte mir augenzwinkernd, dass die Räume der Akademie besser für seinen Wissensdrang eingerichtet seien als seine Studierstube hier." Selina machte eine kurze Pause und lauschte in sich hinein, dann fuhr sie gespannt fort: „Das Gemälde, von dem Ihr spracht, wisst Ihr, zu welcher Gelegenheit es gemalt wurde? Ich hatte kurz Gelegenheit, es dort draußen zu betrachten. Es muss dreißig Jahre her sein, vielleicht auch mehr."
 
Baron Jan nickte.
 
"Dann gebe ich Euch wohl doch mal eine Führung. Wenn Ihr mir folgen wollt..." Er ging an ihr vorbei in den großen Saal. Er blieb vor dem besagten Bild stehen.
 
"Dreißig Jahre trifft es ziemlich genau. Mein Vater hat es malen lassen in Gareth. Er sagte, es wäre gewesen, als er und Onkel Throndwig 1004 von Kaiser Hal zu Baronen erhoben wurden." Jan schien nachdenklich zu werden. "Wenn ich recht überlege: Auf eine gewisse Art und Weise ist es fast selbst Geschichte. Der Hintergrund soll den Thronsaal der Neuen Residenz in Gareth zeigen. Und das sind die ganzen Freunde. Neben meinem Vater ist mein Onkel Kunibald aus Nostria. Ich habe nur vage Erinnerung an ihn. Er starb 1010 in Salza beim Überfall der Thorwaler. Dann natürlich Onkel Argos, die nächsten Beiden muss ich wohl nicht vorstellen." Er schien bemüht, die Stelle schnell zu übergehen. "Die nächste Person ist eigentlich falsch. Das ist, soweit ich weiß, Onkel Throndwigs Großonkel, Hjalbin. Er starb ein Jahr bevor das Gemälde angefertigt wurde in Ysilia. Der ganz rechte ist ein Freund von Throndwig - irgendwas wie Gaspard, ein alter Kamerad aus Maraskantagen. Und der Zwerg - das ist Radumil Graubart - ein weiterer Freund." Er musste kurz lachen. "Sein Neffe Laurin war letztens hier auf der Burg."
 
Er nickte.
 
"Alte Erinnerungen meines Vaters - Erinnerungen an gute Freunde und viele Abenteuer."
 
„Danke für Eure Erläuterungen, Hochgeboren. Manchmal ist es gut, sich an Vergangenes zu erinnern." Sie tat es unwillkürlich. Petroq, wie er aufgekratzt heimkam mit Berichten vom Kaiserhof und Geschichten von den Heldentaten der Freunde... nein, das führte zu nichts Gutem. Sie riss sich los, verbannte die Gedanken in den hinteren Winkel ihres Gedächtnisses. „Manchmal… Wobei…" Sie sah auf das Bild, „Zwerge und Elfen tragen mehr Erinnerungen mit sich herum." Unvermittelt schien sie das Thema zu wechseln: „Ich weiß, es ist Almada… aber wisst Ihr einen Schrein oder Tempel der Rondra hier in der Nähe?"
 
Ihr Gastgeber bemerkte ihr Zögern.
 
"Auf der Burg ist ein kleiner Schrein - in der Stadt leider nicht. Er ist nahe des Wachhauses. Es tut mir leid. Manchmal sind Erinnerungen schmerzhaft. Ich hoffe, Ihr werdet trotz allem gerne an diesen Ort zurückdenken."
 
Selina funkelte Jan Ida zornig an – was ging ihn an, was sie dachte oder fühlte? Aber letztendlich war sie selbst schuld daran, sie hatte das Thema heraufbeschworen, ohne vorbereitet zu sein. Sie wurde alt und empfindlich, wie es aussah. Sie wandte den Blick ab und antwortete: „Danke… ich sehe, ich kannte die Burg doch noch nicht gut genug." Wie, um ihr Benehmen wett zu machen, kam sie noch einmal auf Jans Erzählung zurück: „Ihr sagtet, der Neffe Radumil Graubarts sei hier gewesen?"
 
"Oh ja - Laurin, Sohn des Lumin...", entgegnete Jan. "Lustiger Bursche und gewiefter Händler. Er kam die Tage hierhin, um dem Herrn Yasamirs ein Geschäft vorzuschlagen. Er hatte eine Empfehlung seines Onkels bei sich. Ehrlich gesagt war er etwas überrascht mich und nicht meinen Vater vorzufinden. Dennoch haben wir uns ganz gut unterhalten. Scheint ziemlich rumgekommen zu sein. Chorhop, Thorwal, Tulamidenlande - und was weiß ich noch."
 
„Das scheint mir alles eher selten für einen Zwerg. Aber zugegeben, ich kenne nicht allzuviele von ihnen. Seid Ihr mit ihm handelseinig geworden?"
 
Jan neigte den Kopf.
 
"Nach einigem Verhandeln, ja. Wir haben uns am Ende in der Mitte getroffen. Ich sagte ihm, ich hätte gute Beziehungen in den Eisenwald und in den Amboss - dies hier, wo die Burg steht, sei schließlich die Verlängerung des Amboss. Ich gab ihm einen... angemessenen Preis, obwohl er wohl verkaufen musste, war er doch wieder auf Reisen." Er strich sich nachdenklich über das Kinn. "Warum er jedoch reist, ist mir nicht ganz klar. Vielleicht liebt er einfach das Abenteuer - oder er tut um Ruhm und Ehre zu erwerben, um zu Hause eine holde Zwergenmaid freien zu können. Ich hörte, es gäbe so viel mehr Männer als Frauen unter den Zwergen, dass die Konkurrenz sehr groß ist."
 
„Letzteres wäre ein guter Grund, in der Tat. Noch einmal Dank für Eure Erläuterungen, Hochgeboren."
 
Der Baron nickte.
 
"Wohlan. Aber ich befürchte, ich muss mich entschuldigen. Geschäfte rufen. Wie gesagt: Wenn ihr den Schrein sucht, wendet Euch bitte Richtung Wachhaus. Im übigen würde ich mich freuen, wenn Ihr heute Abend mein Gast wärt. Meine Gemahlin ist sicher neugierig auf Neuigkeiten aus der Ferne."
 
Mit einem gezwungenen Lächeln antwortete Selina: „Danke für die Einladung, Hochgeboren. Ich werde versuchen, Eure Frau nicht zu enttäuschen. Die Neuigkeiten aus Albernia sind nicht alle geeignet, sie bei einem Essen im glücklichen Almada zu erzählen."
 
Selina verbrachte die Zeit bis zum Abend im Gebet versunken am Schrein, was ihr tatsächlich Trost verschafft zu haben schien. Oder zumindest die Kraft, die Erinnerungen an Petroq wieder in die hintersten Winkel ihrer Erinnerung zu verbannen.
 
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Aktuelle Version vom 10. Juni 2013, 23:36 Uhr

Baronie Yasamir, Rondra 1032 BF[Quelltext bearbeiten]

Auf der Straße nach Yasamir[Quelltext bearbeiten]

Autor: Benutzer:Jan Ida

Nur noch wenige Stunden trennten Selina Castos von dem ragathischen Städtchen Yasamir. Ob es einen ebenso sauberen Eindruck machen würde, wie die anderen Landstädte mit ihren weiß gekalkten Wänden? Hier wirkte alles so beschaulich - friedlich und das nicht nur während der Mittagsstunden, wenn die Einheimischen für einige Zeit ihr Tagwerk zu unterbrechen beliebten.

Alles schien soviel leichter, müheloser unter der Sonne Almadas, die dem Land relativem Reichtum und gute Weine brachte. Kurzum: Es hätte keinen größeren Kontrast zu dem vom Krieg verwüsteten Albernia geben können.

Vieles lag schon hinter ihr. In Kuslik war sie mit einem Segler der Albernischen Handelscompagnie angekommen. Galydia hatte ihr geraten, von dort ein Flussschiff bis Punin zu nehmen. Selina hätte freilich auch weiter fahren können. Hoch den Yaquir bis nach Pertakis. Doch ihrer Schwägerin war in letzter Minute eingefallen, dass Selina noch einige weitere Besorgungen erledigen könnte – wenn sie schon einmal in Kuslik vorbeikam. Was blieb ihr übrig als zuzustimmen? Beinahe bereute sie, dass sie Aelfwyns Bitte sie begleiten zu können, ausgeschlagen hatte. Er hätte diese ganzen Besorgungen gut erledigen können. Aber es war wichtiger, dass er hier in Havena blieb, falls in der nächsten Zeit eine Entscheidung über Retos Schicksal gefällt würde.

So stattete Selina zuerst einem betagten Onkel Galydias einen Besuch in seinem Stadthaus ab. Sie sollte dort einen Brief übergeben. Der Herr des Hauses Ruwal Toras - Magier und Kaufmann wie Galydias Vater Gavin Toras - war offensichtlich recht erfreut über die Nachricht seiner Nichte. Doch allzu viele Fragen, was denn nun im Norden wirklich Sache sei, hatte der Brief wohl offen gelassen. "Nun, Wohlgeboren Castos. Seid bedankt!", sagte er mit ausgesuchter Höflichkeit. "Es ist schön, wieder von meiner Nichte zu hören. Im Moment erfährt man allzu wenig aus dem Norden. Ihr hättet nicht zufälligerweise Zeit, heute Abend mein Gast zu sein und mir mehr zu berichten, was so in Albernia vor sich geht?" Den berechtigten Einwurf Selinas, dass sie noch vorhabe, einen Schreiber in der Stadt zu besuchen, um zwei bestellte Bücher für Galydia abzuholen, wiegelte der ältere Herr ab: Natürlich werde es ihm eine Freude sein, das durch einen Diener bewerkstelligen zu lassen. Auch werde er dafür sorgen, dass die Bestellung rechtzeitig auf das Schiff der AHC zum Rücktransport nach Havena gebracht werde. Dieses Angebot auszuschlagen war unmöglich, ohne grob unhöflich zu sein, und so verwünschte Selina ihre Schwägerin für ihre Ideen – nicht zum letzten Male an diesem Abend und auf dieser Reise– und nahm die Einladung des alten Mannes an.

Wenn der erwartet hatte, dass sie sich zum Abend umkleiden würde, zeigte er seine Verwunderung zumindest nicht.

Das Haus begrüßte sie mit weiten, sonnendurchfluteten Räumen und einschüchterndem Prunk, die Halle allein kam ihr im ersten Moment größer vor als das ganze Gutshaus in Völs. Natürlich war sie das nicht, doch trotzdem, Galydias Onkel war ein bedeutender Mann, zumindest ein reicher… vermutlich hätte er allein mit dem Geld in der Schublade seiner Kommode ganz Albernia vor dem Hunger im letzten Winter retten können. Selina trank nur vorsichtig vom dem schweren Wein, den Galydias Onkel vor dem Essen zum Appetit anregen offeriert hatte, um ihre Gedanken zusammenhalten zu können. Sie wusste wenig genug von dem, was in Albernia vorging, das wollte sie nicht auch noch vergessen.

Dafür wusste sie, dass das Abendessen kurzweilig werden würde, zumindest für ihren Gastgeber, als sie sehr viel Besteck an jedem Platz entdeckte, darunter einiges, das sie überhaupt nicht kannte.

Wieso isst man Krebse, na gut, Hummer, mit irgendwelchem Gerät und wie bei Travia stellt man das an? Selinas Bemühungen, ihren Gastgeber bei der Handhabung zu imitieren, waren nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Ohne aufzusehen, hantierte sie mit den ungewohnten Hilfsmitteln und war sichtlich erleichtert, als schließlich irgendetwas Anderes auf den Tisch kam, für das man kein Mechanikus zu sein brauchte.

Dass ihr Gastgeber ihr die Sache weniger peinlich machen wollte und sie immer wieder nach diesem oder jenem fragte, machte die Sache nicht wirklich besser. Wie kann man an solch einem reich gedeckten Tisch vom Hunger erzählen, davon, wie Hamster und Mäuse ausgegraben werden, um sie mit Weidenrinde zu kochen? Wie kann man in einem so glücklichen Haus von Krieg und Tod erzählen? Wie kann man inmitten dieses erdrückenden Wohlwollens vom Hass sprechen, von den ehrlosen Arrangements, die einige mit dem Feind geschlossen hatten? Selina vermutete ohnehin, dass ihr Gastgeber diese Arrangements eher als vernünftig denn ehrlos einstufen würde.

Ihre Antworten waren darum kurz und karg, und wohl weit weniger informativ, als sich der alte Mann versprochen hatte.

Wenn Ruwal enttäuscht war, so verbarg er gut. Er schien den Abend trotz allem zu genießen. Es wäre eine angenehme Abwechslung zu all den üblichen Feierlichkeiten. Außerdem seien Kinder und Enkel zurzeit außer Haus zu anderen Verwandten.

Insgesamt verbrachte Selina so mehr Zeit in Kuslik als sie eigentlich vorgehabt hatte, konnte jedoch am frühen Morgen mit einem Flussschiff nach Pertakis weiterreisen. Außerhalb der Stadt - beim Herrensitz eines wahrhaftigen Comtos mit einem unaussprechlichen langen Namen übergab sie erneut einen Brief. Die Befürchtung zu einem weiteren anstrengenden Abendessen geladen zu werden, bewahrheitete sich jedoch nicht, da der Herr des Hauses - so die Dienerschaft - nicht zugegen war. Rechtzeitig genug ging es so nach Punin - zur letzten Zwischenstation. Der Trubel der Stadt konnte sich in vielem mit Kuslik und Havena messen, doch war hier teilweise auch der tulamidische Einfluss nicht zu übersehen - zumindest wenn man aus Albernia kam. Mit gerunzelter Stirn nahm sie diese Spuren des Südens wahr, sie erinnerte sich mit Unbehagen an die Ereignisse in diesem Gasthof im letzten Winter. Sie schüttelte die Erinnerungen ab und folgte der großen Strasse, die ins Zentrum der Stadt führte. Irgendwo hier würde wohl auch die Magierakademie liegen, wo sie sich nach ihren Töchtern erkundigen wollte. Sie hatten geschrieben, dass sie nach ihren bestandenen Prüfungen als Lehrer für die jüngeren Schüler arbeiten würden, vielleicht waren sie ja immer noch hier. Selina hatte diesen Brief ihrer Zwillinge, sie schrieben meist beide an einem langen Brief, erst Monate später zu Gesicht bekommen, als sie aus dem Wald nach Völs zurückgekehrt war. Zusammen mit der noch älteren Einladung zu den Abschlussprüfungen, die dann natürlich längst Geschichte waren.

Neugierig betrachtete sie die Häuser und musterte die Entgegenkommenden, fragte schließlich doch noch einmal nach dem Weg und betrat dann schließlich mit gemischten Gefühlen das pompöse Gebäude –alles, was mit Magie zu tun hatte, betrachtete sie mit großer Skepsis. Und Lyn und Yana… sie hatte sie vor zehn Jahren das letzte Mal gesehen. Wie sie sich wohl entwickelt hatten? Sie versuchte, die Unruhe, die sich in ihr breit machen wollte, zurückzudrängen.

Ein junger Scholar passierte sie - wohl kaum 16 Sommer zählend mit einem Buch unter dem Arm. Er schien in Gedanken - und bemerkte sie offensichtlich erst spät. Sie wollte ihn ansprechen, als sie aus einer anderen Ecke eine vage bekannte Stimme hörte.

Ein Magier in einer schlichten Robe stand dort. Mitte sechzig, die wachen, hellen Augen hinter Gläsern verborgen. Seine weißen Haare fielen ihm bis auf die Schultern, der Bart bis auf die Brust.

"Hafud -", sagte er vorwurfsvoll zu einem jüngeren Magus. "was habe ich Dir beigebracht? Über Alchimie?"

Der Angesprochene zuckte mit den Schultern.

"Ich weiß nicht, was Ihr meint, Meister Abraxas. Ich habe mich genau an Eure Anweisungen gehalten. Aber das auf der letzten Seite war ein G."

Der Magier schüttelte missbilligend den Kopf.

"Das ist kein G - wann lernst Du endlich meine Schrift zu lesen?"

"Aber, Meister..."

Der Magier hob einen Finger und sein Blick glitt hinüber zu Selina.

"Schaut an, wer sich hierhin verirrt hat!", sagte er halb zu seinem Begleiter gewandt. Er winkte ihr zu.

Sinn für Humor ging Selina fast völlig ab. Zudem hatte sie sich ganz sicher nicht verirrt. So fühlte sie sich beim Ausruf Meister Abraxas’ nicht angesprochen, noch dazu, wo sie der Szene bewusst sowenig Aufmerksamkeit wie nur möglich gewidmet hatte, als sie bemerkte, worauf sie hinauslief. Diese Sache ging sie schlichtweg nichts an.

Als der Bursche, den sie um Rat hatte fragen wollen, erstaunt von seinem Mentor zu ihr blickte, merkte sie endlich, dass der Alte wohl sie meinte und sah den Winkenden ebenso verwundert wie abweisend an: „Ihr wünscht?", ehe ihr langsam dämmerte, dass sie ihn schon einmal gesehen haben musste.

Der Magier umfasste kurz seine Augengläser.

"Das Ihr nach all den Jahren mal vorbeischaut. Ihr seid's doch, Frau Castos?" Er zögerte. "Ihr wisst nicht, wer ich bin."

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das weiß ich in der Tat nicht."

Er lachte - und fuhr mit dem verschmitzten Lächeln eines alten Magisters fort.

"Bin ich doch so alt geworden, dass man mich nicht mehr erkennt. Meister Abraxas - Baron Elvek Ida von Yasamir, wenn Ihr so wollt. Der Lehrer Eurer Töchter. Wenn mich nicht alles täuscht, haben sie im Moment allerdings Unterricht bei einem geschätzten Kollegen."

Wie oft hatte sie den Altbaron von Yasamir gesehen? Zwei-, dreimal vielleicht? Sie erinnerte sich an einen noch nicht grauhaarigen Mann, der ihr des langen und breiten von seinen alchemistischen Studien erzählt hatte, um dann unvermittelt das Thema zu wechseln und noch begeisterter über seinen Erstgeborenen zu sprechen, ein wahres Wunderkind, wenn man dem Vater glauben durfte. Leider hatte er nicht das magische Talent des Vaters geerbt.

„Verzeiht meine Unaufmerksamkeit, Hochgeboren. Ich bin es tatsächlich. Doch ich hatte nicht erwartet, jemand Bekanntem hier zu begegnen." Sie wirkte nicht sonderlich zerknirscht bei diesen Floskeln, wozu auch. Es waren die Dinge, die Leute halt hören wollten.

„Die Mädchen haben davon berichtet, dass Ihr zu ihren Lehrern gehörtet."

Sie zögerte, unsicher, was den erwähnten Unterricht ihrer Töchter anging, schließlich hatten sie doch längst ihre Prüfungen absolviert?!

„Ich vermute, es gibt hier einen Sekretär oder so etwas, der mir mitteilen kann, ob und wann ich meine Töchter hier treffen kann?"

"Nun - wenn mich nicht alles täuscht, sollte es nicht mehr allzu lange dauern. Ihr mögt genauso gut hier warten - oder bei ihnen zu Hause. Ich mag Euch den Weg weisen. Habt Ihr denn bereits eine Unterkunft hier in der Stadt?"

Selina schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe noch keine Unterkunft gesucht. Ich wollte erst einmal sehen, ob meine Töchter überhaupt in Punin sind."

Sie seufzte innerlich auf. Am liebsten wäre sie jetzt allein gewesen, um der seltsamen Unruhe in ihr Frau zu werden, die von Minute zu Minute in ihr wuchs. Doch sie erinnerte sich sehr gut daran, dass Elvek Ida die Mädchen zu den Feiertagen oft zu sich nach Yasamir eingeladen hatte, sodass sie sie in der Familie verbringen konnten. Die Briefe der Mädchen waren voll von schönen Erinnerungen gewesen und bald auch von ihren backfischhaften Schwärmereien für den einige Jahre älteren Jan.

So konnte sie den Mann jetzt schlecht vor den Kopf stoßen.

„Danke für Euer Angebot, doch ich werde lieber hier warten. Wie geht es mit Euren Studien voran? Woran arbeitet Ihr jetzt?" lenkte sie vom Thema ab. Über ihre Töchter würde sie mit ihren Töchtern sprechen.

Der Magister horchte auf.

"Nun -", sagte er und gab gleichzeitig seinem Begleiter einen Wink, dass er ihn im Moment nicht mehr benötigte. "abgesehen von der Verfeinerung einiger Rezepturen meines alten Meisters bei der mir Hafug,... Hafud - seht er bringt mich ganz durcheinander - behilflich ist mit vielen anderen Dingen. Wisst Ihr, mein guter alter Freund und Schwager Throndwig hat mich vor einigen Jahren gebeten, einige Dinge rund um die Rückkehr des Bethaniers und seiner Erben einzuordnen. Kraftlinienmagie, Karmatische Kausalknoten..." Er lächelte. "die Umstände, unter denen eine Alkoholdestille explodieren könnte - warum auch immer. Für sein Kriegstagebuch halt. Außerdem hat er sich nach Feenmagie und Alterung bei Elfen und Zwergen erkundigt. Kurz gesagt: Zuviel zu tun und zuwenig Zeit. Ohne Hilfe geht es nicht. Das ist mit der Grund, warum Eure Lyn und Jana einige zusätzliche Stunden nehmen - theoretische Sphärologie." Ihn schien es wahrlich zu schaudern. "Genau die Art von Dingen, vor denen mich meine Lehrmeister in Elenvina gewarnt haben. Und ich hoffe, Euch geht es auch gut - mit dem was immer Ihr tut?"

Er blickte aufmerksam über den Rand der Brille und konnte durchaus erkennen, dass seine Gesprächspartnerin einen Moment zögerte und ihre Miene reservierter wurde.

„Ich muss gestehen, ich verstehe nichts von diesen Dingen, dieses Gebiet lasse ich Euch gerne. So arbeiten Lyn und Jana jetzt für Euch, wenn ich Euch richtig verstehe?"

"Zeitweise, ja. Ihr müsst verstehen, es ist in diesen Zeiten nicht immer ganz einfach, eine Anstellung als Magier zu finden. Normalerweise fertigen die Beiden magische Analysen oder auch mal Tränke an - soweit ich weiß. Meine Tochter Roana sagte so etwas. Aber ja - im Moment brauche ich einige tüchtige Arbeitskräfte, von denen ich weiß, dass sie ordentlich arbeiten."

Selina nickte und wirkte tatsächlich etwas erstaunt. „Warum sollten sie nicht für Euch arbeiten, wenn Ihr Arbeit habt und sie ein Einkommen brauchen? Ich hoffe, sie arbeitentatsächlichordentlich und enttäuschen Euch nicht… und Throndwig ebenso wenig." Die Worte waren so gesprochen, dass sie wohl mehr als nur Floskel waren. Um keine Pause aufkommen zu lassen, fuhr sie fort: „Eure Tochter ist ebenfalls hier?"

Der Magier nickte.

"Ja - Roana hat auch hier an der Akademie gelernt. Sie ist einige Jahre älter, müsst Ihr wissen - und mit den Beiden befreundet. Das hat Ihnen wohl auch geholfen in Punin - mehr als ein alter Meister vielleicht, der gelegentlich nach ihnen schaut." Er lächelte. "Sie hat eine kleine Apotheke im Nordwesten der Stadt. Dabei profitiert sie wohl vor allem von ihrem Namen als Baroness. Gefällt ihr besser in Punin als in Yasamir. Ganz im Gegensatz zu den Jungs."

Selina wog das ab, überlegte einen Moment finster, ob sie auf die erneute versteckte Kritik antworten sollte, und ließ es dann doch. „Da hat Eure Roana einiges mit Eurer Schwägerin Galydia gemein", meinte sie stattdessen. „Sie fühlt sich in Havena auch wohler als in Lyngwyn."

"Na ja - so wie ich sie kenne, liebt sie das Theater", sagte der Altbaron ungerührt. "Genau wie ihre Schwester." Er schüttelte den Kopf und seufzte dann doch. "Ach - manchmal vermisse ich mein altes Haus bei Honingen! Es war so schön ruhig dort - und das Jasalinkraut erst. Andererseits die Möglichkeiten hier... Ihr liebt die große Stadt nicht, hm?"

Er blickte sie kurz an.

Selina erwiderte den Blick offen: „Es ist mir recht gleich, wo ich lebe. Dorf oder Stadt…es macht keinen großen Unterschied."

Er lächelte.

"Was macht dann einen Unterschied...", begann er, doch unterbrach sich, als er zwei ihnen Beiden wohl bekannte junge Magierinnen entdeckte." Nun - vielleicht Eure Töchter. Ich denke, ich muss mich entschuldigen."

Der Magier nickte kurz und zog sich zurück.

Sie sah sich um und stutzte. Hätte der Altbaron von Yasamir die beiden nicht eindeutig als ihre Töchter bezeichnet, sie hätte sicher nicht in diesen eleganten jungen Frauen ihre vorlauten und stets zu Streichen aufgelegten halbwüchsigen Töchter gesucht. Die eine der Frauen trug ihr langes Haar mit einem Schildpattkamm hochgesteckt , die andre hatte ihr schulterlanges Haar in Locken gelegt, die selbst bei diesem heißen Wetter um ihren Kopf wippten. Beide trugen leichte Kleider mit weiten Ärmeln, die nur bis zu den Ellbogen reichten, und deren schwingender Rock die Knöchel freiließ. Es war wohl eine hier übliche Art, sich zu kleiden, Selina hatte dergleichen Kleider schon mehrmals auf den hiesigen Strassen gesehen. Über dem Arm trugen sie helle Mäntel, in der Hand einen Stab, der ihre Mutter eher an einen Zeremonienstab denn an einen Zauberstab erinnerte.

Sie machte einen Schritt auf die beiden zu, da wurden sie auch auf die Fremde in der Halle der Akademie aufmerksam. Eine grauhaarige Frau mit Pagenschnitt, die sich sehr gerade hielt, sicher eine Fremde hier, die sie forschend ansah. Ihre Kleider, Hosen und Stiefel noch vom Straßenstaub bedeckt, waren nicht von almadanischer Machart. Ebensowenig die Waffe an ihrer Seite.

„Was kann…", begann die Lockenköpfige, riss dann erstaunt die Augen auf, wohl im gleichen Moment, wie es auch ihre Schwester tat. „Mutter!" riefen sie beide wie aus einem Mund aus, dann drückte Selina sie schweigend an ihre Brust und wollte sie schier nicht mehr loslassen. Es brauchte keine große Menschenkenntnis um zu sehen, dass sie den Tränen nahe war.

Erst nach einer ganzen Weile ließ sie die Mädchen - Frauen! - wieder los und versuchte, immer noch nicht im Gleichgewicht, auf die durcheinander wirbelnden Fragen und Bemerkungen der aufgekratzten Zwillinge zu antworten. Man einigte sich, dass sie bei ihren Töchtern wohnen würde, sie hatten das Erdgeschoss im Haus einer Händlerswitwe gemietet, und die beiden überschlugen sich mit Ideen, was sie ihrer Mutter alles zeigen wollten in und um Punin.

Aus den zwei Tagen, die Selina vorgesehen hatte, in Punin zu bleiben, wurden so doch sieben, und ihre Töchter ließen sie nur mit der Zusicherung ziehen, auf dem Heimweg wieder bei ihnen vorbeizuschauen. Ein wenig reifer waren sie geworden, doch immer noch steckten sie voller unvorhersagbarer Ideen. So hatten sie ihrer Mutter auch ein gemietetes Pferd und natürlich ein Packpferd aufgenötigt für die Reise von Punin nach Yasamir.

Die Tage – und einige Nächte - vorher waren mit verschiedenem ausgefüllt gewesen, sie hatten die Tempel der Stadt besucht, waren im Observatoriumsturm des Akademie gewesen, und auch an zwei Tagen in Gestüten vor der Stadt, weil ihre Mutter erwähnt hatte, dass sie sich bald ein neues Pferd kaufen wollte. Die Pferde waren ihr zu eigenwillig gewesen – wunderschöne, leichte, wendige Tiere, pures Vergnügen, auf ihnen über den Boden zu schweben– aber sie bevorzugte aus alter Erziehung willig dienende Pferde, auf die man sich blind verlassen konnte, die nichtmutwillig prüften, wer der Herr in dieser Partnerschaft war.



Chronik:1032
Besuch aus Albernia
Teil 01