Chronik.Ereignis1046 In die Wüste 05
In die Wüste - Audienz beim Grafen
Castillo Ragath, Ragath im Hesinde 1046 BF
Autor: De Verlez, Der Sinnreiche Junker von Aranjuez
Ragath, die Wehrhafte, geprägt durch die hohe Stadtmauer von außen und der militärischen Präsenz von innen. Überragt durch den Castillo Ragath, Sitz Seiner Hochwohlgeboren Brandil von Ehrenstein ä. H., des Grafen von Ragath, das Ziel der beiden Frauen und ihres kleinen Gefolges. Niope und Demeya Lacara von Dubios hatten keine Kosten und Mühen gescheut, um vor der Audienz bei Graf Brandil in der Reichsstadt für Gesprächsstoff zu sorgen. Zusammen mit Tiako von Rosenteich und seiner Frau Alisea, dem bandagierten Diener der Lacara von Dubios, sowie die neun angeworben Söldnerinnen der Tulamidischen Reiter sorgte die prachtvoll anzuschauende Reisegruppe für einiges an Aufsehen bei ihrem Weg durch die Stadt.
Langsam ritt die Delegation den Weg den mächtigen Felsenberg hinauf. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Niope Lacara von Dubios rechnete nicht mit einem großen Erfolg, aber ihre Anwesenheit vor dem Grafen würde für genug Gesprächsstoff in der Baronie sorgen. Mehr als dem Baron von Aranjuez lieb wäre. Nach der Audienz würden sie auch bei den da Vanyas vorstellig werden, um an die frühere Gemeinschaft der Loyalistisch Almadischen Wehr zu erinnern. Aber erst einmal musste dieser Pfad bewältigt werden. Demeya Lacara von Dubios ritt Seite an Seite mit dem bandagierten Diener. Kurz gab ihm Demeya einige Handzeichen, die dieser mit weiteren Zeichen beantwortete. Demeya schmunzelte. Hatte sie ihr Gefühl doch nicht betrogen. Es war ihr klar, dass der Baron sie unter Beobachtung hielt. Sie machten es schließlich nicht anders. Zu gegebener Zeit wird der kleine verfolgende Schatten verschwinden, aber noch wäre es zu auffällig und sie verhielten sich ja auch unauffällig. Noch.
Während die beiden Damen und ein Großteil der Gesellschaft edle tulamidische Kleidung trug, bevorzugte Tiako von Rosenteich Kleidung im almadanischen Stil. Der Moha und zukünftige Erbe der Baronie Rosenteich, handelte hier im Auftrag seines Vaters Gona. Seiner alten Verbündeten zur Seite zu stehen, sah dieser als seine Pflicht an. Da sein Sohn sich besser angepasst hatte, sollte dieser in Begleitung seiner Frau die Baronie Rosenteich vertreten. Alisea von Lindholz wartete schon lange auf eine solche Gelegenheit. Hatte sie ihre Jugend an Adelshöfen im Mittelreich und im Lieblichen Feld genossen, war das Leben in der Baronie Rosenteich langweilig und eintönig. Sie hatte vor, diese Audienz am Grafenhof für sich und ihre Zwecke zu nutzen, um sich einen Namen zu machen. Sie schaute noch einmal nach dem richtigen Sitz ihrer Kleidung und lächelte ihrem Gatten aufmunternd zu.
Oben angekommen, fand die Gruppe die gewaltigen Torflügel aus andergaster Steineiche, verstärkt mit eisernen Streben aus der Waldwacht, geöffnet vor, wenngleich erwartungsgemäß nicht unbewacht. Der Weibel prüfte das gereichte Schreiben, derweil die Wachen die Hellebarden gekreuzt hatten. Wie versprochen hatte Hernán von Aranjuez ihnen ein Empfehlungsschreiben zukommen lassen, ausgestellt und unterzeichnet von Rondrigo vom Eisenwalde, dem Castellan Seiner Hochwohlgeboren. Ein skeptischer Blick wanderte über die tulamidischen Söldnerinnen im Hintergrund, doch schien der Unteroffizier auch beim zweiten Lesen nichts zu finden, was er hätte beanstanden können. So reichte er das Schreiben zurück und wies in Richtung des Palas auf der gegenüberliegenden Seite des geräumigen Burghofes: „Eine Wache wird Euch zu Dom Rondrigo bringen.“ Er gab das Schreiben zurück und rief dann lauter über die Schulter in Richtung der Wachtstube zu rufen: „Marbodan?“
Augenblicke später erschien von dort ein Gardist in den Farben der Grafschaft, salutierte vor seinem Weibel und neigte das Haupt vor den Gästen. Der Kies des Burghofes knirschte unter ihren Sohlen, als sie in Richtung des Palas schritten. Erwartungsgemäß ging es auf einer so großen Anlage durchaus geschäftig zu, Bedienstete gingen zügigen Schrittes zwischen den Gebäuden umher und unterhalb der Treppe des Palas übten sich einige gräfliche Caballeros und Escuderos im Waffenhandwerk – die Ritter mit, wie der stumpfe Klang verriet, Übungsschwertern, die Knappen mit hölzernen Klingen. Und zwar unter dem gestrengen Auge des alten Waldwachters, wie sie beim Näherkommen feststellten. Bei allen war der warme Atem in der kalten Winterluft zu sehen. Der gerüstete Graubart stand auf dem Treppenpodest im ersten Obergeschoss, welches man über eine ausladende, mehrläufige Freitreppe erreichte und überwachte von dort mit auf dem Rücken verschränkten Händen die Übungen. Kurz warf der alte Castellan ihnen beim Näherkommen einen Blick zu, dann wandte er sich wieder seinen Schützlingen zu.
Erst als sie den Fuß der Treppe erreicht hatten, schritt er gemessen zum Treppenabsatz und musterte die zu ihm herauf Steigenden aus seinen eisgrauen Augen. Über 70 Götterläufe hatten ihre Spuren in seinem Antlitz hinterlassen, nicht jedoch in der kerzengeraden Haltung seines Körpers. Mehr als das andeutungsweise Neigen des Hauptes war von Rondrigo vom Eisenwalde nicht zu erwarten gewesen, denn so einflussreich die Graue Eminenz am Ragather Grafenhofe sein mochte: ein Höfling war noch nie an ihm verloren gegangen, wie sich Domna Niope womöglich erinnerte. Dieser Einfluss hatte freilich zuletzt gelitten, seit der Castellan nicht nur den Traum der tausend Seelen träumte und sich daher sehr viel deutlicher hinter die seiner Überzeugung nach borongewollte Herrschaft Selindian Hals gestellt hatte, als sein Graf dies getan hatte – sondern auch, weil ihm mit der Hochzeit der Comtessa Rahjada mit Hernán von Aranjuez die eine oder andere Kompetenz verlustig gegangen war. Hatte er zuvor als rechte Hand Graf Brandils die Aufgaben und Vorrechte mehrerer Ämter in seiner Person vereinigt, war es Rafik von Aranjuez gewesen, welcher den Ehekontrakt Comtessa Concabellas mit den Nordmarken ausgehandelt und diverse Absprachen zwischen Graf und Fürst bzw. zwischen Dom Brandil und Stordan von Culming vorbereitet hatte. Und schlimmer noch, heute führte in der Regel Hernán von Aranjuez in gräflichem Namen Heerbann und Kriegszüge und hatte mitunter dafür gesorgt, dass Dom Rondrigos Getreue und Vertraute ohne nennenswerte Absprachen und bevorzugt in seiner Abwesenheit in den Ruhestand verabschiedet worden waren. So blieb ihm neben seinem ganzen Stolz, der Ausbildung der gräflichen Caballeros, vor allem das Erbsenzählen, wie er seine verbliebenen Pflichten mitunter abschätzig nannte.
Trotz der kühlen Begrüßung – der greise Waldwachter hatte sich in seiner Rüstung so am Treppenabsatz aufgebaut, dass es unhöflich gewesen wäre sich an ihm vorbeizudrücken, sodass die Neuankömmlinge zwangsläufig eine oder mehrere Stufen unter ihm innehalten und zu ihm heraufsehen mussten – mochte der Castellan somit ein durchaus willkommener Anblick sein. Denn am Grafenhofe würde sich kaum ein größerer Rivale des Aranjuezers finden lassen. Ein Fehler Dom Hernáns, dieses Zusammentreffen vor der Audienz nicht irgendwie verhindert zu haben? Oder hatte er es versucht, aber Rondrigo vom Eisenwalde hatte sich nicht beiseiteschieben lassen, ganz so, wie er nun ehern den Zugang zum Palas einnahm? Wie stets kam er gleich zur Sache: "Im Namen Graf Brandil von Ehrensteins begrüße ich Euch auf Castillo Ragath. Für Euren Aufenthalt ist eine Zimmerflucht vorbereitet. Seine Hochwohlgeboren empfängt morgen zur Audienz." Sein Adlerblick wanderte über ihre Bedeckung. "Wenn Ihr es wünscht, können Eure Kriegerinnen sich in der Küche stärken." Erwartungsgemäß würden ihre Bewaffneten keinen Zutritt zum Palas erhalten, denn der Rauchentwicklung über mehreren Schornsteinen nach zu urteilen, befand sich die Burgküche in einem anderen Gebäude. Wie auch die Quartiere des Gesindes.
Niope Lacara von Dubios verbeugte sich. "Seid gegrüßt Dom Rondrigo vom Eisenwalde, gräflicher Castellan in Diensten des ehrenwerten Grafen Brandil und habt Dank für Eure Gastfreundschaft. Auch in Namen meiner Begleiter. Mit Freude sehen wir Euch, nach so langer Zeit, bei bester Gesundheit." Sie richtete sich wieder auf. "Ich hoffe, dies trifft auch auf Eure Tochter zu." Sie schaute auf die Caballeros, welche vor den Stufen ihre Übungen abhielten. "Es wäre uns eine Ehre, wenn Ihr uns am heutigen Abend etwas von Eurer kostbaren Zeit schenken würdet. Gerne würde ich Euch zu einem Umtrunk einladen, der alten Zeiten wegen und um Neuigkeiten zu erfahren. Es wird sich einiges geändert haben in den letzten Götterläufen. Viele neue Gesichter ergeben neue Machtgefüge."